Die Namen der Schmetterlinge
Schmetterlinge hält man für Sonnenkinder. Auf die meisten Tagfalter trifft so eine poetische Charakterisierung zu. Ihr Flug beginnt am Vormittag, wenn es warm genug geworden ist. Oft können wir sie dabei beobachten, wie sie sich aufwärmen mit ausgebreiteten Flügeln der Sonne zugewandt. Schon am Spätnachmittag suchen sie ihre Ruheplätze oder die Verstecke für die Nacht wieder auf. Sie gehen schlafen, und dies in aller Regel früher als wir. Manche Falter sammeln sich dazu an bestimmten, nur ihnen bekannten, wohl weil mit ihren arteigenen Duftstoffen markierten Stellen zu Schlafgemeinschaften. Zu mehreren hängen sie dann an den Pflanzen, die sie als Übernachtungsplatz gewählt haben. Manche Bläulinge verhalten sich so, insbesondere aber die warnfarbenen rot-schwarzen Blutströpfchen. In den Tropen gibt es weit mehr Schmetterlingsarten, die Schlafgemeinschaften bilden.
Doch die »Tagfalter«, die echten, die diese Bezeichnung auch wissenschaftlich zugeteilt bekommen haben, und die vielen anderen, die zum Flug am Tag übergegangen sind, eigentlich aber zu Gruppen der »Nachtfalter« gehören, sie bilden nur einen geringen Teil der Gesamtheit der Schmetterlinge. In Mitteleuropa bringen es die Tagflieger lediglich auf etwa zehn Prozent aller hier lebenden Schmetterlingsarten. Also müssten wir eigentlich im Umkehrschluss die ganze Ordnung der Schmetterlinge für »Kinder der Nacht« halten. Diese Einstufung rechtfertigt nicht allein die zehnfache Überlegenheit der Nachtfalter in der Zahl der Arten und die weit größere in den Mengen, sondern auch die Vielfalt der Familien. Während am Tag außer den echten Tagfaltern (Rhopalocera = Keulenfühler fachlich genannt) die Dickköpfe fliegen, deren recht bezeichnender wissenschaftlicher Familienname Hesperiidae lautet, gibt es nachts die Fülle der Arten der Schwärmer (Sphingidae), Bären (Arctiidae), mehrerer Familien der nicht näher verwandten Gruppe der »Spinner«, die Eulenfalter (Noctuidae) und die Spanner (Geometridae) sowie eine Vielzahl Familien der Kleinschmetterlinge. Ihr Größenspektrum reicht von winzig, so dass sie wie fliegende Stäubchen aussehen, bis zu den großen Schwärmern mit der Körpermasse und den Flugfähigkeiten kleiner Vögel. Dass sie alle grob unter »Motten« zusammengefasst werden und dies im Englischen geradezu offiziell geschieht (»moths« zum Unterschied zu »butterflies«), wertet sie leider sprachlich stark ab. Echte Motten, wie die Kleidermotte oder die Dörrobstmotte, sind klein, als Schmetterlinge unauffällig, und ihre Raupen verursachen ärgerliche Fraßlöcher in nicht mottensicher gemachten Geweben oder in gelagerten Nahrungsmitteln. Alle nachts aktiven Schmetterlinge Motten zu nennen, liegt ungefähr so weit daneben, wie alle Säugetiere, auch Hirsch und Bär, Wolf und Biber mit eingeschlossen, als Maus oder Ratte zu bezeichnen.
Messingeule Diachrysia stenochrysis früher bekannt unter Phytometra chrysitis, ein recht typischer Vertreter der Eulenfalter (Noctuidae)
Die Familienbezeichnungen passen besser, gleichwohl auch nur mit Einschränkungen. So haben die Eulen nichts gemein mit den Eulen aus der Vogelwelt, und nicht alle Spinner spinnen, viele nicht zu den Spinnern gehörende Raupen aber durchaus, und dies sehr stark. Aber lassen wir es gut sein. Die Namen beruhen auf alten Eindrücken, Meinungen und Vorurteilen oder magischen Deutungen, wie das deutsche Wort Schmetterling, das vom mitteldt. Wort Schmetten (»Rahm«) abgeleitet ist, und das englische butterfly, das wohl auf den Glauben zurück geht, Schmetterlinge würden Gefallen an Butter finden. Wir müssen die sprachgeschichtlich gewachsenen Bezeichnungen hinnehmen oder darauf hinarbeiten, dass sie langsam durch eine treffendere Version ersetzt werden.
Manche wissenschaftliche Namen sind nicht besser, nicht wenige sogar ziemliche Fehlgriffe. Sie drücken Eitelkeiten von Spezialisten aus, wie man sie in der Wissenschaft nicht erwarten würde. Schlimm und lächerlich ist es, wenn die Benennung nach Personen erfolgte, denen damit geschmeichelt werden sollte. Mögen diese auch noch so verdienstvoll dem Fortschritt der Wissenschaft gedient haben, ihre Namen gehören nicht auf Tiere oder Pflanzen übertragen. Auch nicht, meine ich, wenn es um solche Berühmtheiten wie Charles Darwin geht. Wenn man eine Art tatsächlich nicht über ein allgemein nachvollziehbares Kennzeichen charakterisieren oder keine gemeinsame Eigenschaft für die Bezeichnung der Gattung herhalten kann, dann ist ein Ortsbezug immer noch besser, als einen Schmetterling nach einer Person zu benennen. Alles andere sind Überheblichkeiten, Idiosynkrasien oder Andienungen. Dass sie existieren und nicht ausgelöscht werden können, liegt an einem an sich guten, in der Handhabung längst aber unnötig extrem gewordenen System, das Eindeutigkeit der wissenschaftlichen Namen und ihre Dauerhaftigkeit garantieren soll, genannt Prioritätsprinzip.
Der wissenschaftliche Name soll mit der Erstbeschreibung der Art für alle Zeiten und alle Sprachen festgelegt werden. Und zwar bezogen auf das Ausgangssystem der Naturbeschreibung, das der Schwede Carl von Linné (lateinisiert Linnaeus) im frühen 18. Jahrhundert entwickelt und in seinem großen Werk »Systema naturae« ab 1735 für die Pflanzen, Tiere und sogar für die Mineralien veröffentlicht hat. Besondere Bedeutung für die Benennung der Tierwelt hat Band 10 von 1758. Er gilt als Grundlage der wissenschaftlichen Benennung aller Tiere. Jede Art wird seither mit einem Doppelnamen versehen, der mit der (mit großem Anfangsbuchstaben geschriebenen) Bezeichnung für die Gattung beginnt und mit dem Artnamen (mit kleinem Anfangsbuchstaben) präzisiert wird. Um Verwechslungen zu vermeiden, müsste zudem jeder Name auch den Erstbeschreiber mit Jahreszahl enthalten.
Unser Großer Kohlweißling heißt daher vollständig Pieris brassicae Linnaeus, 1758. Pieris steht für die Gattung dieser Weißlinge, brassicae ist der Artname, abgeleitet von lateinisch »brassica« = Kohl. Linné hatte ihn schon in seinem oben datierten Werk über die Tierwelt aufgeführt, so dass der wissenschaftliche Name des Kohlweißlings mit Linnaeus, 1758, oder, abgekürzt, mit L., 1758 ergänzt wird. Und nun für alle Zeiten eindeutig sein sollte. Das alles wäre wunderbar, hätten die Botaniker und Zoologen damals und in der Folgezeit bereits über das Internet verfügt und einen entsprechend regen Austausch gepflegt. Dann hätten sich Unmengen von Doppel- und Mehrfach(neu)beschreibungen verhindern lassen, die tatsächlich gemacht wurden. Mit der Folge, dass viele, eigentlich viel zu viele Arten mehrere wissenschaftliche Namen bekommen haben. Unter all diesen den allerersten herauszufinden und möglichst das Exemplar dazu, das der Beschreibung zugrunde lag, reizt so manche Spezialisten ähnlich wie die Aufdeckung historischer Kriminalfälle. Häufige Änderungen in den »offiziell gültigen« Namen waren und sind die Folge. Verstärkt wird dies durch die nicht minder wechselnden Ansichten der Spezialisten, ob eine bestimmte Art nun zu dieser oder jener oder zu einer neu zu erstellenden Gattung »gehört«.
Das führt zu Umbenennungen, die zwar stets nach dem jeweils besten Wissen vorgenommen werden, aber leider nicht aufgrund allgemein anerkannter, definitiver Methoden. So wechselte beispielsweise »mein Wasserschmetterling«, der Seerosenzünsler, die Gattung von Nymphula, die 1970 noch »gültig« war und daher in der Veröffentlichung meiner Doktorarbeit auch so erschien, seither zu Nausinoe und Elophila, obwohl Linné 1758 den Seerosenzünsler bereits gekannt und benannt hatte. Der sehr häufige und unverkennbare Nesselzünsler, dessen Raupen die Brennnesselblätter tütenförmig einrollen, ist unter Phalaena ruralis, Botys ruralis, Syllepta ruralis, Pleuroptya ruralis, Pleuroptya verticalis und derzeit »gültig« als Patania ruralis zu finden – oder auch nicht, bei der Verwirrung, die solche Wechsel ganz im Gegensatz zum ursprünglichen Prinzip der Stabilität stiften. Sogar so allbekannte Arten wie das Tagpfauenauge waren und sind betroffen. Es hat ganz unterschiedliche Gattungsbezeichnungen erhalten.
An dieser Misere wird auch die moderne Molekulargenetik nichts ändern. Eher verschlimmern die mit dieser Methode gewonnenen Befunde das Chaos, da sie auf einer eher willkürlichen Festlegung der »genetischen Abstände« zur Rechtfertigung der Artabgrenzung beruhen. Die Hoffnung, dass mit genetischen Stammbäumen ein einheitliches und klares System zutage gefördert werden könnte, scheitert schlicht am Lebendigen selbst. Alles ist im Fluss, im Prozess der Artbildung. Bereits Darwin hat in seinem Hauptwerk über die Entstehung der Arten von 1859, zumal in der sechsten, der letzten von ihm selbst überarbeiteten Auflage von 1872, die Vorstellung von starren, klar abgrenzbaren Arten grundsätzlich in Frage und in Abrede gestellt. Die Artdifferenzierung ist ein Prozess, der mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten läuft und keine scharfen Grenzen zwischen den Arten setzt, weder räumlich-geografisch noch zeitlich-historisch. Damit ist es reine Ansichtssache, ob beispielsweise die Schmetterlinge einer Insel oder irgendeiner etwas abgelegeneren Region auf den Kontinenten als eigenständige Art oder »nur« als Unterart, als Subspezies, eingestuft und benannt werden, auch wenn sie sich genetisch oder äußerlich erkennbar ein wenig von einer offensichtlich sehr ähnlichen und nachweisbar genetisch eng verwandten Form unterscheiden.
Gegenwärtig beherrschen die Spalter das Feld, die »Splitter«, wie schon vor etwa hundert Jahren, so dass viele Arten aufgespaltet werden in zwei oder mehrere. Die Artenzahlen wachsen daher, weil »neue Arten« als solche erkannt werden. Sie haben sich nicht neu gebildet, sondern sind lediglich über eine neue Methode entdeckt worden. Sehr viele früher als Unterarten oder geografische Rassen geführte Formen gelangen jetzt so in den Rang der Arten. Der Artbegriff verliert damit an Griffigkeit, tendenziell auch an Überzeugungskraft, und das System wird noch starrer, als es vorher schon war. Darwin würde das gewiss nicht gefallen.
Aus guten Gründen setzte Anfang des 20. Jahrhunderts nach einer vorausgegangenen Phase extremer Aufspaltung der Arten die Gegenbewegung ein, die wieder zusammenfasste und versuchte, mit lokalen und regionalen Unterarten die Natur der Arten besser abzubilden. Zusammenwerfer, »Lumper«, genannt, betonten die geografische Differenzierung. Dass auch darin ein ziemliches Ausmaß an Willkür steckt(e), muss zwar betont und berücksichtigt werden, die Methode verursachte aber weniger Konfusion als die allzu starke Aufspaltung. Die gegenwärtig überwiegende Mehrheit der Systematiker und Taxonomen, die für die Aufteilung der Arten sind, argumentieren, dass dadurch mehr bedrohte Arten entstünden, die geschützt werden müssen, weil nun eine frühere Lokalform schon als Art zählt. Solche Rechtfertigungen mag man für richtig und zulässig halten oder als zu persönlich und von anderen Zielsetzungen eingefärbt zurückweisen. An den Gegebenheiten in der Natur ändern sie nichts.
Die Arten lassen sich nicht in Schubladen stecken, so wünschenswert dies auch wäre. Ihr Grund- und Erfolgsprinzip ist die Variation, die Veränderlichkeit.