Vorwort

 

In den letzten fünfzig Jahren nahm die Häufigkeit unserer Schmetterlinge um über achtzig Prozent ab. Nur die älteren Menschen können sich vielleicht noch an die Zeit erinnern, in der die Wiesen voller bunter Blumen waren und zahllose Falter über ihnen umhergaukelten. Niemand hätte damals daran gedacht, sie zählen zu wollen. Warum auch?! Die Schmetterlinge gehörten zum Sommer wie die Bienen und die Feldblumen. Vom frühen Frühling bis zum Beginn des Hochsommers sangen die Lerchen. Vom ersten Tageslicht an hingen sie jubilierend in der Luft über den Fluren. Das ganze Jahr über gab es Goldammern, Rebhühner, Hasen. An den Gräben und Tümpeln lebten Frösche. Laubfrösche riefen noch in den 1970er Jahren an einem am Rand der Flur gelegenen kleinen Teich so laut, dass ihr Chor während eines Telefoninterviews, das der Bayrische Rundfunk mit mir führte, durch die offene Terrassentür zu hören war. Thema: eine Verhandlung des Bayerischen Amtsgerichts über Lärmbelästigung durch Froschkonzerte.

Bereits als Kind lernte ich Schmetterlinge kennen. Die großen, auf ihren ockerfarbenen Flügeln schwarz gegitterten Schwalbenschwänze sah ich zu Dutzenden. Sie flogen zu unserem Gemüsegarten, um Eier am Karottenkraut abzulegen. Über ihre grünen, rot gepunkteten Raupen freute ich mich besonders, wenn ich sie Wochen später entdeckte. Berührte ich sie in Kopfnähe, ließen sie eine höchst merkwürdige, orangegelbe Gabel aus einer Vertiefung hinter dem Kopf emporschnellen. Sie verströmte einen sonderbaren, wie ich später erfuhr, abschreckend wirkenden Geruch.

Bläulinge unterschiedlicher Arten, die ich damals noch nicht unterscheiden konnte, flogen über den Wiesen, die sich von unserem Häuschen am Dorfrand bis zum Auwald erstreckten. Die blau aufschimmernden Falter gab es in solchen Mengen, dass ich rückblickend nicht einmal grobe Angaben machen könnte, wie häufig sie gewesen sein mochten. Kohlweißlinge beachtete man kaum. Sie gehörten zur Natur, die uns umgab, wie der Gesang der Grillen im Mai und Juni und das Gezirpe der Heuschrecken im Hochsommer. Gern kitzelte ich sie mit einem Grashalm aus ihren Wohnröhren. Ihr großer, unförmig und bullig wirkender Kopf belustigte mich. Darin schien nicht viel Intelligenz zu stecken, so leicht ließen sie sich foppen.

In den Kopfweiden am Bach, der sich durch die Wiesen hinter unserem Haus schlängelte, nisteten Wiedehopfe. Mit aufgerichteter Federhaube schritten sie auf den beweideten Flächen kopfnickend umher und stocherten in den Fladen herum, die die Kühe hinterlassen hatten. Diese waren den ganzen Sommer über bis weit in den Herbst hinein tagsüber auf der Weide. Es wimmelte vor Staren. Die immer irgendwie übereifrig wirkenden, schwarz gefiederten Vögel folgten den Kühen. Manchmal setzten sie sich auf deren Rücken. In jedem Garten war für die Stare mindesten ein Nistkasten an hoher Stange befestigt aufgestellt. Reiften die Kirschen, holten sie sich einen beträchtlichen Anteil davon und machten viel Lärm dabei. Stare vom Kirschbaum zu vertreiben war ein großes Vergnügen für ältere Kinder, weil sie dazu in die Baumkrone klettern durften, wo die Kirschen direkt vor ihrem Mund baumelten. An unserem Haus lebte unterm Dach eine Kolonie Spatzen; ein gutes Dutzend, vielleicht auch mehr. Sie waren immer da. Unsere Katze beachteten die Haussperlinge nicht. Sie ging auf Mäusejagd und war sehr erfolgreich dabei. Landidylle. Verklärte Erinnerungen an Kindheit und frühe Jugendzeit im niederbayerischen Inntal?

Trugbilder könnten es sein, die sich die einstige Wirklichkeit im Nachhinein zurechtgebogen haben. Dessen muss man sich bei jedem Versuch bewusst sein, das »Früher« zur Basis für das »Heute« zu rekonstruieren. Das Gedächtnis liefert uns, was wir haben möchten. Und es neigt zu Nostalgie, zu Sehnsucht nach dem Vergangenen. Dennoch beginne ich dieses Buch mit Schilderungen einstmals selbst erfahrener Naturschönheit und -vielfalt, auch um verständlich zu machen, warum mich das Verschwinden der Schmetterlinge so sehr berührt. Der erste Teil des Buchs soll die Basis legen, auf der wir über den Verlust der Arten urteilen können. Die Beispiele wähle ich gezielt so, dass man kein Spezialist sein muss, um Ähnliches selbst beobachten und mitverfolgen zu können.

Zusammengefasst sollen sie aufzeigen, dass die Häufigkeit von Schmetterlingen aus noch zu erläuternden Gründen zwar immer mal wieder stark schwankt, seit mindestens einem halben Jahrhundert jedoch ein allgemeiner Abnahmetrend zu verzeichnen ist. Um dessen Ursachen geht es im zweiten Teil des Buchs. Dafür ist es zentral, die üblichen Fluktuationen vom Trend zu unterscheiden. Nicht nur, um die Abläufe zu verstehen, sondern insbesondere auch, um die richtigen Gegenmaßnahmen zu treffen. Mit der bloßen Verringerung von Gifteinsatz zum Beispiel, so erstrebenswert ein solcher auch ist, wird es nicht getan sein. Und auch, was wir gemeinhin mit »grün« und »öko« verbinden, birgt bezüglich der Erhaltung der Arten so seine Probleme. Der zweite Teil wird daher zwangsläufig umweltpolitisch werden. Die Ökologie hat ihre wissenschaftliche Unschuld verloren, seit sie, wie es meine Überzeugung ist, von politisch einflussreich gewordenen Kreisen zu einer Naturreligion umfunktioniert worden ist. Widerspruch werde ich daher zu erwarten haben. Das bin ich gewohnt, und es gehört zum Prinzip des wissenschaftlichen Diskurses. Von öffentlich festgefahrenen Meinungen unterscheidet sich ein solcher durch die Akzeptanz der besseren Befunde. Das macht die Naturwissenschaft stark, aber auch zunehmend unbeliebt. Weil sie relativiert und flexibel bleibt, wo heute gern dogmatisch Prinzipien entgegengesetzt werden. Skeptiker zu sein ist für Naturwissenschaftler keine Abqualifizierung, sondern lobender Ausdruck dafür, sich nicht Dogmen zu unterwerfen, auch wenn sie gerade en vogue sein sollten.

Entsprechendes gilt für die Beschränkung der Ausdrucksfreiheit unter dem Druck der »political correctness«: Es ändert an der Wirkung nichts, ob wir Pflanzenschutzmittel sagen, wie es manche einfordern, oder sie Gifte nennen. Denn solche sollen sie schließlich sein: Stoffe, die töten, was vernichtet werden soll. Vermeiden lässt sich zudem nicht, immer wieder verallgemeinernd von »der Landwirtschaft«, »den Pflegemaßnahmen« oder »dem Naturschutz« zu schreiben. Landwirte können anders als die Mehrheit ihrer Kollegen insektenfreundlich wirtschaften, ein Pflegetrupp, der an Straßenrändern tätig wird, kann das auch einmal tun, ohne sämtliche Gräser und Blumen niederzumähen, und Gärten können sehr schmetterlingsfreundlich gestaltet sein. Aber für die Durchschnittsverhältnisse stimmen die Bezeichnungen »Landwirtschaft«, »Landschafts- und Gartenpflege« oder auch »Naturschutz« als Organisation und als staatliches Wirken, weil von ihnen bestimmte Folgen ausgehen. Und in diesem Sinne ist in diesem Buch verallgemeinernd von ihnen die Rede. Deshalb hängt die Wirkung meiner Ausführungen auch davon ab, mit welcher Einstellung das Buch gelesen wird. Geschrieben habe ich es aus dem Gefühl der Verantwortung heraus, die wir den kommenden Generationen schulden. Viele, sehr viele äußern sich seit Jahrzehnten zum Thema industrielle Landwirtschaft. Noch immer sind es zu wenige, um den gebotenen politischen Druck zu erzeugen, der eine Wende zum Besseren herbeiführen würde.

 

 

Soeben aus der Puppe geschlüpfter Totenkopfschwärmer »Pfötchen gebend«