Das Verschwinden der Schmetterlinge und seine Folgen

 

Seit Jahrzehnten nehmen die Schmetterlinge ab. Auf den Fluren, die mehr als die Hälfte unseres Landes einnehmen, macht ihre gegenwärtige Häufigkeit vielleicht ein Fünftel der früheren aus, die vor dem großen Wandel in der Landwirtschaft vorhanden war. Meine Befunde aus Südostbayern stimmen mit vielen anderen überein, die Rückgänge feststellten. Am stärksten betroffen sind die Regionen mit großflächiger Intensivlandwirtschaft. Darin liegen die Stickstoff-Überschüsse in der Jahresbilanz nach wie vor um die 100 Kilogramm Reinstickstoff pro Hektar oder darüber. Aber das ganze Land, ganz Mitteleuropa, ist überdüngt, weil auf dem Luftweg Mengen an Nährstoffen eingetragen werden, die früherer Vollwertdüngung entsprechen. Nur sehr durchlässige, sandige Böden unterliegen nicht so stark dieser Nährstoffanreicherung. Am wenigsten wirkt sie an Oberflächen, wo Teerdecken und Beton die düngenden Niederschläge ablaufen lassen. Sie geraten dann allerdings über die Kanalisation in die Klärwerke, bei sehr durchlässigen Böden auch ins Grundwasser. Wälder halten am meisten zurück und können einen Großteil der Düngung aus der Luft direkt verwerten. In Seen, zumal in flachen, die sich im Sommer stark aufwärmen, begünstigt die Nährstoffzufuhr sogenannte Algenblüten.

Die Überdüngung ist also ein allgemeines, allerdings vom extremen Ausmaß an Gülle- und Kunstdüngereinsatz in der Landwirtschaft gewaltig verschärftes Problem. Ihre Signatur in Sedimenten und anderen Rückständen wird in ferner Zukunft unsere Zeit charakterisieren, wie die Einschläge großer Meteoriten, die global ihre Spuren hinterlassen. Seit Jahrzehnten machen Ökologen darauf aufmerksam. Die Ökologische Gesellschaft von Amerika publizierte 1997 eine Spezialbroschüre zur Veränderung des globalen Stickstoffkreislaufs durch die Menschen, die Ursachen und die Folgen. Eine der Hauptfolgen bezahlen wir bereits sehr teuer, die Bereitstellung von qualitativ einwandfreiem Trinkwasser. Über die zweite große Auswirkung der industrialisierten Landwirtschaft, die Vergiftung von Böden und Rückständen der Gifte in Nahrungsmitteln wird gegenwärtig heftig diskutiert; wieder einmal. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die betreffenden, in mehr oder weniger geringen Mengen nachweisbaren Stoffe Krebs erregend sind. Oder anderweitig gesundheitsschädlich, wie das DDT. Dieses wurde schließlich nach heftigsten Auseinandersetzungen weitgehend verboten. Auch weil seine Nebenwirkungen viele Tierarten trafen, die nicht Ziel der Anwendung gewesen waren. Die amerikanische Meeresbiologin und Umweltaktivistin Rachel Carson hatte 1962 mit ihrem Buch »Der stumme Frühling« den Blick auf derartige Kollateralschäden gelenkt, die anfänglich ganz unbeachtet geblieben waren und verdrängt wurden, bis das nicht mehr ging. Zum »stummen Frühling« ohne Vogelgesang sollte es nicht kommen. Das war die einhellige Meinung der Natur- und Umweltschützer. Sie setzten sich durch. Die Schlacht schien gewonnen.

DDT wurde verbannt, jedoch nicht ganz aufgegeben. In den Tropen kam es weiter zum Einsatz. In Nordamerika und Europa folgten auf die dauerhaft giftigen, die persistenten Insektizide, die (rascher) abbaubaren und zielgenauer wirkenden Pestizide und Herbizide. Auch sie erwiesen sich wiederum nicht als die erhofften Wundermittel. Eines nach dem anderen musste verboten werden. Bis heute geht das so. Durch die Fixierung auf die Gifte geriet die Überdüngung aus dem Fokus. Die Folgen mechanischer Eingriffe, der Pflegemaßnahmen, wurden weitgehend übersehen. Dabei trafen diese die Schmetterlinge und andere Insekten gerade dort, wo die zumeist randlichen Flächen keiner direkten landwirtschaftlichen Bearbeitung unterliegen. Eigentlich sollten sie Schutz- und Erholungsgebiete für die Tier- und Pflanzenarten des Offenlandes sein. Erst als es auch in Schutzgebieten zu jenen starken Rückgängen der Insektenhäufigkeit kam, mit denen die Krefeld-Studie im zweiten Halbjahr 2017 Schlagzeilen machte, erinnerte man sich auch in Naturschützerkreisen an die Randstreifen und kommunalen Flächen. Längst sind die Verfahren zu deren Bearbeitung festgefahren, denn das, was Routine geworden ist, lässt sich schwer ändern.

Der Rückgang der Insekten provozierte vielfach Gegenfragen: Wozu brauchen wir denn die doch zumeist lästigen Krabbeltiere, speziell die Schmetterlinge? Dass Bienen nützlich und notwendig sind, weiß man ja. Aber Insekten?! Genug Schmetterlinge fliegen in den Gärten umher. Die meisten sind Motten und wie viele Insekten somit Ungeziefer. Man sollte froh sein, weniger von Stechmücken geplagt zu werden. Oder von Wespen. Und anderem, was einfach lästig wird oder sticht. Einzig das Bienensterben irritiert auch in der Landwirtschaft, weil Raps und Obstbäume von ihrer Bestäubung abhängig sind. Technische Minidrohnen als Ersatz gibt es zwar bereits in Prototypen. Serienreif sind sie noch nicht. Also muss man wohl zur Überbrückung doch noch Bienen in den nötigen Mengen erhalten. Fliegen aber gewiss nicht. Früher plagten sie das Vieh in den Ställen und draußen auf der Weide. Mit der Schwemmentmistung zur Gülle hat man ihnen den Mist als Entwicklungsraum für ihre Maden genommen. In modernen Viehställen haben Fliegen nichts mehr zu suchen. Aus Hygienegründen.

Ansonsten schadet eigentlich doch das ganze Insektenzeugs, das es früher auf den Feldern und Wiesen gab, den Nutzpflanzen. Gräser brauchen keine Insekten zur Bestäubung. Das erledigt bei ihnen der Wind. Selbst der wird nicht benötigt, denn zum Blühen sollen die meisten Gräser auf den Fettwiesen gar nicht kommen. Sie werden vorher gemäht; mehrfach im Jahr. Halmfliegen oder Halmwespen am Getreide bekämpft man, um Schäden zu vermeiden, wie auch viele Käfer, Wanzen und natürlich die Blattläuse. Ein Rückgang der Insektenhäufigkeit um 96 Prozent, wie er sich im Lichtanflug von der Flur her darstellt, ist doch genau das, was im Sinne der Landwirtschaft erreicht werden sollte. Und dass in nordwestdeutschen Naturschutzgebieten ein Schwund von 70 bis 80 Prozent seit den 1990er Jahren ermittelt wurde, braucht kein Grund zur Panik sein.

Die meisten Insektenarten fallen in die Kategorie der Schädlinge. Viele Schmetterlinge auch. Kohlweißlinge gibt es in den Gärten zu viele; immer noch. Das zeigt sich deutlich genug an den Fraßschäden am Kohl und anderen Gewächsen. Apfelwickler und Frostspanner gehören zu den echten Schädlingen im Garten- und Obstbau. Also prima, dass sie seltener geworden sind. Massenvermehrungen von Gespinstmotten müsste es auch nicht geben; von Eichen- oder Kiefernspinnern schon gar nicht, deren Raupen Haare tragen, die heftige allergische Reaktionen auslösen können. So etwa lassen sich die Entgegnungen zusammenfassen, mit denen ich bei Vorträgen und Diskussionen zum Insektensterben konfrontiert werde.

Machen wir uns also keine Illusionen. Es steht nicht allzu gut um die Insekten in der öffentlichen Meinung. Dass sie interessant sind und dass es insbesondere unter den Schmetterlingen wunderschöne Arten gibt, die zudem ganz harmlos sind, reicht für ihre generelle Verteidigung kaum. Die große Mehrheit betrachtet alles vom Standpunkt der Nützlichkeit. Schmetterlinge sollten daher wenigstens einen »wichtigen Beitrag« zur Bestäubung der Blüten von Nutzpflanzen leisten, um ihr Dasein zu rechtfertigen. Die wenigsten tun das. Sie entstanden nicht, um etwas für Menschen zu tun. Sie leben ihr Leben und nutzen die Möglichkeiten dazu, die vorhanden sind. Ob dies, wie in einigen wenigen Fällen für uns tatsächlich »nützlich« ist, stellt eine Wertung dar, keine Naturgegebenheit. Auch keine Vorgabe der Natur. Auch deren Personifizierung entspringt dem Denken der Menschen. »Die Natur« gibt es nicht. Wir müssen uns gedanklich einen Naturhaushalt konstruieren, wenn wir diesen verändern möchten. Vorgefertigt existiert ein solcher nicht. Die Naturprozesse laufen ab, wie sie laufen, und nicht, weil sie dies so sollen. Es gibt keine übergeordnete Instanz. Zu einer solchen möchten sich manche Menschen aber allzu gern aufschwingen. Westliches Denken gibt dieser Überheblichkeit Vorschub. Dies sollten wir bedenken, wenn wir Fragen nach der Notwendigkeit von Lebewesen, wie Schmetterlingen, stellen oder Antworten darauf zu geben versuchen, wie wir die Lebensvielfalt für die Zukunft sichern.

Wie können Antworten lauten? Eine gängige lässt sich recht klar formulieren: Schmetterlinge und andere Insekten sind von Bedeutung, weil Vögel von ihnen leben. Wie sehr diese Feststellung tatsächlich zutrifft, beweist der parallele Rückgang der Feldvogelarten. In der Europäischen Union haben ihre Bestände seit den 1990er Jahren um über die Hälfte abgenommen. In Deutschland macht der Schwund in den intensiv agrarisch genutzten Gebieten über 90 Prozent aus. Es gibt kaum noch Lerchen über den Feldern, Goldammern an ihren Rändern, Rebhühner und Wachteln und andere Arten auf den Fluren. Besonders stark betroffen sind die Wiesenvögel, weil das Grünland viel zu schnell und zu oft gemäht wird. Im Niedergang der Feldvögel wurde längst wahr, wovor Rachel Carson mit dem »Stummen Frühling« gewarnt hatte. Über allen Fluren ist Ruh, müsste es nun heißen.

Wer das Vogelkonzert im Frühling hören möchte, geht am besten in einen Stadtpark oder Stadtfriedhof. Denn auch in den Forsten schwinden die Vogelstimmen, und die einst so vielfältigen Lieder werden eintöniger. Raupen und andere Insekten sind Vogelnahrung. Nehmen diese ab, sinken zwangsläufig die Vogelbestände. Dass sie sich in den Großstädten allen darin zweifellos vorhandenen Belastungen zum Trotz auf hohem Niveau halten, spricht weniger für die Qualität der Städte, als dass es ausdrückt, wie miserabel die Lebensbedingungen auf den Fluren geworden sind. Am Beispiel der Lerchen lässt sich erläutern, wie paradox die Verhältnisse sein können. Die beste Möglichkeit, sie in Südbayern zu sehen, wenn sie im Singflug aufsteigen, bietet der Münchner Flughafen. An kaum einem anderen Ort vergleichbarer Flächengröße gibt es weit und breit so viele Feldlerchen wie dort. Nur zu hören ist ihr Gesang nicht sonderlich gut.

So weit, so unbefriedigend, was die Argumentation betrifft. Denn natürlich stellen manche die Anschlussfrage, wozu wir denn Lerchen und andere Vögel brauchen? Schwalben zum Beispiel, die extrem stark abgenommen haben. Wenn zu wenige Insekten fliegen, müssen diese nicht von Vögeln genutzt werden, um sie in Schach zu halten. Und es werden rund ums Mittelmeer weniger Zugvögel gefangen, wenn immer weniger durchkommen. Der Niedergang der Zugvögel wird vielleicht den scheußlichen Singvogelfang beenden. Eine Logik dieser Art ist unanfechtbar, wenn an ihrem Anfang die Nützlichkeitsfrage steht. Und sie trifft uns ins Mark, uns alle, die wir im Garten gezielt etwas anpflanzen und wachsen lassen, das wir nutzen wollen; sei es Gemüse oder Blumen. Auch wenn sich die Haltung da und dort zu ändern beginnt, müssen wir zugeben, dass die Gärten nicht für Insekten und Vögel angelegt wurden, sondern aus den persönlichen Bedürfnissen und Vorstellungen heraus. Es erfordert Überwindung, mitunter auch Überredungskunst oder die Bereitschaft, sich mit Nachbarn darüber zu streiten, im Garten wachsen zu lassen, was kommt und für die Insekten gut wäre. Gärten dürfen nicht verwildern, das ist nach wie vor eine weithin gültige Ansicht. Wahrscheinlich deshalb kamen kaum Reaktionen oder gar formierte Widerstände gegen die Pflegemaßnahmen an Böschungen, Straßenränderung oder auf öffentlichen Freiflächen zustande, auch wenn diese nicht zu Erholungszwecken genutzt werden und deswegen kurz geschorene Freiflächen gewünscht werden.

Das Nützlichkeitsdenken durchzieht alle Lebensbereiche. Es muss gezielt relativiert, besser noch ganz außer Kraft gesetzt werden, wenn sich wenigstens in gewissen Bereichen »die Natur« selbst entfalten können soll. Diese Leistung nennen wir dann »Kultur«. Sie lassen wir uns nicht nur etwas kosten, sondern sogar beträchtlich viel. Mit der Teilnahme am kulturellen Leben und seiner Förderung zeichnen wir uns selbst als kultiviert aus. Denn Kultur ist etwas, das über das rein Nützliche und Notwendige hinausgeht. Hubert Markl, der frühere Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und auch der Max-Planck-Gesellschaft, hielt daher Natur für eine Kulturaufgabe.

In dieser Sicht liegt die entscheidende Antwort auf die nicht selten bösartig gemeinte Frage, wozu wir Schmetterlinge brauchen. Wer ernsthaft so fragt, rechtfertigt die noch provokantere Rückfrage: Wozu brauchen wir eine Landwirtschaft, die so hochgradig industrialisiert ist? Längst geht es bei dieser gar nicht mehr um die partnerschaftliche Erzeugung der benötigten Lebensmittel in der gewünschten Qualität. Den Beweis für diese harte Feststellung liefert die Tatsache, dass doppelt so viele Bioprodukte in Deutschland gekauft wie im Land selbst produziert werden. Der Bedarf ist also gegeben. Doch von der Eigenproduktion wird er nur zur Hälfte gedeckt. Die deutsche Landwirtschaft produziert massiv für den Weltmarkt. In den vergangenen Jahrzehnten herrschte permanent Überproduktion. Zur Minderung der Überschüsse ist der Bevölkerung die Beimischung von Biodiesel aufgezwungen worden. Die Produktionsmengen waren am maximalen Ertrag ausgerichtet, nicht am Bedarf der Bevölkerung, die die Subventionen bezahlte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde sogar Getreide als Biomasse verbrannt, weil die produzierten Mengen viel zu groß geworden waren, der Preis für Brotgetreide sank und daher mehr Erlös erzielt wurde, wenn es als Brennstoff verkauft wurde. Die ehedem vielfältige, auf den örtlichen Bedarf ausgerichtete bäuerliche Landwirtschaft fiel der Konkurrenz der industrialisierten Großbetriebe total zum Opfer. Ob dies sozial war, darf zu Recht bezweifelt werden. Subventionen sollten aber genau dies sein.

Wir können den Blick auch weiten. Brauchen wir Künstler, Konzerte, Denkmalschutz oder auch Wissenschaft, wenn es doch nur um die Nützlichkeit geht? In einer rein auf Profit ausgerichteten Welt sind sie Luxus und verzichtbar, wie die Lieder der Vögel und der Glanz auf den Flügeln der Schmetterlinge. Oder die Gedichte, die Schmetterlingsfreunde wie Hermann Hesse verfasst haben. Auch sie, die Literaten, die Lesegenuss und Anregung, Entspannung oder schöpferische Spannung vermitteln, braucht die profitorientierte Wirtschaft nicht. Gegen solche Haltungen müssen wir uns wehren; wir alle. Die Profiteure dürfen uns nicht vorschreiben, was es an Tieren und Pflanzen noch geben darf und an welchen Lebewesen wir uns zu erfreuen haben. Die virtuelle Welt der Bildschirme ist kein Ersatz. Ganz im Gegenteil: Wir sollten all jenen, die den Verzicht auf Natur auf den Fluren direkt oder indirekt fordern, die Subventionen entziehen. Sie leben von uns, nicht wir von ihnen. Auch wenn das gegenwärtige System dies verschleiert. Die industrialisierte Landwirtschaft ist weit entfernt von einer funktionierenden Symbiose, die wir aber benötigen. Denn nur wenn beide Partner gleichermaßen Nutzen daraus ziehen, wird das System von Dauer sein. Nutzt die eine Seite die andere zu sehr aus, ist sie zum Parasiten geworden. Diese Tendenz, die zweifellos vorhanden ist, dürfen wir nicht länger hinnehmen. Das ist, wenn Sie so wollen, verehrte Leserinnen und Leser, die Botschaft der Schmetterlinge.

Ihr Vorhandensein, ihre Schönheit und die Besonderheiten ihrer Lebensweise dürfen wir mit voller Berechtigung für einen hohen, politisch angemessen zu berücksichtigenden Wert halten. Wir haben es nicht nötig, auf der primitiven Basis des Nutzwertes zu begründen, dass wir nicht wollen, dass Schmetterlinge verschwinden, Vögel aussterben und draußen keine Blumen mehr blühen.