Die Großstadt – Ende der Natur oder Rettung der Artenvielfalt?

 

Klischeevorstellungen bestimmen das verbreitete Vorurteil, dass das Land »Natur« und daher »gut« sei, die Stadt aber Menschenwerk und als solches »schlecht«. Der einflussreiche Soziologe Alexander Mitscherlich veröffentlichte 1965 ein Buch mit dem Titel »Unwirtlichkeit der Städte«. Zwar prangerte er darin die Lebensbedingungen des Proletariats an, aber die aufkommende Natur- und Umweltschutzbewegung der 1970er Jahre nahm den Begriff der Unwirtlichkeit auf, um sich gegen die Städte und ihr wucherndes Wachsen zu wenden. Die Großstadt war für sie das Ende der Natur. Die Städte fraßen das gute Land. Das war für viele nicht zu übersehen.

Seither prägt diese Einstellung die Haltung von Naturschutzverbänden. Sie rekapitulieren damit die Deutsche Romantik des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, dem Anfangstext des Wanderliedes »Aus grauer Städte Mauern, zieh’n wir durch Wald und Feld, wer bleibt, der mag versauern …« gemäß. Das Land, damals idealisiert als Gegenentwurf zur Stadt, instrumentalisierte die Umweltbewegung mit der Wahl ihrer Leitfarbe leuchtend Grün, »Landgrün«; nicht Dunkelgrün wie das des Waldes, der Jäger und Förster. Die Partei Die Grünen setzte das Umweltgrün symbolhaft ein für ihre politischen Positionen. Seit Jahren kämpft die Partei zusammen mit Naturschutzverbänden gegen das Wachsen der Städte. Sie wollen deren »Flächenfraß« drastisch vermindern. Um den unzweifelhaft gegebenen Bedarf zu decken, favorisieren sie die sogenannte Nachverdichtung. Freiflächen in den Städten sollen zugebaut werden, um zu verhindern, dass offenes Umland, dass Natur verloren geht. Diese grüne Ideologie baut unverändert auf Mitscherlichs Unwirtlichkeit der Städte: Das gute Land darf nicht weiter von den bösen Städten verschlungen werden.

Vorkommen und Häufigkeiten von frei lebenden Tieren und Wildpflanzen drücken jedoch ganz anderes aus. Die Städte sind artenreich, und zwar umso mehr, je größer sie sind. In Millionenstädten, wie Berlin und Hamburg oder München, gibt es ein so reichhaltiges Tier- und Pflanzenleben, dass sie sich in dieser Hinsicht glatt für Naturschutzgebiete qualifizieren würden oder solche an Artenzahl übertreffen. Sie sind auch eminent wichtige Rückzugsgebiete für bedrohte Arten geworden. In unserem Zusammenhang geht dies aus dem Befund hervor, dass es gegenwärtig nicht nur mehr Schmetterlinge in der Großstadt gibt als auf dem Land, sondern auch in größerer Artenvielfalt.

Die stark verallgemeinernde Formulierung »auf dem Land« soll hier zunächst undifferenziert stehen bleiben, weil gleich viel präziser ausgeführt wird, was sie bedeuten soll. Die Vögel in den Städten zwitschern und singen das Lob der Stadt, und nachts, für menschliche Ohren unhörbar, tun es die Fledermäuse mit ihrer Ultraschalljagd nach Insekten kund. Für Kenner ist auch die Reichhaltigkeit der Städte an wild wachsenden Blütenpflanzen längst eine Selbstverständlichkeit. Das daraufhin bereits vor Jahrzehnten genauer untersuchte Stadtgebiet von Nürnberg beinhaltete doppelt so viele Pflanzenarten wie gleich große Flächen des Umlandes. Die in Gärten angepflanzten Arten sind in diesem Vergleich nicht mitberücksichtigt. Sie würden den innerstädtischen Artenreichtum der Flora weiter mindestens verdoppeln.

Dass die botanische Vielfalt im urbanen Lebensraum nicht den pflanzensoziologischen Wunschvorstellungen zur natürlichen Zusammensetzung der Flora entspricht, ist klar. Es handelt sich ja auch nicht um Lebensräume, die von Natur aus, ohne Zutun der Menschen zustande kommen. Die Stadtnatur ist neu. Sie ist dennoch eine Eigenreaktion der Pflanzen und Tiere, denn alles, was von sich aus wächst und umherfliegt, -läuft oder -krabbelt, war von selbst gekommen. So unglaublich es auch klingen mag, so sehr trifft die Feststellung zu, dass Fauna und Flora in den Städten natürlicher sind als jene der Wirtschaftwälder, der Forste. Weil niemand die Wildpflanzen und die Stadttiere ansiedelt oder herbeiruft. Die neuen Ensembles drücken vielmehr aus, wie flexibel »die Natur« auf geänderte Verhältnisse reagiert. Dass ihr Anderssein den an der potentiell natürlichen Vegetation orientierten Botanikern missfällt, hängt einfach mit deren Erwartung zusammen, wie Natur sein soll und was sie nicht sein darf. Die Fraktion der Zoologen, die sich mit der Fauna eines Gebietes oder Großbiotops befasst, kann sich flexibler zeigen, weil sich Tiere noch weniger vorschreiben lassen, wo sie leben sollen. Dennoch gibt es auch unter ihnen starke Gruppierungen, die das Neue ablehnen und die Wiederausrottung fremder Arten fordern. Belassen wir es bei diesen pauschalen Vorbemerkungen zum Stadt-Land-Vergleich. Sie reichen, um die Frage zu präzisieren, was die ökologischen Unterschiede ausmacht.

 

 

Der Vorzug der Strukturiertheit

 

An erster Stelle ist die Strukturiertheit zu nennen. Luftbilder, besser noch Satellitenaufnahmen, wie solche von Google Earth, zeigen auf einen Blick, was damit gemeint ist. Gebäude, Verkehrswege, Freiflächen, Parks und Waldstücke und oft auch Gewässer gliedern das Gebiet einer Stadt. Mit zunehmender Größe nimmt die Strukturiertheit der Stadt stark zu. Direkt ausmessen lässt sie sich in der Länge der Grenzlinien zwischen den Strukturteilen. In erster Näherung reicht schon das Verkehrsnetz, kombiniert mit der Zahl der Einzelgebäude. In nächster Verfeinerung kommen die Freiflächen dazu. Ihr Spektrum reicht von unbebautem und nicht anderweitig genutztem Gelände über kleinere Anlagen, Gärten, Parks und Baumgruppen bis zu Gehölzen, Wäldern und Gewässern. Die ökologische Wissenschaft kann daraus die Strukturdiversität ermitteln und in Zahlen fassen. Es gehört zu den zentralen Erkenntnissen der wissenschaftlichen Ökologie, dass die Vielfalt der Arten maßgeblich von der Strukturdiversität abhängt. Einheitliche, wenig strukturierte Biotope sind artenarm; vielfältige, stark strukturierte artenreich. Nach diesem Prinzip wird folgerichtig gefordert, forstliche Monokulturen, wie Fichten-Reinbestände gleichen Alters, durch artenreichere, stärker strukturierte Wälder zu ersetzen.

Ganz anders liegen die Verhältnisse auf dem Land. Überall dort, wo es nicht von der geologischen Natur her kleinräumig gegliedert ist durch Berge, Felsen, Schluchten und Gewässer, erweist es sich bei genauerer Betrachtung als höchst einförmig, ja monoton. Das war früher anders. Erst seit den Flurbereinigungen verringerte sich die strukturelle Gliederung. Es wurden immer größere, landwirtschaftlich einheitliche Nutzflächen geschaffen. Mais- oder Rapsfelder können bis zum Horizont reichen. Aber auch Rübenäcker und Weizenfelder sind kaum weniger einförmig. Auf gleiche Flächengrößen bezogen, übertreffen Ortschaften, Kleinstädte und vor allem die Großstädte die landwirtschaftlichen Nutzflächen bei weitem an Strukturdiversität. Durchaus ähnlich verhält es sich mit den großflächigen Waldgebieten. Meist sind sie keine Wälder im natürlichen Sinne, sondern forstliche Monokulturen. Die Strukturiertheit ist aber, um es nochmals zu betonen, die Grundvoraussetzung für Lebensvielfalt. Wo über Quadratkilometer nur Mais oder Raps wachsen oder Fichtenbestände den Forst bilden, kann keine hohe Artenvielfalt herrschen. Nur ganz wenige Spezialisten kommen mit so monotonen Bedingungen zurecht. Das sind dann fast immer Schädlinge, weil sie sich biologisch auf die in gleichförmigen Massen vorhandenen Pflanzenarten eingestellt haben. Ihre Nahrungsgrundlage ist so überreich vorhanden, dass sie sich in Massen vermehren können.

 

 

Maisfeld Anfang Juni – noch bedecken die Maispflanzen nicht den Boden. Das macht ihn anfällig für Starkregen (Abschwemmungen). Doch auch später, voll entwickelt, bleibt Pflanzen und Insekten keine Überlebensmöglichkeit

 

 

Maisfeldrand ohne Blüten – Ende der Biodiversität. Selbst Parkplätze in der Stadt bieten mehr für Tiere und Pflanzen

 

 

Monokulturen erzeugen Schädlinge

 

Daraus ergibt sich der zweite Punkt: Die Gleichförmigkeit des »Angebots« begünstigt die Massenvermehrung der Nutzer. Wirtschaftliche Schäden sind durch die Monokulturen geradezu vorprogrammiert. In Schach halten lassen sie sich nur unzureichend, höchstens kurzzeitig durch entsprechende, meist hoch giftige Abwehrmittel. In der reichhaltigen Strukturiertheit der Städte tritt ein vergleichbarer Schadensfall so gut wie nie auf. Selbst wenn einzelne Arten von Nutzpflanzen oder der Bäume im Stadtpark von Schädlingen befallen werden, kann dagegen ungleich leichter vorgegangen werden als auf großen Flächen in Forst und Flur. Häufig ist ein Eingreifen gar nicht erforderlich und eher kontraproduktiv. Das hat der »Fall« der Traubenkirschen-Gespinstmotten gezeigt. Auf Gift als Mittel zur Kontrolle unerwünschter Massenvermehrungen und zur Abwehr von Schäden kann verzichtet werden.

Enorm vergrößert wird das Risiko, dass Schädlinge die Nutzpflanzen der Fluren befallen und vernichten, durch die genetische Gleichförmigkeit der verwendeten Sorten. Die Schädlingsbekämpfung selektiert unter diesen Bedingungen viel stärker und weit schneller auf giftresistente Varianten als in Beständen mit hoher genetischer Vielfalt. Darauf ist zurückzukommen. Jedenfalls gilt, was in der Ökonomie für eine Art Grundgesetz des Marktes gehalten wird, nämlich dass Angebot und Nachfrage in einem engen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Massenangebote laden ein zum Massenkonsum. Ökonomie und Ökologie haben so manche Gemeinsamkeiten.

 

 

Städte als Wärmeinseln

 

Die Städte sind wärmer als ihr Umland, und dies umso mehr, je größer sie sind. Der Aufheizungseffekt der Städte wirkt am stärksten im Winter, wenn die Heizungen auf Hochtouren laufen. Aber auch im Sommer ist er vorhanden, zumal nachts, weil die Gebäude Wärme abgeben, die sie tagsüber aufgenommen und gespeichert haben. Am Tag kann die Hitze in der Stadt schier unerträglich werden.

Millionenstädte sind je nach Größe und Dichte der Bebauung zwei bis drei Grad wärmer als die umliegende offene Landschaft. Liegen sie in einem Kessel, wird die Aufwärmung noch stärker. Die Wärme kommt den Insekten zugute. Das zeigte sich sehr klar in der Reaktion der Schmetterlinge auf den besonders heißen Sommer 2003. Diese Feststellung gilt keineswegs nur für den Ausnahmefall. Dieser macht die Wärmewirkung lediglich besonders gut sichtbar. Sie trifft generell zu, für alle Jahre und jede Witterung. Deshalb sehen wir rund ums Mittelmeer im Sommer viel mehr Schmetterlinge und andere Insekten als nördlich der Alpen. Und es werden mehr, wenn wir uns zum Äquator hin bewegen und die inneren Tropen erreichen. Dort lebt die größte Artenfülle der Insekten. Folglich stellen Großstädte eigentlich ganz ideale Räume dafür dar, die Wirkung der prognostizierten Klimaerwärmung um zwei oder mehr Grad Celsius zu untersuchen. Die Lebensabläufe sehr vieler Arten könnten in den Städten mit denen ihrer Artangehörigen auf dem Land verglichen werden. Konkrete Befunde sind allemal besser als die schönsten Rechenmodelle, die sich für die Anwendung auf die Natur erst bewähren müssen. Modelle scheinen jedoch umso beliebter zu werden, je weniger die damit befassten Forscher die Natur selbst kennen.

 

 

Überdüngtes, vergiftetes Land

 

Dem direkten Blick verborgen bleibt ein anderer ganz wichtiger Faktor, der Stadt und Land massiv unterscheidet. Es ist dies das Ausmaß der Düngung. Dass sie zusammen mit der Landschaftsstruktur den Hauptfaktor darstellt, der Vorkommen und Häufigkeit der Insekten bestimmt, wird weiter vertieft, wenn die speziellen Ursachen für den Niedergang der Schmetterlinge diskutiert werden. Seit fast einem halben Jahrhundert erhält das Land weit mehr Düngung als die Städte, die vor Überdüngung weitgehend verschont geblieben sind.

Überdüngung kommt zustande, wenn im Jahreslauf mehr Stoffe, die düngend auf die Pflanzen wirken, in die Böden gelangen, als von diesen entnommen und in Wachstum umgesetzt werden können. Mangel herrscht entsprechend, wenn in der Bilanz der Entzug von Nährstoffen überwiegt. Oder wenn diese schneller in tiefere, für die Wurzeln nicht erreichbare Bodenschichten oder ins Grundwasser ausgeschwemmt werden, als sie die Pflanzen aufzunehmen imstande sind. Formal lässt sich das so ausdrücken: Über- oder Unterversorgung entstehen, wenn weniger/mehr geerntet wird und als Pflanzennährstoff verloren geht, als über die Ernte oder den Zuwachs entnommen wird. Ideal wäre ein ausgeglichener Zustand. Auch darüber später etwas mehr.

Bleiben wir noch kurz bei den Verhältnissen in den Städten. Düngende Stoffe erhalten sie aus drei Hauptquellen: Erstens düngt man in den Gärten, um Gemüse oder andere Pflanzen ernten zu können oder für ihr gutes Wachsen und Gedeihen zu sorgen. Die Mengen, die dabei zum Einsatz kommen, sind auf die gesamte Flächengröße der Stadt bezogen sehr gering, zumal verglichen mit den Düngemassen, die auf die Fluren ausgebracht werden. Auch dazu gleich konkrete Zahlen. Die Anlagen der Städte fluten keine Güllewagen mit ihrer stinkenden, schwarzbraunen Soße. Allerdings trägt der Wind durchaus beträchtliche Mengen davon in die Städte, vor allem in Form von Ammoniak, der aus der Gülle entweicht. Den Hauptteil der Düngestoffe, die auf die Städte niedergehen, liefern Verkehr und Heizungen. Bei dieser Düngung aus der Luft handelt es sich um Luftstickstoff, der mit verbrannt wurde, und um die gleichfalls düngend wirkenden Feinstäube. In den 1980er und 1990er Jahren kamen Mengen von 30 bis 60 Kilogramm Stickstoff pro Hektar und Jahr zustande; als Reinstickstoff gerechnet.

Eine solche Menge Stickstoffdünger zu erzielen, war für die deutsche Landwirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg erklärtes Ziel. Sie galt als landwirtschaftliche Volldüngung. Diese Menge wurde über Jahrzehnte zusätzlich zur landwirtschaftlichen Nährstoffversorgung der Böden mit Mineraldünger und Gülle frei per Luftfracht geliefert und über nahezu das gesamte Land getragen. Besonders stark düngend und auch schädigend wirken in dieser Düngung aus der Luft die mit der chemischen Kurzformel NOx bezeichneten Stick(stoff)oxide. Um sie geht es gegenwärtig in der Dieselproblematik. Ihre Menge nimmt zwar seit Jahren ab, aber nicht stark genug. Die Grenzwerte für gesundheitliche Unbedenklichkeit werden in Großstädten an verkehrsreichen Strecken nach wie vor viel zu oft überschritten. Doch es wäre falsch, diese NOx-Problematik allein den Städten zuzuschieben.

 

 

Totgespritzt bis zum Feldwegrand. Überdüngte Felder werden intensiv gegen »Unkraut« behandelt, deren Wachstum das Überangebot an Nährstoffen sehr begünstigen würde

 

Ein Großteil der von Verkehr, Verbrennung und Heizungen erzeugten Düngestoffe wird übers ganze Land verdriftet und mit den dort ebenfalls freigesetzten Luftschadstoffen vermengt. Die Landwirtschaft benutzt ja fast nur mit Diesel getriebene Fahrzeuge. Außerdem verweht der Wind, was bei Düngung und Bodenbearbeitung an Nähr- und Schadstoffen in Form von Gasen und Stäuben die Luft gerät. Wohin sie getragen werden, wird nicht näher untersucht. Die Landwirtschaft ist vom Verursacherprinzip ausgenommen. Doch es gibt keinen Zweifel, dass mindestens die Orts- und Waldränder davon stark betroffen sind. Aber auch Naturschutz- und Wasserschutzgebiete, in denen keine direkte Düngung seitens der Landwirtschaft stattfindet. Nähr- und Schadstoffeintrag auf dem Luftweg findet also keineswegs nur in den Städten statt. Die Fluren und die Wälder bekommen sehr viel davon ab. Die direkte Düngung mit Gülle und Mineraldünger kommt auf den Fluren dazu. In der Bilanz unterscheiden sich Stadt und Land in der Menge der Dünge- und Schadstoffe ganz erheblich.

Das Stadtgebiet ist weit geringerem Eintrag ausgesetzt als die Flur. Der große Unterschied bleibt selbst dann bestehen, wenn das Land nicht intensiv konventionell landwirtschaftlich genutzt wird. Einzig große Wälder schneiden besser ab als Großstädte. Allerdings auch nur, wenn lediglich die Einträge von Düngestoffen bilanziert werden. Denn über die Zeit kommt es auch in Wäldern zur Anreicherung, weil zu wenig »Export« stattfindet. Die auf Einzelstammentnahme ausgerichtete, nachhaltige Forstwirtschaft, die großflächige Kahlschläge vermeidet, begünstigt sogar die Anhäufung von Nährstoffen und die Versauerung des Waldbodens, wenn es sich um Reinbestände von Fichten oder Kiefern handelt.

Gift kommt gegenwärtig in der Waldbewirtschaftung kaum noch zum Einsatz. Früher wurden Wälder vom Flugzeug aus begiftet, um Schadinsekten zu bekämpfen. Auch in den Städten wird inzwischen deutlich weniger, in Parkanlagen nahezu gar nicht mehr gespritzt. Unkrautvernichtungsmittel, die Glyphosat enthalten, kommen allerdings in beträchtlicher Menge an Bahn- und Straßenverkehrsanlagen zum Einsatz. Wiederum gilt, dass diese Mengen dennoch gering sind, verglichen mit denen, die auf den landwirtschaftlichen Nutzflächen ausgebracht werden. Vergiftet wird das Land, nicht die Stadt. Die konventionelle Landwirtschaft führt das mit Abstand größte Tötungsprogramm aus, das es je gegeben hat. Dagegen war das früher nach der Ernte praktizierte Abbrennen von Stoppelfeldern, von Ackerrainen und Triften ein geradezu harmloser Eingriff. Die Lebewesen kamen damit zurecht. Flämmen ist, da sichtbar und auffällig, seit Jahrzehnten geächtet. Ersetzt wurde es durch den unsichtbaren Gifttod.

 

 

Naturfreundliche Städter

 

Ein letzter Hauptpunkt bezüglich der ökologischen Unterschiede zwischen Stadt und Land ist für Schmetterlinge von nachrangiger Bedeutung. Aber er besagt viel über die Einstellung der Menschen. In den Städten lässt man Tiere weitestgehend unbehelligt. Sie sind keiner anhaltenden, rücksichtslosen Verfolgung ausgesetzt wie draußen auf dem Land in Wald und Flur. Wildtiere dürfen dort nur in arg dezimierten Mengen leben, falls überhaupt, wenn es sich um Arten handelt, die von den Jägern und Anglern als Konkurrenten um ihre Beute angesehen werden. Sie halten es für ihr selbstverständliches Recht festzulegen, in welcher Häufigkeit die Tiere vorkommen dürfen. Darin sehen sie das Gleichgewicht, das sie ihrem Selbstverständnis nach zu wahren haben. Die Regulierung der Natur sei ihre Aufgabe. Die landwirtschaftliche und die kommunale Bekämpfung von Unkraut und Wildwuchs kommen hinzu. In den Wäldern, zu weit über 90 Prozent gepflanzte Forste und als solche weit von einem natürlichen Waldzustand entfernt, darf vieles nicht wachsen, weil es keinen Ertrag liefert. Sogar die Ränder der Forststraßen werden im Staatsforst intensiv gemäht; meist gerade dann, wenn im Frühsommer Blumen blühen und Hummeln Nektar und Pollen suchen. Ausnahmen sind selten und wenig wirksam. Sogar im Staatsforst, der dem Wohl der gesamten Bevölkerung dienen sollte, gehört er doch der Allgemeinheit, wird nach den Prinzipien der Ertragsmaximierung gewirtschaftet. »Schwarze Zahlen« der Bayerischen Staatsforsten, die öffentlichkeitswirksam als Erfolg präsentiert werden, bedeuten umgerechnet zwar nicht mehr als eine Tasse Kaffee mit Brötchen pro Kopf der bayerischen Bevölkerung, aber ob diese überhaupt so einen Ertrag haben will, der auf Kosten von so vielem erwirtschaftet wird, was Staatswälder für die Bevölkerung bieten könnten, bleibt unberücksichtigt.

 

 

Nicht nur die Ränder der Forststraßen werden Ende Juni gemäht, sondern auch die kleine blütenreiche Waldwiese. Schlagartig finden die Schmetterlinge, Wildbienen und Hummeln keine Blüten mehr; eine mehr als fragwürdige, zudem Kosten verursachende Pflegemaßnahme im Staatsforst

 

Wie sehr im Staatsforst Biodiversität eingeschränkt und vernichtet wird, behandle ich später im Zusammenhang mit der Frage, was getan werden kann gegen das Verschwinden der Schmetterlinge. Da ist es ein wichtiger Punkt. In der Stadt, wiederum, mit besonderer Betonung der Großstadt, haben Wälder eine ganz andere, wahrhaft öffentliche Funktion. Da dürfen Bäume alt und hohl werden. Sie müssen keinen Holzertrag liefern, der sich »schwarz« rechnet gegen die (»roten«) Kosten. Erholungswert und Schönheit haben Vorrang vor Nutzwert und Monotonie.

Der Kontrast ist riesig. Das bemerkt man, sobald man darauf näher achtet. In den Städten lässt man wachsen und leben, was sich von selbst einfindet und mit den innerstädtischen Lebensbedingungen zurechtkommt. Kontroll- oder Abwehrmaßnahmen bleiben auf das Notwendige beschränkt. Selbst dieses unterliegt der öffentlichen Diskussion. In Berlin und Wien und anderen Großstädten nehmen Wildschweine und Füchse am öffentlichen Leben teil. In skandinavischen, nordamerikanischen und osteuropäischen Metropolen auch andere Großtiere wie Elche, Bären und Wölfe. In den Städten formieren sich sogleich Schützergruppen, wenn irgendwo Bäume gefällt oder Freiflächen zugebaut werden sollen. Millionen kostete beim Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofes die Umsiedlung der dortigen Eidechsenvorkommen. Um die Menge der auf dem Land von Land- und Forstwirtschaft Jahr für Jahr vernichteten Eidechsen, Blindschleichen, Schlangen, Frösche und Kröten kümmert sich niemand. Allesamt sollten sie hochgradig geschützt sein, wie so manche Falterschönheit unter den Schmetterlingen, was den Tieren aber nichts nützt, weil Land- und Forstwirtschaft nicht als »Eingriff in den Naturhaushalt« gelten und von den theoretisch sehr guten Schutzbestimmungen freigestellt sind. Die allermeisten Naturschützer und Bürgerwissenschaftler, die Vorkommen und Häufigkeit der Arten erforschen, stammen aus Bevölkerungsgruppen, die nichts mit der direkten Landnutzung zu tun haben. Absichtliches Töten von Tieren und Vernichten von Pflanzen ohne vernünftigen Grund ist in der Stadtbevölkerung verpönt. Diese Haltung prägt zunehmend den Unterschied zwischen Stadt und Land.

Zusammengefasst heißt dies, die Städte sind (1.) viel reicher an Strukturen und sie bieten (2.) ein besseres Angebot zum Leben, sie sind (3.) wärmer als das Umland, im Stadtgebiet wird (4.) weit weniger gedüngt und vergiftet als auf dem Land und die Stadtbevölkerung ist (5.) weit eher bereit, auf die Lebensbedürfnisse von Tieren und Pflanzen Rücksicht zu nehmen. Sichtbarer Ausdruck davon ist die geringe Scheu der Vögel in den Städten und dass sich Säugetiere auch am Tag zeigen und nicht im Dunkel der Nacht verborgen bleiben müssen. Auch die Schmetterlinge profitieren von den Vorzügen der Stadt. Die Befunde zeigen dies. Das Urteil der Tiere und Pflanzen, die in den Städten leben, sollte weit mehr als bisher beachtet werden. Es ist weit aussagekräftiger als Ideologien, die Dinge in »gut« oder »schlecht« einteilen. Nicht die Städte sind schlecht, das Land ist unwirtlich geworden; weithin.