Die Unwirtlichkeit des Landes

 

Das kleine Dorf im niederbayerischen Inntal, in dem ich aufwuchs und von dem in diesem Buch schon ein paar Mal die Rede war, lag in meiner Kindheit und frühen Jugendzeit in einer vielfältigen Landschaft. Jenseits des Gartenzaunes unseres Häuschens fingen die Wiesen und Felder an. Drei Bäche durchzogen die Wiesen zwischen dem Dorf und dem Auwald am Inn. Ein weiterer hatte seine Quelle einen halben Kilometer vom Haus entfernt an einer kleinen Geländestufe. Diese, eine späteiszeitliche Uferkante des Inns, trennte das etwas höher liegende Ackerland von den Wiesen. Das ganze Dorf war von Obstgärten umgeben. Die wenigsten waren eingezäunt. Im Winter kamen die Rehe und die Hasen in diese Gärten. Sollten junge Bäume vor Verbiss geschützt werden, umgab man sie mit einem einfachen Drahtgitter, wie es für Hühner- und Kaninchenställe benützt wurde. Auf den Feldern gab es alle Sorten von Getreide sowie Rüben-, Kraut- und Kartoffeläcker. Kleefelder wechselten mit Weizen-, Gersten-, Roggen- und Haferfeldern. Mais gab es noch nicht. Schlenderte ich vom Haus über den geschwungen verlaufenden Feldweg zur Quelle des Bachs, kam ich an fast all diesen verschiedenen Kulturen vorbei. Manchmal wurden auch Bohnen angebaut. Der halbe Kilometer bot die ganze Vielfalt der Feldfrüchte. Waren die Felder im Spätherbst abgeerntet, wurde ein Netz von Rainen sichtbar. Im Sommer liefen die Hasen daran entlang. Rebhühner und Lerchen nisteten auf diesen etwa 30 Zentimeter breiten Grenzstreifen, oft umgeben von blühenden und duftenden Echten und Falschen Kamillen mit weißem Strahlenkranz um die gelben Blütenköpfchen, rotem Klatschmohn und zahlreichen anderen Ackerwildkräutern. Im Frühjahr riefen die Rebhühner ihr unverkennbares »kirreck«, »kirreck« aus den Feldern. Im Mai schlug die Wachtel »pickwerick«, und die Lerchen sangen darüber in so großer Zahl, dass ich oft nicht mehr unterscheiden konnte, von welchem der fast senkrecht himmelwärts emporstrebenden Vögel das Lied klang, das sich mit denen der anderen Lerchen mischte.

Und es flogen Schmetterlinge vom Frühjahr bis weit in den Herbst hinein. Besonders viele gab es auf der Wiese, die direkt an unseren Garten grenzte, denn sie war damals sehr reich an Blüten. Es gab Glockenblumen und Wiesensalbei, Klappertopf und verschiedene Arten von Klee. Manche, wie die Doldenblütler machten mir Schwierigkeiten, zu erkennen, worum es sich bei ihren runden Schirmen aus kleinen weißen oder gelblichen Blüten handelte. Gut bekannt war mir die Wilde Möhre Daucus carota, weil sich ein Schmetterling speziell dafür interessierte, der Schwalbenschwanz. Und dieser faszinierte mich ganz besonders.

 

 

Von der Idylle zur Gülle

 

In frühjugendlichem Jagdeifer fing ich mir sogar einen; ohne Netz, nur mit den dachartig zusammengefalteten Händen. Dazu warf ich mich so geschickt ins Gras, dass ich den Schmetterling damit nur zudeckte und am Wegfliegen hinderte, ihn aber nicht beschädigte. Dieses Kunststück gelang. Mit schlechtem Gewissen nadelte ich den wunderschönen Falter und fertigte ihm aus Karton eine kleine Schachtel. Mit Plastikfolie, wie wir sie zum Einbinden der Schulbücher verwendeten, überklebte ich ihn. So konnte ich ihn, etwas verschwommen, bewundern. Er existiert noch immer. Aber seine Flügel sind vom Körper abgefallen. Mein schlechtes Gewissen ist in den seither vergangenen sechs Jahrzehnten zwar schwächer geworden, aber ganz verschwunden ist es nie.

Weil ich den Schwalbenschwanz ohne vernünftigen Grund gefangen und getötet hatte. In diesem Sinne mahnte er mich, auch nicht unter dem Deckmantel der Wissenschaft Schmetterlinge zu töten, wenn es nicht wirklich nötig war. Dass ich in unserem Garten, zwar selten, aber doch immer wieder einmal, einen Schwalbenschwanz sehe, dreht in berührender Weise die früheren Verhältnisse um. Damals hatte es die Falterschönheiten draußen jenseits des Gartenzauns gegeben. Innen flogen die Kohlweißlinge, deren Raupen ich sammeln und vernichten sollte, bevor sie allzu viele Blätter von Weißkraut und Blumenkohl zerfressen hatten.

Die Wiesen hinterm Haus der Kindheit gibt es nicht mehr. Häuser sind darauf gebaut worden. Das Dorf wuchs. Als Baugrund wies man solche Flächen aus, die nicht besonders ertragreich gewesen waren. Wie die magere Wiese voller Blumen, Grillen und Schmetterlinge. Über die Flur aber ging die Bereinigung hinweg. Zwei Jahrzehnte nach dem Idyll der Jugendzeit ließ sie sich in den späten 1970er und beginnenden 1980er Jahren nicht wiedererkennen. Ihre Vielfältigkeit war zur Einförmigkeit gewandelt. Der große Umbruch, im wörtlichen Sinne, weil dabei auch der Umbruch der Wiesen zu Ackerland stattfand, geschah in den 1970er Jahren. Ein Jahrzehnt später war das Dorf eine Insel im grünen Meer der Maisfelder geworden. Genauso sah es aus im ganzen niederbayerischen Inntal und darüber hinaus aus. Denn von dieser südöstlichsten Region Deutschland ging ein Flächenfraß aus, der diese Bezeichnung wirklich verdient. Bis heute sind die Landkreise Passau, südlicher Teil, Rottal-Inn und deren weitere Umgebung eines der deutschen, ja gesamtmitteleuropäischen Zentren des Maisanbaus. Der Mais scheint inzwischen die Hänge hochzukriechen; im voralpinen Hügelland schon überall, aber auch direkt am Alpenrand und von den Alpentälern heraus geht es aufwärts mit ihm. Um 1960 bedeckte der Maisanbau in Deutschland nur ein paar Tausend Hektar, gegenwärtig (2018) sind es zweieinhalb Millionen. Eine Vertausendfachung! Die Energiewende brachte einen großen Schub, nachdem die Maisanbaufläche Ende der 1990er Jahre bereits auf eineinhalb Millionen Hektar angewachsen war. Der Maisanbau erhielt massive staatliche Förderung. Mit Biogas aus Biomasse wechselten Landwirte de facto das Ressort. Sie wurden Energiewirte, behielten aber alle Privilegien und öffentlichen Förderungen der Landwirte.

Parallel dazu fand ein anderer grundlegender Wandel in der Landwirtschaft statt. Die Viehhaltung wurde großenteils auf Stallhaltung mit Schwemmentmistung umgestellt. Das liefert Gülle. Bei dem exorbitant hohen Viehbestand in Deutschland entstehen kaum vorstellbare Mengen davon; 310 Milliarden Liter pro Jahr. Ein einziger Landkreis mit hohem Viehbestand, aber nur an die hunderttausend Menschen, erzeugt so viel oder mehr Abwasser (= Gülle) aus der Tierhaltung als die dreieinhalb Millionen Menschen Berlins. Auf ganz Deutschland mit seinen 83 Millionen Einwohnern kommt die gut doppelte bis etwa dreifache Güllemenge, je nachdem, welche der Ausscheidungen aus der Tierhaltung für die Berechnung berücksichtigt werden. Ein paar konkrete Zahlen des Statistischen Bundesamtes hierzu für das Jahr 2017: Der landwirtschaftliche Tierbestand in Deutschland setzte sich in diesem Jahr wie folgt zusammen: 12,3 Millionen Rinder, davon 4,2 Millionen Milchkühe, 27,6 Millionen Schweine, davon 1,9 Millionen Zuchtsauen, 1,6 Millionen Schafe sowie fast 778 Millionen Hühner (»Masthähnchen« oder Broiler genannt) und weitere 40,6 Millionen Legehennen. Die 1,3 Millionen Pferde bilden gegenüber dieser Tiermasse nur eine kleine Minderheit. Die wenigsten von ihnen sind noch in der Landwirtschaft im Einsatz. Die große Mehrheit gehört zu den Reitpferden und damit in den Bereich der »Heimtiere« wie Hunde und Katzen. Zu den Schweinen ist anzumerken, dass sie eigentlich nicht den Jahresbestand im Sinne einer Gesamtzahl angeben, da die allermeisten Schweine nicht über ein halbes Jahr alt werden. Um zum Gesamtumsatz von Nahrung und der dabei entstehenden Güllemenge zu kommen, müsste also eine erheblich höhere Zahl angesetzt werden; bei den Broilern sogar ein Vielfaches. Hieraus ergibt sich die oben getroffene Feststellung, dass die Tierhaltung ein Mehrfaches an Abwasser erzeugt als alle Menschen in Deutschland. Deren Abwasser wird längst so gut wie ausnahmslos über wirkungsvolle und sehr teuere Kläranlagen geeinigt. Die Hunderte Milliarden Liter Gülle hingegen gelangen frei auf die Fluren. Mit gewaltigen Folgen für die Natur, für Pflanzen und Tiere, aber auch für die Qualität von Luft und Grundwasser. Denn diese Tiermengen wollen versorgt sein, sollen sie entsprechende Gewinne abwerfen. Auch mit Medikamenten und anderen Hilfsstoffen, die unweigerlich Natur und Umwelt belasten. All das ist ebenso oft wie vergeblich ausgebreitet worden. Das System Landwirtschaft ist immun dagegen.

 

 

Monokulturen und die Veränderung des bodennahen Kleinklimas

 

Die Immunität verschaffte ihr die Politik bis fast zur Unangreifbarkeit. Auch darüber ist von vielen massiv geklagt worden, ohne jeglichen Erfolg. Die schier unendliche Kette von Skandalen in der Landwirtschaft reicht immer noch nicht, um im Interesse der Gesamtbevölkerung und ihrer Zukunft grundlegende Änderungen herbeizuführen. Wie einst in Zeiten des Feudalismus hat auch heute die Macht, wer das Land besitzt.

Doch genug des ohnehin vergeblichen Lamentierens. Ziel des Stadt-Land-Vergleichs war es, die Hauptursachen für den Schwund der Schmetterlinge, der anderen Insekten und auch der Wildpflanzen, Vögel und des Wildes, das die Fluren bewohnt(e), zu ermitteln. Was können wir diesen Schilderungen entnehmen? Blühend bunte Wiesen als Erinnerungsbilder aus Kindheit und Jugendzeit erfüllen schwerlich die Kriterien eines überzeugend sachlichen Vergleichs zwischen früher und heute. Wie alle Erinnerungen sind sie gefiltert, getönt von den Jahren und Jahrzehnten des Lebensweges. Besser ist es, die zweifelsfrei nachvollziehbaren Kriterien zu den Unterschieden von Stadt und Land in Bezug auf die Schmetterlinge nun nochmals genauer unter die Lupe zu nehmen.

Und zwar so, dass keine irgendwie gearteten Rückblicke helfen müssen, die Gegenwart zu verstehen und gebotene Schlüsse zu ziehen. Eigentlich geht das ganz leicht. Die Problematik der Überdüngung eignet sich sogar bestens dafür. Denn es gibt genügend Flächen mit unterschiedlichem Gehalt an Pflanzennährstoffen in den Böden. Die Mengen, die direkt gedüngt und die auf dem Luftweg hinein geraten, sind ziemlich genau messbar; genauer jedenfalls als die Pflanzen, die darauf reagieren. Denn ihr Wachstum braucht Zeit. Verfügbare Nährstoffe können nicht gleich aufgenommen und in pflanzliches Gewebe umgesetzt werden. Wie die Pflanzen tatsächlich reagieren, ist wissenschaftlich äußerst gründlich erforscht worden. Grundvorgang ist die Photosynthese. Nährsalze, wie Stickstoff- und Phosphorverbindungen, setzt sie mit Wasser und Kohlendioxid aus der Luft in pflanzliches Material um. Dabei wird Sauerstoff in genau dem Maße frei, in dem Kohle(stoff)dioxid aufgenommen wird. Die Leistung der Pflanzen hängt daher, entsprechende Versorgung mit Wasser vorausgesetzt, von den zum Wachstum benötigten Mineralstoffen ab. Wir nennen sie Pflanzennährstoffe oder Dünger. Letztlich hängt das Wachsen und Gedeihen aller Pflanzen von der Düngung ab.

Das gilt für die einzelne Pflanze wie auch für den Bestand und die Wuchsgemeinschaft mit anderen Pflanzen. Für Schmetterlinge und andere Insekten ist überlebenswichtig, dass die Vegetation, die Gemeinschaft aller Pflanzen einer Fläche, umso schneller und umso dichter wächst, je stärker gedüngt sie ist. Düngung fördert Wachstum. Das ist das Ziel der landwirtschaftlichen Pflanzenproduktion. Gleiches gilt für den Wald bzw. Forst und das Wachstum der Bäume. Im Forst können wir etwas beobachten, das uns auf der Wiese in aller Regel verborgen bleibt, nämlich die Konkurrenz der Bäume untereinander. Wächst ein junger Bestand auf, gleichgültig ob es ein gepflanzter oder ein naturwüchsiger ist, der, selten genug, ohne Vorgaben des Menschen entstehen darf, sterben nach und nach immer mehr der Schösslinge und Jungbäume ab. Nach Jahrzehnten sind, in älteren Beständen gut sichtbar, nur noch sehr wenige überlebende Bäume vorhanden.

Bildet sich beispielsweise Jungwuchs aus Weiden, deren Samen auf einer neuen Insel im Fluss angeschwemmt wurden, beginnt dieser mit Tausenden Sämlingen auf dem Quadratmeter. Fünfzig bis siebzig Jahren später ist davon nur einer übrig, aber nicht auf einem Quadratmeter, sondern auf zwanzig bis dreißig Quadratmetern. Zehntausende seiner Konkurrenten sind seinem Überlebenserfolg zum Opfer gefallen. So verhält es sich natürlicherweise. Die Konkurrenz aus den eigenen Reihen, so stark sie ist, macht jedoch nur einen Teil der Ausfälle aus, die durch Verdrängung entstehen. Ihr fielen auch sehr viele andere Pflanzen anheim, die es ebenfalls nicht schafften zu überleben. Der Jungbestand war zu wüchsig; seine Versorgung mit Nährstoffen zu günstig.

Sind diese hingegen knapp, geht das Wachstum langsam vonstatten. Die Vegetation bleibt lange Zeit lückig. Empfindlichere, weniger konkurrenzstarke Arten überleben, wenn auch nicht dauerhaft, so doch für Jahre oder Jahrzehnte. Die Vegetation sieht dementsprechend vielfältig aus, während der Reinbestand aus Weidenjungwuchs einer Monokultur gleicht. Daran können grundsätzlich nur solche Insekten vorkommen, die auf diese eine Art spezialisiert sind oder sie wenigstens mit im Nahrungsspektrum (der Raupen, Larven) haben. Viele Arten ernähren hingegen viele Nutzer. Das sind einfache, auch ohne wissenschaftliche Spezialkenntnisse leicht nachzuvollziehende Zusammenhänge. Die direkte Folge sehen wir ebenfalls ohne weiteres ein. Wenn eine Art oder einige wenige Arten sehr gute Wachstumsbedingungen auf der betreffenden Fläche haben, gedeihen sie in dichtem Bestand. Dieser lässt keine Lücken für andere, schwächere Konkurrenten. Reichlich Düngung fördert daher artenarme Pflanzenbestände. Diese vermehren sich aber stark. Vielfalt verbindet sich mit Mangel. Sobald die Lebensbedingungen besser werden, gewinnen einige Arten auf Kosten vieler anderer die Oberhand. Je besser gedüngt, desto artenärmer, das ist die zwangsläufige Folge dieses Zusammenhangs.

Für die Vegetation kommt etwas hinzu, das sich besonders stark auf die Tiere auswirkt, die davon leben. Sie wird feuchter und kühler, je üppiger sie wächst. Besonders am Boden ist das Mikroklima weit kühler und viel feuchter als in lockeren Beständen, in denen die Sonne den Boden erreichen und aufwärmen kann. Die Folge dieser Verschiebung des bodennahen Mikroklimas zum Kühlen und Feuchten ist, dass viele Insekten dort nicht mehr leben können; auch dann nicht, wenn ihre Futterpflanzen noch vorkommen sollten. Denn ihre Fressstadien, die Larven und Raupen, benötigen Wärme und Sonne für die Entwicklung, wie die Pflanzen das Licht nötig haben.

 

 

Die Abkühlung von Fluren und Wäldern

 

Für sehr viele Insekten, die auf Wiesen und Ackerland leben, verschlechtern sich auf diese Weise die Lebensbedingungen bereits lange bevor ihre Futterpflanzen vollends verschwinden. Die Vegetation wächst nämlich nicht nur zu dicht, sondern im Frühjahr auch zu schnell auf. Für Vorkommen und Häufigkeit von Schmetterlingen, zumal solcher Arten, deren Raupen im Offenland am Boden oder bodennah in der Vegetation leben, ist das Mikroklima meist weitaus entscheidender als das »offizielle Wetter«, wie es über die Wetterstationen ermittelt wird. Ein schöner warmer Maientag mit 25 Grad Lufttemperatur kann viel zu kalt und zu nass sein für gerade geschlüpfte Schmetterlingsraupen in der Wiese, deren Gras bereits kniehoch aufgewachsen ist. Um es nochmals zu betonen: Was für Schmetterlinge und andere Insekten zählt und sehr häufig auch die Kleinvögel der Fluren betrifft, ist nicht das, was die Wetterstationen messen und meteorologisch als Wetter und Klima gilt, sondern das bodennahe Kleinklima. Dieses ist aufgrund der Überdüngung, der unsere Fluren seit Jahrzehnten ausgesetzt sind, beträchtlich kälter und feuchter geworden als im meteorologisch tatsächlich feuchtkühleren 19. Jahrhundert. Dieser Abkühlungseffekt wirkt bereits lange vor dem tatsächlichen Verschwinden der Futterpflanzen der Raupen. Auch dies möchte ich noch einmal unterstreichen.

Kälter und feuchter ist es auch in unseren Wäldern geworden, seit sie so massiv aus der Luft gedüngt werden. Sie sind wüchsiger denn je. Besonders stark zeigt sich dies in den Auwäldern, die richtig wuchern, obwohl sie vielfach keine neuen Nährstoffe durch Überflutungen mehr bekommen. Die kontinuierlich starke Düngung aus der Luft versorgt sie seit Jahrzehnten besser als einst die unregelmäßigen Hochwasser der unregulierten Flüsse. Das Problem der Überdüngung zeigt sich auch überall dort, wo unter Naturschutz stehende Flächen mehr oder weniger sich selbst überlassen bleiben. Unerwartet schnell wächst die Vegetation auch auf diesen unbewirtschafteten Flächen immer üppiger. Waren die Auwälder am Inn in den 1960er und 1970er Jahren noch reich strukturiert, weil die frühere kleinteilige Parzellennutzung nachwirkte, so änderte sich dies mit Beendigung der Niederwaldnutzung. Der Auwald wuchs viel dichter auf als früher. Früher meint die Zeit, in der zudem im Winter das dürr gewordene Rohrglanzgras und andere große Gräser als Streu für die Viehställe aus den Auen herausgeholt wurden. Diese winterliche Streunutzung, die verhinderte, dass sich am Boden eine dichte, sich verfilzende Bewuchsschicht ausbildete, war den Frühlingsblühern wie den Schneeglöckchen, Frühlingsknotenblumen, Blausternen und auch den Schlüsselblumen zugutegekommen. Sie förderte generell die Artenvielfalt der Pflanzen im Unterwuchs. Nachdem diese sehr arbeitsaufwendige Form der Auwald-Bewirtschaftung aufgegeben worden war, weil keine Streu mehr gebraucht wurde für die Gülle erzeugende Schwemmentmistung der Viehställe, verschwanden die Frühlingsblumen weitgehend oder vollständig. Auch manche Arten der Sträucher und Bäume wurden seltener. Die wüchsigeren Silberweiden und gepflanzte Hybridpappeln verdrängten sie. Für den Auwald gilt genauso wie für das Grasland: Je stärker das Pflanzenwachstum, desto stärker die Abkühlung durch die Verdunstung von Wasser, die Transpiration.

 

 

Gesteigertes Wachstum verringert die Häufigkeit der Schmetterlinge im Auwald

 

Der Mengenrückgang der Schmetterlinge in Auwäldern, besonders ausgeprägt in solchen, die seit Jahrzehnten sich selbst überlassen blieben, weil sie nicht mehr als Niederwald genutzt werden, beruht auf dem Abkühlungseffekt, den die Verdichtung der Vegetation ausgelöst hat. Dieser äußert sich speziell darin, dass die großen Schmetterlinge, wie die Schwärmer und einige andere Arten, weit stärker als der Durchschnitt abgenommen haben. Große Raupen benötigen mehr Wärme für die Entwicklung als die kleinen. In den Forsten laufen durchaus vergleichbare Entwicklungen ab, zumal wenn Kahlschläge ganz vermieden werden, weil sie als »ökologisch schlecht« gelten. Über das, was »ökologisch« ist und nach vorgegebenen Zielen bewertet wird, ließe sich trefflich streiten. Die heutige Praxis stützt sich auf die Ideologie einer Zeit, in der Kahlschläge verdammt wurden. Aus dem Forstbereich stammende, damals sehr einflussreiche Persönlichkeiten prägten den Naturschutz. Deren einseitige, auf den (forstlich nutzbaren) Baumbestand ausgerichtete Sichtweise ließ die vielen Tier- und Pflanzenarten unberücksichtigt, die von den Anfangsstadien der Waldentwicklung leben. Da aber Waldbrände, die natürlicherweise solche Flächen schaffen würden, nicht mehr stattfinden dürfen und mit modernster Technik und immensem Aufwand, etwa durch den Einsatz von Löschhubschraubern, möglichst im Keim erstickt werden, gibt es diese flächigen Anfangsstadien einer Waldentwicklung nicht mehr. Sie sind noch rarer als die Altersstadien, die zum Zusammenbruch von nicht genutzten Baumbeständen führen. Die Wirtschaftsforste von heute werden künstlich in dem für die Forstwirtschaft besonders produktiven Zustand gehalten, der allenfalls Veränderung im Sinne einer allmählichen Umwandlung von Nadel- auf Laubwald zulässt oder dies »im Hinblick auf den Klimawandel«, wie es heißt, zum Ziel hat.

In engen Rückegassen wächst jedoch kein Jungwald auf; in sie dringt wenig Sonne. Es bleibt unten am Boden nass und kalt. Die schweren Holzernter, die zum Einsatz kommen, pressen tiefe Furchen in den Waldboden. Diese Schneisen zur Holzentnahme sind daher kein Regenerationsraum für all die »nutzlosen« Pflanzen und Tiere des Waldes. Die Abnahme der Häufigkeit vieler Waldarten unter den Schmetterlingen und anderen Insekten beruht also im Grunde auf den gleichen Faktoren, die auch das Leben im Offenland maßgeblich beeinflussen: Wachstumsbeschleunigung und -verdichtung durch Überdüngung und Vereinheitlichung des Bewuchses.

 

 

Grenzlinien in den Fluren, ein tragendes Netzwerk

 

An dieser Stelle ist ein Rückgriff auf den erstgenannten Unterschied zwischen Stadt und Land angebracht. Denn es waren die Kleinstrukturen in der noch nicht flurbereinigten Landschaft, die bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus den hohen Artenreichtum auf den Fluren gewährleistet haben. Ackerraine und Heckenränder blieben offener, sonniger und weniger dicht bewachsen als die Felder, weil die Bauern darauf achteten, Mist und Jauche möglichst nur auf das Feld selbst auszubringen, wo die Nutzpflanzen die düngende Nahrung brauchten. Den Böden wurde über die Ernte noch mehr an Nährstoffen entzogen, als mit der herkömmlichen Düngung zurückkam. Raine und Ränder, Hecken und Triften waren daher nicht annähernd so »wüchsig« wie das, was als symbolhafter Restbestand die Flurbereinigung überlebte und der jetzt mitgedüngt wird. Das engmaschige Netzwerk der Ackerraine blieb sonnig und trocken.

Und es bildete Grenzen; Strukturgrenzen. Sie förderten die Artenvielfalt. In der wissenschaftlichen Ökologie ist ihre Bedeutung als Grenz- oder Randeffekt bekannt. Habitatgrenzen bilden Gradienten, natürlicherweise. Solche Gradienten gibt es nicht mehr, wo nur noch eine tiefere Ackerfurche zwei Flurstücke voneinander trennt oder die benachbarten Nutzflächen einfach direkt aneinandergrenzen, weil die eine mit Mais und die andere mit Weizen ohnehin zum selben Betrieb gehört. Nur wo sich die Landschaftsstruktur der Vereinheitlichung widersetzt, wie auf den Fluren der Schwäbischen und Fränkischen Alb und in einigen anderen Gebieten Mitteleuropas mit sehr variablem Geländerelief, bleiben Grenzlinieneffekte erhalten. Tatsächlich haben sie und das Bergland im engeren Sinne bislang am wenigsten Arten verloren. Verhältnismäßig, aber nicht absolut, wie die Auswertungen für ein Naturschutzgebiet bei Regensburg gezeigt haben. Dr. Andreas Segerer und seine Mitautoren stellten dies beim Vergleich der früheren Artenzahlen mit den gegenwärtigen fest: Die Artenzahl der am Tag fliegenden Schmetterlinge sank von 117 um 1840 auf 71, also um knapp 40 Prozent, obwohl die Hanglagen nicht bewirtschaftet wurden.

Zu diesem starken Rückgang des Artenbestandes gibt es ein ganz entsprechendes Gegenstück in nordwestdeutschen Befunden, die in der sogenannten Krefeld-Studie zusammengefasst sind. Dort wurde seit den frühen 1990er Jahren die Insektenhäufigkeit mit einer anderen Methode erfasst und ein Rückgang von mehr als 70 Prozent ihrer Biomasse festgestellt – in Naturschutzgebieten! Die weitgehende Übereinstimmung entspricht dem ökologischen Prinzip, dass zuerst die Mengen abnehmen und dann immer mehr Arten ganz verschwinden. In den Untersuchungen zu den Lichtanflügen am Ortsrand zur Flur hatte es fast gleiche Verhältnisse gegeben mit einer durchschnittlichen Abnahme der Artenzahl um die Hälfte (Grafik 8) und einem Mengenverlust von über 80 Prozent. Der Rückgang der Schmetterlinge fand zweifellos großräumig statt. Erfasst wurden davon auch Schutzgebiete und abgelegenes, nicht sonderlich intensiv bewirtschaftetes Gelände. Großräumige Bilanzen in reich strukturierter Landschaft ergeben zwar geringere, aber dennoch überraschend große Veränderungen im Artenspektrum. So stellte Walter Sage für Südostbayern fest, dass seit Mitte der 1990er Jahren 73 Schmetterlingsarten aus dem Gebiet ganz verschwunden sind, 19 rar und 92 Arten deutlich seltener geworden sind, 117 Arten sehr selten vorkommen und als gefährdet gelten müssen, aber nur für acht eine leichte Zunahme festzustellen ist und 13 Arten durch Arealausweitung neu in die Region gekommen sind.

Für eine Gegend mit viel Wald, Auwäldern, großen Gewässern, Naturschutzgebieten und lockerer Besiedlung in klimatisch günstiger Lage sind dies ähnlich erschreckende Bilanzen wie für den Insektenrückgang gemäß der Krefeld-Studie und der Abnahme der tagfliegenden Schmetterlinge bei Regensburg. Mit Abstand am stärksten zum Rückgang der Schmetterlinge tragen die großen Agrarflächen bei, die Börden und Gäuböden oder wie sie auch immer regional genannt werden. Sie sind die Verödungsgebiete der Natur, nicht die Großstädte. Wiederum gilt Entsprechendes für die Wälder. Gibt es darin viele Biotopstrukturen in Form von Hängen, Schluchten, Bergrücken oder Gewässern und ist auch ihr Baumbestand artenreich, hat sich das Artenspektrum der Schmetterlinge weitgehend erhalten. Sind sie jedoch einförmig an Arten und im Alter des Bestands, wie viele Forste des Flachlandes, betrifft auch sie der Artenrückgang. Die Parallele zu den (Groß-)Städten ist offensichtlich.

 

 

Nachverdichtung und Ausgleichsflächen

 

Je größer die Städte, desto reicher sind sie an Strukturen. Im Verlauf des letzen halben Jahrhunderts gewannen sie durch bessere, verstärkt an der Lebensqualität der Menschen orientierte Stadtplanung. Die Behandlung von Stadtparks, innerstädtischen Waldstücken und Gewässern wurde auf die Erholungsfunktion ausgerichtet. Von übermäßiger Pflege wurde zunehmend Abstand genommen; auch weil damit Kosten verringert werden. Beträchtliche Flächen in den öffentlichen Grünanlagen werden nicht mehr im Zustand englischer Rasen gehalten und vielfach im Jahreslauf gemäht. Blumenwiesen dürfen sich entwickeln; Schmetterlinge darüberfliegen. Allerdings hat in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren eine gegenläufige Tendenz eingesetzt, die Nachverdichtung. Noch vorhandene, nicht genutzte, aber öffentlich zugängliche Freiflächen werden zugebaut, damit die böse Stadt nicht noch mehr vom guten Land mit ihrem Wachstum überwuchert und auffrisst.

International denkt man längst anders. Jeder Stadtbewohner sollte auf kurze, zu Fuß zu bewältigende Distanz Zugang zu öffentlichen Grünflächen haben. Für London und andere Großstädte sind entsprechende Festlegungen getroffen und neue Freiflächen geschaffen worden. Offenbar hängt nur Deutschland der längst widerlegten Ideologie an. Lebensqualität der Stadtbewohner wird der Erhaltung von Maisfeldern geopfert. Offenbar gehört es zur Grünen Ideologie, dass die Stadt schlecht zu sein hat und das wieder werden muss, sollte sie sich zu gut entwickelt haben. Ein höchst bedeutsamer Nebeneffekt der verordneten Nachverdichtung ist der exorbitante Anstieg der Bodenpreise. In Städten mit hohem Zuzugsdruck sind sie nicht mehr bezahlbar, außer es investieren Großkonzerne. Noch vorhandene Freiflächen wurden zu sprudelnden Geldquellen für die Stadtkämmerer. Kaum eine Stadt kann sich aus finanziellen Gründen leisten, bebauungsfähiges Land ungenutzt zu erhalten. Auch ein Effekt der Politik der Nachverdichtung, der zu denken geben sollte.

Die Nachverdichtung folgt dem gleichen Muster, das draußen auf dem Land die Konzentration zu großen, einheitlichen, planwirtschaftlich genutzten Flächen geführt hat. Kleinstrukturen wurden vernichtet durch die Flurbereinigungen, die Feldflächen durch Zusammenlegungen vergrößert, vereinheitlicht und ihre Nutzung stark intensiviert. Lediglich über die sogenannten Ausgleichsflächen kommt es zu einer Verminderung der Bewirtschaftungsintensität. Allerdings in immer noch viel zu geringem Umfang.

Die Idee, die hinter den Ausgleichsflächen steht, ist gut. Größere, die Artenvielfalt und Abläufe in der Natur beeinträchtigende Veränderungen (»Eingriffe«) sollen Flächen ausgleichen, die der Natur vorbehalten bleiben. Und nicht bewirtschaftet werden. Zusammen mit Naturschutzgebieten und der ökologischen Landwirtschaft sollen sie ein Gegengewicht zu den von der konventionellen Landwirtschaft verursachten Verlusten bilden. Ob ihr »Gewinn« für die Artenvielfalt die Verluste durch die Nachverdichtung in den Städten kompensiert, ist allerdings sehr fraglich. Denn der innerstädtischen Verbauung fielen und fallen außerordentlich artenreiche Biotope zum Opfer. Nirgendwo sonst gibt es einen so hohen Artenreichtum auf kleinen Flächen wie auf brach liegendem Gelände fern der landwirtschaftlichen Intensivnutzung.

Quantitative Gesichtspunkte kommen hinzu. Der gesamte Siedlungsraum nimmt in Deutschland etwa 12 Prozent der Landfläche ein. Die landwirtschaftlichen Nutzflächen bringen es auf 52 Prozent. Davon werden aber nur wenige Prozent, zwei oder drei vielleicht, ökologisch in einer Weise bewirtschaftet, dass sie die Artenvielfalt wirklich fördern. Die Flächen der Ausgleichsmaßnahmen liegen im Promillebereich. Gehen also beispielsweise für die Nachverdichtung in den Städten zwei Prozent ihres Flächenanteils verloren, müssten auf den landwirtschaftlichen Nutzflächen draußen mehr als zwei Prozent Zugewinn an Natur den Ausgleich dafür bilden. Realistisch? Gewiss nicht, denn die Nachverdichtung ist nicht ausgleichspflichtig; ebenso wenig wie die Intensivierung der landwirtschaftlichen Bodennutzung. Ausgleich ist lediglich bei Baumaßnahmen zu leisten, die in den Bereich des Verkehrs fallen. Also bei Straßenbauten, Bahnhöfen, Flugplätzen und dergleichen. Sogar dann sind noch Ausgleichsmaßnahmen zu tätigen, wenn die Baumaßnahme selbst die Verhältnisse in der Natur verbessert und keine wirtschaftliche Nutzung mit ihr verbunden ist. So muss der Ausbau eines früheren, streckenweise völlig verlandeten Seitenarmes des Inns für den dauerhaften Durchfluss mit der Neupflanzung von Bäumen kompensiert werden, weil auf den nur noch bei sehr starken Hochwassern durchfluteten Strecken Bäume und Buschwerk aufgewachsen waren. Dass im erneuerten Gewässer eine Fülle von Tier- und Pflanzenarten nunmehr (wieder) leben wird und Fische Wandermöglichkeiten bekommen haben, die vorher durch die Stauanlage verwehrt waren, zählt da nicht. Dass derart unsinnige Bestimmungen mehr bremsen als förderlich wirken, liegt zwar auf der Hand, wird aber nicht zurechtgerückt. So entsteht der Eindruck, es geht mehr darum, von den Trägern der Baumaßnahmen Geld zu bekommen oder diese zu Ausgaben zu zwingen, die von Teilen der Öffentlichkeit abgelehnte Projekte verzögern oder verunmöglichen sollen. Der Artenschutz wird auf diese Weise instrumentalisiert.

Jedenfalls wäre es für die Menschen in den Städten weitaus besser, nicht die innerstädtischen Freiflächen zuzubauen, sondern notwendige Neubauten auf die Maisfelder an der Peripherie zu verlagern. Dies würde Lebensqualität erhalten und natürliche Lebensvielfalt fördern. Städte sollten dem Muster des organischen Wachstums folgen und periphere Zentren unter Vermeidung von Überdichte in den Kernen herausbilden können. Fraktale Strukturen erweisen sich nicht nur im mathematisch-physikalischen Modell als überlegen. Auch Kolonien von Tieren und dichte-abhängige Entwicklungen in der Pflanzenwelt folgen diesem Muster. Ganz von selbst kommt dabei Vielfalt zustande; auch Artenvielfalt.

Um es nochmals zu betonen: Auf einem gut angelegten Parkplatz eines Supermarkts am Siedlungsrand können ungleich mehr Tiere und Pflanzen leben als auf gleicher Fläche, die intensiv agrarisch genutzt ist. Nicht durch Bau- und Siedlungstätigkeit fanden die großen Verluste an frei lebenden Tieren und wild wachsenden Pflanzen statt. Ihr Anteil unter den Verursachern der »Roten Listen gefährdeter Arten« liegt kaum erfassbar niedrig. Ob es uns Naturschützern gefällt oder nicht, Bau- und Siedlungstätigkeit können wir nicht verantwortlich machen für bezifferbare Anteile an den Verlusten von Artenvielfalt und dafür, dass Vögel oder Säugetiere, Schmetterlinge und andere Insekten verschwinden. Sogar Maßnahmen von Natur- und Umweltschutz verursachen mehr Verluste als Bau- und Siedlungstätigkeit. Im Wesentlichen hängt es von Art und Intensität der Bewirtschaftung ab, wie viel vom verbliebenen Rest an Artenvielfalt noch überlebt. Die strukturellen Gegebenheiten bilden dazu die beschränkenden Rahmenbedingungen. Auch das bleibt allzu oft unberücksichtigt.

 

 

»Ernährungszustände« der Landschaften

 

Intensiviert wird die Wirkung der Bewirtschaftung durch Düngung und den Einsatz von Giften. Wie bei der Betrachtung der Stadt ausgeführt, scheidet sie in dieser Hinsicht ungleich besser als das Land ab. Die Überdüngung, der das Land ausgesetzt ist, liegt im deutschlandweiten Durchschnitt bei über 100 Kilogramm Reinstickstoff pro Hektar und Jahr. Aber doppelt bis zweieinhalbmal so viel häufen sich in den Intensivregionen von Ackerbau und Massenviehhaltung an. Da bezüglich des Eintrags aus der Luft Land und Städte etwa gleichen Mengen ausgesetzt sind, zählt für den Vergleich im Wesentlichen, wie viel Gülle und Mineraldünger auf die Flur kommen. Das ist so viel, dass es nährstoffarme Verhältnisse auf dem Land praktisch nirgendwo mehr gibt. Werden solche künstlich durch Bodenabtrag geschaffen, reichern sich dennoch mit der Zeit Nährstoffe an und erzeugen ein Phänomen, das vor einem halben Jahrhundert noch etwas Besonderes war, inzwischen aber Normalzustand ist: Eutrophierung. Dieser Fachausdruck meint ein über den tatsächlichen Bedarf der Vegetation hinausgehendes Ausmaß an Nährstoffverfügbarkeit. Das Gegenstück, die Oligotrophie (von altgriechisch oligo – wenig, gering, klein), ist ein ausgesprochen selten gewordener Zustand der Böden auf dem Land. Denn auch wenn sie nicht direkt gedüngt werden, erhalten sie auf dem Luftweg so viel Nährstoffzufuhr, dass sich die Nährstoffarmut nicht hält. Das müsste nicht so sein.

Unsere Gewässer waren bis in die 1970er Jahre durch Einleitung ungeklärter Abwässer eutroph geworden. Im Klartext hieß das, sie waren stark bis katastrophal verschmutzt. Mit vielen negativen Folgen, insbesondere was die Nutzung des Wassers als Trinkwasser betraf. Viele Seen und Flüsse eigneten sich nicht mehr zum Baden, Fische starben. Die unmäßige Einleitung von Abwässern musste beendet werden. Dies ging nur über eine entsprechende Reinigung in Kläranlagen mit hohem Wirkungsgrad. Milliarden wurden in die Abwasserreinigung investiert. Sie gilt zu Recht als besondere und erfolgreiche Umweltschutzleistung. Mit merkwürdigen Folgen allerdings, die seit Jahren höchst ungewöhnliche Schlagzeilen machen. Die Seen seien zu sauber geworden! Die Erträge der Fischerei gehen stark zurück. Aus Sicht der Erwerbsfischerei ist die Forderung, die Seen wieder mehr zu düngen, zwar verständlich, aber dennoch unrealistisch. Denn zugunsten einiger weniger Nutzer kann und darf die Wasserqualität, die mit so hohem, auch finanziellem Einsatz verbessert wurde, gewiss nicht wieder verschlechtert werden. Wasserqualität hängt mit dem Gehalt an Nährstoffen zusammen. Die beste Qualität ist erreicht, wenn nichts mehr darin lebt. Dann lässt sich das Wasser unbedenklich trinken. Das ist ganz folgerichtig erklärtes Ziel der Abwasserreinigung. Zu erreichen ist es nicht. Weil von der Reinigung über Kläranlagen nur die menschlichen Abwasser betroffen sind, nicht aber die von der Landwirtschaft produzierten, die Gülle. Wie bereits ausgeführt übertrifft ihre Menge die der häuslichen Abwasser um ein Mehrfaches. Die davon ausgehenden Belastungen treffen hauptsächlich das Grundwasser und die Bäche in den Fluren.

Der günstigste und letztlich auch vernünftigste Zustand läge in der Mitte, im ausgeglichenen Verhältnis zwischen Verfügbarkeit und Nutzung der Nährstoffe. Das ist der mesotrophe Zustand (von altgriechisch meso – mittel, mittig). Ließe er sich für eine längere Zeitdauer einstellen, blieben die Gewässer und die Böden produktiv, und das Grundwasser würde nicht belastet. Doch er ist ein Durchgangs- oder Übergangszustand. Langfristig stabil sind nährstoffreich, eutroph, und nährstoffarm, oligotroph. Mit den Böden verhält es sich genauso.

Jahrhundertelang entzog ihnen die Landwirtschaft mehr Nährstoffe, als sie über Stallmist und Jauche wieder zurückgab. Die Böden magerten aus. Die Erträge gingen zurück. Die »gute alte Zeit« des in der Natur so außerordentlich artenreichen 19. Jahrhunderts war meist eine Hungerzeit. Millionen Menschen sahen sich in Deutschland und in anderen Regionen Europas dazu gezwungen auszuwandern. Ohne Kunstdünger ließ sich das Defizit nicht beheben. Die Landwirtschaft war nicht in der Lage, die im Zuge der Industriellen Revolution stark anwachsende Bevölkerung zu ernähren. Dieser Mangel in den Böden hielt bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an. Erst in den 1970er Jahren wurde die Unterversorgung der Böden mit Masseneinsatz von Kunstdünger in Deutschland ausgeglichen. Für ein paar Jahre aber nur und im groben Durchschnitt. Denn wie bei den Seen und Flüssen ließ sich die Balance des mesotrophen Zustands nicht halten. Es dauerte nicht einmal ein Jahrzehnt, dann war dieser für die gesamte Umwelt günstigste Bereich weit überschritten. Der eutrophe Zustand war erreicht. Und stabil geworden. Seither bewegt sich die Umsetzung der Nährstoffe in den Böden auf (viel zu) hohem Niveau. Trotz hohem Entzug durch ertragreiche Ernten kommt mehr zurück. Mit entsprechenden Verlusten ins Grundwasser, dessen Qualität mit zunehmender Düngung stark abnimmt.

Weithin kann dem Grundwasser nicht mehr direkt Trinkwasser entnommen werden. Oder es eignet sich für lange Zeit überhaupt nicht mehr dafür. Bei der geringen Geschwindigkeit, mit der sich Grundwasserkörper erneuern, hält sich ihr gegenwärtig so stark belasteter Zustand noch viele Jahrzehnte. Für ein Ausmagern der Böden, zumal wenn es schwere, lehmhaltige sind, dürften sie Jahre bis Jahrzehnte gar nicht mehr gedüngt werden. Dieser Umstand macht die Umstellung der Betriebe auf Bioproduktion auch so schwer. Die Folgen der Überdüngung für die Tier- und Pflanzenwelt wurden von Umwelt- und Naturschutz zu spät erkannt, obgleich sie wissenschaftlich längst erforscht und klar bewiesen sind. Die Landwirtschaft wehrt sich dagegen, dies anzuerkennen und Gegenmaßnahmen einzuleiten. Neuen Wasserschutzgebieten wird ein ähnlicher Widerstand entgegengesetzt wie dem Bau von Autobahnen. Die Eutrophierung der Fluren verlief zwar ähnlich wie die der Flüsse und Seen, jedoch weit weniger öffentlich, weil sich die davon verursachten Veränderungen nur nach und nach zeigten. Konkret blieben sie unsichtbar, wie die Vergiftung der Umwelt mit dem Insektizid DDT in den 1960er Jahren.

 

 

Das Verschwinden der Maikäfer

 

DDT wurde auch in Deutschland angewandt. Gewiss nicht in dem Maße wie in tropischen und subtropischen Gebieten, aber doch auch zur Bekämpfung von Schadinsekten. Massenvermehrungen von Schmetterlingen, deren Raupen die Wälder schädigten, machten auch hierzulande Probleme. Als Insektenvernichtungsmittel kam DDT in unterschiedlichster Weise zum Einsatz. Doch war es auch verantwortlich für den Zusammenbruch der Maikäferbestände. Bis Ende der 1970er Jahre herrschte in Südostbayern wie überall in den wärmeren Regionen Mitteleuropas ein dreijähriger Maikäferzyklus, in den kühleren brauchten die Maikäfer ein Jahr länger, bis sie zum Massenflug um die Wende zum Mai oder in der ersten Maihälfte fertig waren. Der Schwärmflug setzte bei entsprechend warmem Frühlingswetter in den Abendstunden ein. Meist dauerte er nur zwei oder drei Abende. Die Käfer waren bereits im vorausgegangenen Herbst aus den Puppen geschlüpft, hatten aber in ihrer Erdhöhle den Winter und das Frühjahr zugebracht, bis die zunehmende Erwärmung des Bodens Ende April das Signal setzte. Diese Temperatursteuerung ermöglichte das gleichzeitige Ausfliegen.

Überall stiegen dann in unserem Garten und auf den angrenzenden Wiesen gegen Sonnenuntergang die großen braunen Käfer brummend auf und drehten Flugrunden, bis sie einen Baum oder ein Gehölz ansteuerten, das sich gegen ihren Horizont als Silhouette abhob. Bevorzugte Ziele waren Kastanien, deren Blätter sich gerade entwickelten. Aber auch Erlen und andere Bäume mit frischem Grün steuerten sie an. Und fraßen daran. In manchen Flugjahren war der Fraß so stark, dass die Bäume die erste Blattgeneration nahezu komplett verloren. War die Witterung im April anhaltend kühl, zögerte sie das Ausfliegen der Käfer hinaus, und das junge Laub der Bäume hatte sich bereits etwas weiter entwickelt. Die Maikäfer galten als Schädlinge. Bekämpft wurden sie auf eine in der Rückschau geradezu naiv anmutende Weise. Schulkinder wurden am Beginn des Unterrichts hinausgeschickt zu den Bäumen, um Maikäfer zu schütteln und einzusammeln. Verfüttert wurden die Käfer an die Hühner, die es im Dorf in großer Zahl und natürlich freilaufend gab. Die Eier schmeckten dann seltsam nussig. Und da der Schwärmflug nur an einigen wenigen Abenden stattfand, meinte man allgemein, diese Maikäferbekämpfung sei erfolgreich gewesen. Zwei Jahre lang gab es danach keine Maikäfer mehr oder höchstens vereinzelt welche, die ziellos umherflogen.

Im dritten Frühjahr kamen sie wieder. An ihren Mengen hatte sich nichts geändert. Es wiederholte sich die Übung von vor drei Jahren. Mit den gleichen Resultaten. Die Maikäferlarven, die Engerlinge, brauchen so lange, bis sie mit ihrer Entwicklung fertig sind. In einem oder in zwei Jahren schaffen sie das nicht. Die Ursache des dreijährigen Zyklus war der Landbevölkerung offenbar nicht bekannt. Der Maikäfer selbst aber war der bekannteste Käfer; der Käfer schlechthin. Seine Larven, vor der Verpuppung dicke fette cremeweiße Engerlinge mit brauner Kopfkapsel, vernichteten in den Gärten so manche Pflanze, weil sie deren Wurzeln abfraßen. Wirkungen zeigten sich auch bei den Gräsern, wenn größere Flächen braun wurden, ebenfalls durch Abfressen der Wurzeln. Doch als die Maikäferflüge so schlagartig endeten, dass nach dem letzten großen Flugjahr 1978 nur noch vereinzelt welche und dann ab Mitte der 1980er Jahre keine mehr kamen, irritierte dies doch. So selten werden oder gar aussterben hätten sie auch nicht sollen, die Maikäfer. Das Lied »Es gibt keine Maikäfer mehr« von Reinhard Mey machte die Runde. Veröffentlicht hatte er es schon 1974. Da zeichnete sich bereits weithin das Verschwinden der Maikäfer ab. Sie kamen nicht wieder. Die Feldmaikäfer Melolontha melolontha um genauer zu sein, denn der nahe verwandte Waldmaikäfer Melolontha hippocastani fliegt immer noch in seinem drei- oder vierjährigen Rhythmus, wo es ihn gibt. Seinen Lebensraum bilden aber nicht die offenen Fluren und Gärten, wie beim Feldmaikäfer, sondern lichte Laubwälder. Beide müssen daher klar auseinandergehalten werden. Reinhard Mey sang gegen die Parkhäuser, gegen das Wuchern der Städte mit ihren Veränderungen an, nicht ahnend, dass sein Lied in anderem, viel größerem Zusammenhang Bedeutung erlangen würde. Doch warum verschwanden die Feldmaikäfer? Warum zu jener Zeit und warum traf es den ansonsten so zum Verwechseln ähnlichen Waldmaikäfer nicht? Und was für ein Zusammenhang besteht zum Verschwinden der Schmetterlinge?

Die Maikäfer-Engerlinge ernähren sich von Wurzeln. Deshalb kann große Häufigkeit auch Schäden verursachen. Wurzeln als Nahrung sind aber nicht sonderlich ergiebig, die Entwicklung der Engerlinge dauert daher mehrere Jahre. Wurzeln sind auch nicht leicht zu verdauen. Deshalb brauchen die Engerlinge Mithelfer, symbiotische Spaltpilze, die aus der an Zucker und Zellulose reichhaltigen, aber ansonsten sehr dürftigen Nahrung Besseres machen. Dennoch reicht der Gehalt an Proteinen nicht, um die geschlüpften Käferweibchen in die Lage zu versetzen, Eier in der für erfolgreiche Fortpflanzung nötigen Menge zu entwickeln. Beim sogenannten Reifefraß an den jungen Blättern holen sie sich die restlichen Proteine. Er ist auch Voraussetzung für die Paarung der Maikäfer. Deshalb der Schwärmflug zur genau passenden Zeit, wenn ergiebiges frisches Grün vorhanden ist. Diese Voraussetzungen für eine Maikäferbrut unterstreichen die Zwänge, die sich aus erfolgreichen Anpassungen ergeben. Erfolg schränkt die Freiheiten ein. Ähnlichkeiten zu den Gespinstmotten sind offensichtlich.

Aber es geht noch um einen weiteren, dort nicht erkennbaren oder gar nicht vorhandenen Effekt, um die Symbiose mit Mikroben, die an der Verwertung der Nahrung mitwirken. Wird sie beeinträchtigt, bricht das komplexe Beziehungsgefüge zusammen. Nun gibt es aber Hinweise, die genau dies zumindest stark vermuten lassen. In der Landwirtschaft waren damals neue Wurzelschutzchemikalien gegen Pilzbefall eingeführt worden. Fungizide haben eine besonders große Bedeutung im Pflanzenschutz, weil Pilzerkrankungen oft viel größere Ausfälle und Ertragsverluste verursachen als alle anderen Schädlinge. Gleichzeitig fand der Umbruch der Wiesen zu Ackerland in den 1970er Jahren statt. Und es kam zum verstärkten Einsatz von Dünger, speziell von Gülle, mit der seither die Fluren kurzzeitig massiv überschwemmt werden. Nicht aber die Wälder, schon gar nicht die lichten Laubwälder. Sie sind weder von Wurzelschutzchemikalien noch von den Fluten der Gülle betroffen. Und es kam auch zu keinen größeren Flächenverlusten. Lichte Wälder auf eher mageren Böden wachsen zudem nicht so dicht und üppig wie dicht geschlossene Forste in niederschlagsreichen Regionen mit entsprechend starker Düngung aus der Luft.

Die Unterschiede in den Reaktionen beider Maikäferarten lassen sich damit verständlich machen. Der Zusammenbruch der Feldmaikäfer passt in die Phase des Übergangs in die Überdüngung. Diese macht zudem die Böden kälter. Das Schwärmen kann dadurch aus dem Rhythmus kommen. Weil das Wärme-Signal nicht mehr gleichzeitig auf großer Fläche wirkt. Spekulationen? Ja gewiss, aber begründete. Das ergibt sich aus einer gleichlaufenden Entwicklung bei Schmetterlingen. Insbesondere sogenannte Wurzeleulen, wie die große Apamea monoglypha, die auch »Wurzelfresser« genannte Große Grasbüscheleule, deren Raupen gelegentlich an Getreidewurzeln schädlich geworden sein sollen, wie im »Koch« vermerkt ist, brachen in ihren Häufigkeiten im Lichtanflug am Ortsrand parallel zu den Feldmaikäfern ein. In der Stadt und in größeren Orten hingegen blieb der Wurzelfresser in üblichen Häufigkeiten vorhanden. Auch die Feldmaikäfer überlebten bisher im Siedlungsbereich. Hier verursachen sie keine Schäden. Vielleicht deutet sich sogar die Tendenz zu einer Erholung ab. So ließen sich die Befunde vom (sehr warmen) Mai 2018 deuten. Doch das wäre verfrüht. Die kommenden Jahrzehnte erst werden zeigen, ob die Maikäfer zurückkommen oder ob erkennbare Häufungen wie 2018 nur der Gunst der Witterung zuzuschreiben sind und ohne Nachwirkungen bleiben.

 

 

Wendezeit für die Landwirte – die 1970er Jahre

 

Zurück in die Endzeit der großen Maikäferflüge: Etwa ein Jahrzehnt lang hatten die Fluren noch Puffer in Form der Defizite, die sich über die Jahrhunderte in den Böden aufgebaut hatten. Doch viel hilft viel, war das Motto der Düngung. Praktiziert wurde sie nicht nur auf den Feldern, die für den hohen Bedarf und die Massenproduktion angelegt und von der Flurbereinigung vereinheitlicht worden waren, sondern durchaus auch privat in den Gärten. Nitrophoska, der Stickstoff-(Nitro-)Phosphor-Kalium-Dünger, der diese Hauptbedarfsstoffe für das Pflanzenwachstum in darauf abgestimmtem Verhältnis enthielt, war das Wundermittel, das alles sprießen und, wie es umgangssprachlich heißt, ins Kraut schießen lässt.

Die Ernteerträge stiegen. Rasch überstieg die Produktion den Bedarf. Getreideberge, in der Tierhaltung Butterberge, Milchseen und Schweinefleischberge charakterisierten den Wechsel zur Überschussproduktion, die teuer verwaltet und verschachert werden musste, um zu verhindern, dass die Preise verfielen. Ein Teufelskreis war in Gang gesetzt: Durch Konzentration der Betriebe auf wenige, zunehmend nur eine Feldfrucht und Vergrößerung der Produktionseinheiten wurden die Kosten gesenkt, aber gleichzeitig die Konkurrenz untereinander umso mehr verstärkt. Die Überschüsse ließen sich nicht auf den Bedarf abstimmen. Die Folge war das Bauernsterben. Immer mehr Landwirte mussten aufgeben, weil ihre Flächen zu klein waren, um dem Konkurrenzdruck standzuhalten und die enormen Kosten für die Maschinen und die Monokulturen zu tragen. In nur 30 Jahren bis zur Jahrtausendwende waren an die 90 Prozent der Bauern wegselektiert. Die restlichen 10 Prozent überlebten als Unternehmer, weil sie flächenbezogene Subventionen vom Staat bzw. vom EU-Agrarhaushalt erhalten. Das ist staatlich gelenkte Planwirtschaft. Im Prinzip hat die Gesellschaft den Landwirten bereits mehrfach ihr Land abgekauft.

Und was ist mit den Giften? Diese Frage wird man gewiss mit wachsender Ungeduld einwerfen. Denn es kann ja wohl nicht sein, dass die großen Verluste an Schmetterlingen und anderen Insekten allein der Überdüngung zuzuschreiben sind. Diese kritische Zwischenfrage ist berechtigt, gleichwohl schwer zu beantworten, weil hierzu viel zu wenig geforscht und geprüft wird. Meist muss aus Vergleichen geschlossen werden. So betrifft der Rückgang der Schmetterlinge, wie bereits ausführlich dargelegt, sehr stark den Ortsrandbereich, nicht aber die randfernen Zonen. Dieser Befund lässt sich nur so verstehen, dass die Spritzmittel mit ihren Giften über die Zielflächen hinaus wirken. Die Anflughäufigkeiten nachtaktiver Schmetterlinge am Ortsrand gingen besonders stark im Juni zurück, nämlich um 89 Prozent verglichen mit den 1970er Jahren, als noch gänzlich ungespritzte Wiesen angrenzten. Im Juli und August sanken die Häufigkeiten nicht so stark. Insgesamt kam ein Rückgang um 75 Prozent zustande. In weit genug vom Ortsrand entfernten, größeren Gärten und in der Großstadt gab es hingegen keine Häufigkeitsabnahmen, und auch ihr Artenreichtum blieb unverändert.

In Stadt und Gärten sind heute zwar auch solche Arten von Schmetterlingen vertreten, die früher auf den Fluren lebten. Wäre dem nicht so, würden die Roten Listen der gefährdeten Arten um Hunderte Schmetterlingsarten länger sein. Aber selbstverständlich kommen sie im Siedlungsbereich nicht in solch großer Menge wie damals vor, als der Hauptzuflug von der Flur her kam, weil die innerörtlichen Flächen dafür schlicht zu klein sind. Eine Giftwirkung über die damit behandelten Flurstücke hinaus ist daher sehr wahrscheinlich. Es sollte also nicht allein überprüft werden, wie viel von den in der Landwirtschaft eingesetzten Pflanzenschutzmitteln ins Grundwasser gerät, sondern auch, was auf angrenzende, nicht gespritzte Flächen und in die Bäche gerät und welche Mengen in die Ortschaften getragen werden. Der bezeichnende Gestank verrät oft genug, dass dies der Fall ist.

 

 

Die Krefeld-Studie

 

Wie sehr die Naturschutzgebiete betroffen sind, hat die Krefeld-Studie aufgezeigt. In der zweiten Jahreshälfte von 2017 wurde sie in noch nie da gewesener Intensität in der Öffentlichkeit diskutiert. Sogar in die Koalitionsvereinbarungen der sich neu formierenden Bundesregierung fanden die Befunde Eingang. Das Bewusstsein, dass es so nicht weitergehen darf, steigt: Um über 70 Prozent hat die Insektenhäufigkeit seit den 1990er Jahren abgenommen, obgleich die Erfassungsstellen in Naturschutzgebieten und auf nicht landwirtschaftlich genutztem Gelände lagen. Dieser Rückgang kann nur über die kombinierte Wirkung von Düngung und Giften verstanden werden. Die Düngung, die vor allem auf dem Eintrag aus der Luft beruht, verstärkte das Pflanzenwachstum und verursachte als Haupteffekt kältere und feuchtere Lebensbedingungen im bodennahen Bereich. Das drängte die Arten zurück, die Wärme und Sonne benötigen. Andere, die mit erhöhter Wüchsigkeit der Pflanzen zurechtkommen und deshalb eigentlich häufiger geworden sein sollten, glichen die Verluste nicht aus. In der Krefeld-Studie ging es um die Masse der Insekten, genauer um ihre Biomasse, das Lebendgewicht. Dieses, nicht ihre bloße Anzahl, hat um fast drei Viertel abgenommen.

Besser gedüngte Biotope hätten mehr Insekten erzeugen sollen, also deren Masse in den Fangmengen ansteigen lassen müssen, weil die geschützten Gebiete, in denen die Untersuchungen durchgeführt wurden, nicht landwirtschaftlich genutzt wurden. Doch die Mengen gingen trotz starker Schwankungen von Jahr zu Jahr und Unterschieden zwischen den einzelnen Fallenstandorten auf rund ein Viertel zu Beginn der 1990er Jahre zurück. Da es sich bei den Standorten der Malaise-Fallen um ziemlich offenes Gelände handelte, waren die davon erfassten Insekten auch weitgehend diesem Typ von Lebensräumen zuzuordnen. Arten dichter Wälder können mit derartigen Reusen-Fallen, wie es die Malaise-Fallen sind, nicht so gut erfasst werden. Sie sind im Prinzip wie Fischfangreusen gebaut. Anfliegende Insekten geraten in ein weit offen stehendes »Tor« und werden in der sich verengenden Anlage aus feinem, festem Netzwerk immer weiter nach hinten geleitet, bis sie am hintersten obersten Ende in die eigentliche Fangstelle geraten, einen mit Konservierungsflüssigkeit gefüllten Behälter. Die Insekten werden von Zeit zu Zeit entnommen, nach Arten oder Gruppen bestimmt und – im Fall der Krefeld-Studie – genau gewogen und damit ihr Gesamtgewicht, ihre Biomasse, festgestellt.

Die Mitwirkung von Giften aus verwehten Pflanzenschutzmitteln, die in der Umgebung eingesetzt wurden, wird somit sehr wahrscheinlich. Aufschlussreich wäre, zu erfahren, ob und wie sich die Zusammensetzung des Artenspektrums der von den Malaise-Fallen erfassten Insekten in diesem Vierteljahrhundert geändert hat.

Die Befunde der Umgebung von Krefeld stimmen weitestgehend mit den Ergebnissen meiner Untersuchungen im gut 500 Kilometer entfernten Südostbayern überein. Zeitlich decken sie den Zwischenbereich der zweiten Hälfte der 1990er Jahre bis 2013 ab, in dem meine Erfassungen auf München konzentriert waren. Ökologisch ergänzen sie die Krefelder Befunde für Naturschutzgebiete im direkt landwirtschaftlich genutzten Offenland. Bezüglich ihrer Ergebnisse liegen sie daher etwa in der Mitte zwischen dem extrem starken Rückgang der Insekten in der intensiv genutzten Agrarlandschaft und dem moderaten Schwund in Wäldern. Fügt man den Siedlungsbereich an, kommt eine ziemlich komplette Serie mit Absturz zur Flur hin zustande: Weitgehend stabile Bestände in der Großstadt, geringere Häufigkeiten in kleineren Orten, starke Verluste außerhalb, auch in Schutzgebieten, und nur noch minimale Restbestände an Insekten in der intensiv konventionell genutzten Agrarlandschaft. So bizarr es auch wirken mag: Nicht die Großstadt ist das Ende der Natur, sondern das Maisfeld.

 

 

Subventionssystem ohne Ausstiegsmöglichkeit

 

Doch warum eigentlich sollte dies verwundern? Auf den landwirtschaftlichen Nutzflächen wachsen Mais, Raps, Weizen oder was auch immer und sonst nichts. Pflanzen, die seit jeher ins Ackerland hineindrängten, waren Unkräuter. Sie wurden mit der Hacke, mit Maschinen und schließlich mit Gift bekämpft. Tiere, die von den Nutzpflanzen leben (können), sind Schädlinge. Auch sie werden mit Gift bekämpft und auszurotten versucht. Verbleiben diesen Arten, die einst die Fülle des Tier- und Pflanzenlebens auf den Fluren ausgemacht haben, keine Raine, Wegränder und andere Restflächen mehr, verschwinden sie. Das ist alles ganz logisch. Niemand muss verwundert reagieren, schon gar nicht die Landwirtschaft, denn Erträge zu maximieren war und ist ihr Ziel. Mit ihrer finanziellen Förderung hat die Gesellschaft diese Entwicklung sanktioniert. Wer bereit ist, Geld auszugeben, damit Gift und Gülle in Massen eingesetzt werden können, wird zwangsläufig mit diesem Ergebnis konfrontiert.

Die Planwirtschaft im Agrarbereich verschlingt Milliarden um Milliarden an öffentlichen, gewiss anderweitig besser eingesetzten Mitteln. Wiederum muss ich betonen, dass dies überhaupt keine neuen oder gar neuartigen Erkenntnisse sind. Die Politik weiß seit den 1970er Jahren Bescheid. Zu Lösungen kam sie nicht. Die Flickschusterei wechselnder Förderungen mit all ihren Fehlschlägen und Folgekosten wird auf die Steuerzahler abgewälzt. Das gelingt, weil diese ihre Steuerlast den einzelnen staatlichen Ausgaben nicht zuordnen können. Alles geht zunächst in einen Topf. Daraus wird verteilt. Die Öffentlichkeit bekommt billige Nahrungsmittel, obgleich diese tatsächlich wesentlich mit Steuergeld vorfinanziert sind. Ein Drittel davon landet im Abfall. Sie sind also viel zu billig! Für Trinkwasser bezahlen wir doppelt, weil dessen kostspielig zu beseitigende Verunreinigung vorher subventioniert wurde. Das System hat Züge von Parasitismus angenommen. Die davon Betroffenen bemerken zu wenig, weil ihnen das wirkliche Geschehen ungemein geschickt verschleiert wird.

Es war für die Verursacher ein besonderer Glücksfall, dass der Klimawandel entdeckt und als vermeintliche Ursache aller Änderungen entlarvt worden ist. Seither gibt es keine Schuldigen mehr, weil alles dem Klima oder, wenn die Veränderung wirklich nichts mit dem Wetter zu tun hat, dem globalen Wandel zugeschoben wird. Climate Change & Global Change sind die beiden Zauberworte, die verdecken, was nicht ruchbar werden soll. Ausgerechnet die großen Naturschutzorganisationen bedienen sich am umfassendsten dieses Mittels, um das Geschehen in der Natur zu erklären. Nach den wirklichen Ursachen und ihren Verursachern wird kaum noch gefragt. So ein Vorgehen ist billig, gleichwohl nicht zu billigen. Noch weniger akzeptabel ist, wenn in althergebrachter Weise gegen die Feinde von früher weitergekämpft wird, auch wenn das nichts bringt. Das Ausweichen auf den Klimawandel mindert die Verpflichtung, Gründe und Wirksamkeit der (geforderten) Maßnahmen hier und jetzt zu beweisen. Erhoffte Ergebnisse liegen in zu ferner Zukunft. Ob der Klimawandel unsere Schmetterlinge begünstigen oder viele von ihnen vernichten wird, kann auch das beste Modell nicht vorhersagen, weil seine Ergebnisse davon abhängen, welche Annahmen hineingesteckt werden.

 

 

Naturschutz und Naturfreunde

 

Was hier und jetzt geschieht, bedarf keiner Modelle. Die Auswirkungen sind klar und allgemein sichtbar. Doch lieber führen die Naturschutzverbände Stellvertreterkriege gegen »fremde Arten« und streiten mit ihren klassischen Feinden, Straßenbau etwa, über das Landschaftsbild verändernde Baumaßnahmen, als dass sie ihre Kraft und ihr politisches Gewicht gegen die Hauptverursacher des Artensterbens richten würden, die industrialisierte Landwirtschaft. Die Naturschutzgesetze richten sich ohnehin nicht gegen die Verursacher. Sie treffen, so paradox es klingt, nahezu ausschließlich die Naturfreunde, denen nahezu alles verboten ist. Fast wollte man meinen, dass sie die Hauptverursacher der Artenverluste sein müssten. Bei unvoreingenommener Analyse der Schutzbestimmungen muss der Eindruck entstehen, dass die Naturfreunde, die unmittelbar an Tieren und Pflanzen Interessierten, von der Natur ferngehalten werden sollen. Damit sie kein Unheil darin anrichten. Doch in den Jahrzehnten, in denen das deutsche Naturschutzgesetz schon gilt und von EU-Verordnungen erweitert und ergänzt worden ist, wurden die geschützten Schmetterlinge nicht häufiger, aber die »Roten Listen der gefährdeten Arten« länger. Weil die Schutzbestimmungen den benötigten Schutz nicht bewirken. Es sind eben nicht so viele so böse Naturfreunde hinter Schmetterlingen her, dass ihre Bestände abnehmen.

Der staatliche Naturschutz ist den Nachweis schuldig geblieben, dass Artengefährdungen von den Menschen ausgehen, die sich für Schmetterlinge und andere Insekten interessieren, die Sammler mit eingeschlossen. Doch anders als Vögel, die sich ohnehin auf Distanz durchs Fernglas besser beobachten lassen, weil sie durch die intensiven Nachstellungen, denen sie ausgesetzt waren und vielfach immer noch sind, sehr scheu wurden, muss man Insekten zum Kennenlernen und genaueren Studieren fangen. Sonst bleibt es bei vagen Zuteilungen wie »Biene«. Um welche der Hunderte Arten von Wildbienen, die es bei uns gibt, es sich handelt, verrät auch kein Blick durch ein Nahsicht-Fernglas. (Ein solches, das auf knapp einen Meter Entfernung scharf gestellt werden kann, benutzte ich vielfach zu Schmetterlingsbeobachtungen. Voraussetzung ist aber, dass ich die betreffenden Arten bereits sicher genug kenne!) Gefahr durch Sammler wird einfach angenommen. Das ist nicht zuletzt deswegen reichlich verkehrt, weil es die Sammler und ihre Sammlungen (gewesen) sind, die über Vorkommen und Häufigkeit der Schmetterlinge informieren; auch und gerade über die Verhältnisse in früheren Zeiten bis weit ins 19. Jahrhundert zurück. Ohne die Privatsammlungen gäbe es die großen Sammlungen in den Museen nicht. Die Naturschutzbehörden hätten keine Basis für die Einstufung der Arten in »Rote Listen«. Doch ausgerechnet gegen die Sammler hat man die Gesetze und Verordnungen so ausformuliert, so dass sie die davon letztlich allein Betroffenen geworden sind.

Wer Wildbienen und ihre Vorkommen erforschen will und diese zur genauen Artbestimmung kurz fangen muss, benötigt eine naturschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung, weil alle Wildbienen geschützt sind. Nicht einmal durch unsachgemäße Anwendung von Giften in der Landwirtschaft getötete Insekten darf man ohne vorherige Ausnahmegenehmigung mitnehmen, so es sich um »geschützte Arten« handelt, um diese auf die abbekommenen Giftmengen untersuchen zu lassen. Ackern die Landwirte entlang der Flurstraßen ganze Kolonien solcher Wildbienen weg, obwohl dies öffentlicher Grund und nicht ihr eigener ist, oder tätigen Wasserwirtschaftsämter Baumaßnahmen an Dämmen, bei denen Zigtausende von Nestern der Wildbienen vernichtet werden, hat dies keine Konsequenzen. Solche Eingriffe liegen außerhalb des Wirkungsbereichs der Artenschutzverordnungen. Unbedeutende Einzelfälle sind dies gewiss nicht. Beispiele kann jeder, der entsprechend aufmerksam draußen unterwegs ist, in hoher Zahl feststellen. So vernichtete der Ausbau der Dämme entlang des Inns zum internationalen Fernradweg riesige Kolonien von Sand- und Erdbienen, ohne dass der Naturschutz einschritt. Viele seltene Käfer und Schmetterlinge waren ebenfalls betroffen. Die Wildbienenverluste gingen in die Hunderttausende, wenn nicht in die Millionen. Hummeln und Schmetterlinge fallen seither Jahr für Jahr den Pflegemaßnahmen zum Opfer, weil anscheinend blühende Blumen an den Dämmen die Sicherheit der Radfahrer beeinträchtigen könnten.

 

 

Damm, total gemäht. Nichts ist den Schmetterlingen geblieben, denen die Dammpflege angeblich nützen soll. Hummeln fliegen an den Dämmen am Inn nur noch in weniger als einem Zehntel der Häufigkeit der 1970er Jahre, als noch keine »Pflegemaßnahmen« durchgeführt wurden