Ein Rückblick auf 50 Jahre Schmetterlingsforschung
Vor schönfärberischen Erinnerungen an frühere Verhältnisse schützen mich meine Aufzeichnungen. Am 15. Dezember 1958 habe ich mit ihnen begonnen. Daher weiß ich, dass wir vor sechzig Jahren im niederbayerischen Inntal kein »weißes Weihnachten« hatten, sondern zwei Grad über Null und leichten Regen. Für den 2. Januar 1959 notierte ich, dass ich draußen am Inn, auf dem völlig eisfreien Stausee, die Wasservögel gezählt hatte: 800 Stockenten, 50 Reiherenten, 69 Saatgänse und 200 Blesshühner. Die meisten Zahlen waren gerundet, weil das Zählen mit dem kleinen Fernglas auf einen halben Kilometer Entfernung nicht genauer ging. Ein einigermaßen leistungsfähiges Fernrohr erhielt ich erst einige Jahre später. Als ich bei den Vorbereitungen auf dieses Buch meine alten Aufzeichnungen hervorholte und durchsah, fand ich auch ein Blatt mit vier von mir selbst gezeichneten Faltern. Erstaunt betrachtete ich es und las, was ich zu den Schmetterlingsbildern »aus meiner Sammlung angefertigt« vermerkt hatte. Neben einem Schwalbenschwanz und einem Paar Himmelblauer Bläulinge Polyommatus bellargus hatte ich einen großen und markant schwarzweißen Schmetterling gezeichnet, einen Weißen Waldportier, und ihn mit dem damals üblichen wissenschaftlichen Namen Satyrus circe benannt. Dieser Fund begeisterte mich, weil es die wunderschöne, so elegant fliegende »Circe« in meiner Heimat schon lange nicht mehr gibt. Sie ist weithin ausgestorben, wie zahlreiche andere Schmetterlingsarten auch, die ich in meiner frühen Jugendzeit noch kennengelernt und beobachtet hatte.
Andere der damals als gewöhnlich eingestuften Arten gibt es zwar noch, aber sie sind inzwischen selten oder sehr selten. Ein passendes Beispiel hierzu fand ich ebenfalls in meinen Aufzeichnungen. Die Notiz vom 12. September 1962 stellt eine aus heutiger Sicht bemerkenswerte Beobachtung dar. Ein fast handtellergroßer Schmetterling war bei der frühmorgendlichen Fahrt zur Schule an einer Station in den Regionalzug geflogen und auf dem roten Hemd eines Mitschülers gelandet. Es war ein Rotes Ordensband Catocala nupta. Die bräunlichgrauen, verwaschen rindenartig gezeichneten Vorderflügel dieses großen Eulenfalters verdecken in der Ruhehaltung die intensiv karminrot gefärbten, von einem gewinkelten schwarzen Band vor dem Außenrand eingefassten Hinterflügel. Noch nicht wissend, dass die Schmetterlinge – wie alle Insekten – die Farbe Rot nicht sehen, schrieb ich dazu: »Das Ordensband wurde also vom Rot des Hemdes angelockt«. Tatsächlich wirkte das rote Hemd eher dunkel. In seiner farblosen Helligkeit, dem sogenannten Grauwert, mochte es ganz gut dunkler Baumrinde und dem Grauwert der deckenden Vorderflügel entsprochen haben. In der Natur wäre die Stelle als Ruheplatz am Tage für diesen dämmerungsaktiven Eulenfalter geeignet gewesen. Die Ordensbänder gab es also vor einem halben Jahrhundert noch so häufig, dass sich eines in den Zug verirrte, vermutlich weil es an der Station von seinem Ruheplatz aufgescheucht worden war.
Rotes Ordensband Catocala nupta präsentiert die Hinterflügel mit abschreckend wirkendem Rot-Schwarz-Muster. Die Vorderflügel tarnen auf Rindenuntergrund
Derartige Notizen aus meiner Schülerzeit blieben Anekdoten, würden die Aufzeichnungen nicht mehr bieten. Zwar hält man viel zu selektiv fest, was gerade ungewöhnlich erscheint, während das Gewohnte unbeachtet bleibt. Dennoch lässt sich aus unsystematischen Notizen Interessantes herauslesen. Beispiele finde ich genug in meinen Tagebüchern. Wie das am 1. August 1960 festgestellte Weißfleck-Widderchen Syntomis phegea, das es im Gebiet längst nicht mehr gibt, oder die Raupe des Wegerichbären Parasemia plantaginis vom 28. Juli 1960. Er kommt nur noch sehr selten vor. All diese und die vielen anderen Notizen zeigen allerdings nur, dass früher Schmetterlingsarten vorhanden waren, die dort heute nicht mehr existieren. Das wirkliche Ausmaß des Rückgangs der Falter und der übrigen Insekten ließe sich aus dem Verschwinden einzelner Arten nicht ableiten. Es können in dieser Zeit ja Arten hinzugekommen sein, die es vorher nicht gegeben hat. Die Natur ist dynamisch. Änderungen können und werden immer auftreten. Die Eingangsbehauptung, dass wir im letzten halben Jahrhundert über achtzig Prozent der Schmetterlinge verloren haben, bezieht sich auf die Gesamthäufigkeit und bedarf zu ihrer Begründung einer viel solideren Basis.
Eine solche hatte ich bei Vögeln zwar schon einmal gewonnen: mit meinen Zählungen der Wasservögel an den Stauseen am unteren Inn, die ich sechs Jahre lang alle zwei bis drei Tage durchführte und die 1966 eine erste ornithologische Fachpublikation ergaben. Eine quantitative Erfassung von Schmetterlingen aber war eine ganz andere Herausforderung, als Vögel zu zählen, die am Ufer ruhen oder auf der Wasseroberfläche schwimmen. Ansätze hierzu formierten sich allmählich während meines Zoologiestudiums an der Universität München. Für meine Doktorarbeit über Wasserschmetterlinge war ein wissenschaftliches Vorgehen geboten. Die fünf verschiedenen Arten solcher Schmetterlinge aus der Familie der Zünsler lernte ich rasch kennen und im Gelände an ihrer Flugweise sicher zu unterscheiden.
Aber die Vielzahl der Schmetterlingsarten erfordert ungleich größere Kenntnisse, wenn man sie möglichst alle erfassen möchte. Die Einarbeitung ist weitaus schwieriger und zeitaufwendiger als das Kennenlernen unserer Vogelwelt. Allein in Südostbayern gibt es mehr als 1100 verschiedene Arten von Schmetterlingen; für ganz Bayern sind 3243 Arten nachgewiesen (Stand 2016). Viele davon sind sehr klein und nur mit spezieller Fachliteratur zu bestimmen. Für die Vögel gab es in den 1960er Jahren schon sehr gute Bestimmungsbücher, die zudem nicht unerschwinglich teuer waren. Mit der Vogelwelt hatte ich mich zunächst weit intensiver als mit den Schmetterlingen befasst. Der Grund hierfür lag nahe, buchstäblich. Die Stauseen und die Auwälder am unteren Inn, zu denen ich zu Fuß oder mit dem Fahrrad gelangen konnte, waren (und sind) Vogelparadiese. Sie gehören zu den artenreichsten Feuchtgebieten im ganzen mitteleuropäischen Binnenland. Als ich 1965 das Zoologiestudium in München begann, war ich dank dieser Umgebung bereits ein anerkannter Ornithologe. Und vertraut mit verschiedenen Vorgehensweisen, die in der Freilandforschung angewandt werden.
Während des Studiums lernte ich eine Methode kennen, die sich wie keine andere dafür eignet, die Häufigkeit von Schmetterlingen festzustellen. Es ist dies die Anlockung der nachts aktiven Arten mit UV-Licht. Dies geschieht nicht, wie vordem schon häufig praktiziert und von mir selbst auch ausprobiert, mit großen Mischlichtlampen von 1000 Watt Stärke, mit denen aufgespannte weiße Tücher angestrahlt werden, sondern über eine sinnreiche Konstruktion mit UV-Neonröhren von nur 15 Watt Leistung. Dieses UV-Licht zieht die Schmetterlinge und andere Insekten an. Sie geraten beim Anflug in einen Trichter unter der Röhre, über den ein großer Sack gestülpt ist. Darin landen die Insekten. Um ihnen bis zum nächsten Morgen Schlupfwinkel zu bieten, gibt man beispielsweise Eierkartons hinein. Den Schmetterlingen passiert bei dieser Erfassungsmethode nichts. Im Sack beruhigen sie sich rasch, da sie der Einwirkung des Lichts entzogen sind. Art für Art werden sie am nächsten Morgen bestimmt und gezählt, auch die übrigen Insekten, so weit deren Artbestimmung möglich ist. Dabei werden sämtliche Insekten sogleich wieder frei gelassen. Auf diese Weise kommen quantitativ gut auswertbare und statistisch behandelbare Befunde zustande, die sich bei gleicher Bauausführung der Geräte je nach Fragestellung in jede Richtung bestens vergleichen lassen. Etwa um in ganz verschiedenen Typen von Lebensräumen Häufigkeit und Artenspektrum der nachts aktiven Schmetterlinge festzustellen. Genau dies machte ich ab 1969. Dr. Hermann Petersen optimierte die Methode. Ihm und Elsbeth Werner mit ihrem pestizidfreien Gehöft verdanke ich viel.
Mit Tagfaltern geht Lichtanlockung leider nicht. Um auch für sie in vergleichbarer Weise Änderungen in der Häufigkeit festzustellen, fing ich in den 1970er Jahren an, sie entlang bestimmter, über die Jahre hinweg unverändert beibehaltener Wegstrecken zu zählen. An Waldwegen oder an Feldwegen durch die Flur zum Beispiel. Und an den ohnehin schon als »Strecken« vorgegebenen Dämmen. Mit den Flusskilometer-Tafeln, die in Abständen von jeweils genau zweihundert Metern angebracht sind, bieten sie für solche Streckenzählungen die günstigsten Voraussetzungen. In den 1980er Jahren benutzte ich die auf diese Weise erzielten Befunde vornehmlich für meine Vorlesungen über Ökologie und Naturschutz an der Technischen Universität München und über Ökologische Tiergeografie an der Universität München. Im Lauf der Jahre wurde deutlich, dass die Lichtanflüge und die Streckenzählungen immer weniger Schmetterlinge ergaben. Aus dem »Beifang«, wie ich die übrigen ans Licht geflogenen Insekten nannte, verschwanden sogar die vormals so verbreiteten Maikäfer. Deren Massenanflug hatte mehrmals dazu geführt, dass sich der Sack vom Trichter löste und herunterfiel, weil in der Dämmerung bis an die tausend Käfer hineingeraten waren. Da zur Maikäferzeit Anfang Mai nur sehr wenige, oft fast gar keine Schmetterlinge fliegen, beeinträchtigte so ein Missgeschick die jährlichen Gesamtergebnisse nicht. Aber der ziemlich abrupte Ausfall der Maikäfer irritierte mich. Es war dies ein erstes klares Signal dafür, dass meine Untersuchungen wichtige Daten über die Veränderungen in unserer Natur lieferten. Dennoch ahnte ich in den 1980er Jahren noch nicht, wie stark es abwärts gehen würde mit den Schmetterlingen und den anderen Insekten. Und dass meine Befunde sogar die nahrungsökologische Begründung für den Niedergang der Vögel in Feld und Flur liefern würden.
In den frühen 1980er Jahren begann ich damit, die Schmetterlingshäufigkeit auch in der Großstadt zu untersuchen. München, wo ich seit 1974 Wissenschaftler an der Zoologischen Staatssammlung war, bot hierfür ideale Verhältnisse. Es gab im Stadtgebiet mehrere geeignete Stellen, um bezüglich Vorkommen und Häufigkeit der nachts aktiven Insekten eine Art Querschnitt von der Innenstadt bis zum Stadtrand zustande zu bringen. Zudem hatte ich die riesigen Sammlungen dieses Forschungsmuseums und die Kollegen als Spezialisten zur Verfügung, um alle Insekten genau bestimmen zu können. Dass ich deren Hilfe nötig hatte, ergab sich gleich nach den ersten Befunden. Sie waren so viel artenreicher als erwartet, dass ich allein damit nicht zurande gekommen wäre. Zudem fielen die Fänge auch bezüglich der Mengen außerordentlich ergiebig aus. Meine Befunde stellten die verbreitete Vorstellung, dass in der Stadt nur ein kläglicher Rest des Artenreichtums vom Land existieren würde, alsbald nicht bloß in Frage. Sie entlarvten diese als Vorurteil.
Über die Jahre und Jahrzehnte kamen so die umfangreichen Forschungsergebnisse zustande, über die ich in diesem Buch berichte. Sie bilden die Bilanz von einem halben Jahrhundert quantitativer Insektenforschung.
In diesen fünfzig Jahren wurde unsere Natur in einem Ausmaß und in einer Geschwindigkeit verändert, wie wohl noch nie zuvor in so kurzer Zeit. Die Befunde sind erschütternd und die Aussichten, die sich daraus ergeben, ausgesprochen düster. Denn beim Hauptverursacher des Niedergangs der Artenvielfalt, der Landwirtschaft, sind keine substanziellen Änderungen zu erwarten. Wer sich mit dem »Problem Landwirtschaft« ein wenig intensiver befasst, wird feststellen, dass es gar nicht um die Bauern geht. Sie wurden im letzten halben Jahrhundert nicht etwa gefördert, wie uns, der großen Masse der Bevölkerung, seitens der Politik vorgegaukelt wird, um die Subventionsmilliarden zu rechtfertigen. Man hat sie der Zahl nach auf ein Zehntel dezimiert. Die Gewinner, das internationale Agro-Business, insbesondere die Erzeuger der Pflanzenschutzmittel, blieben gut verborgen im Hintergrund, während das Sterben der bäuerlichen Landwirtschaft erschreckend parallel zum Niedergang der Schmetterlinge und der Vögel verlief.
Längst ist das so viel geschmähte Leben in der Stadt besser geworden als auf dem Land, wo die Gülle zum Himmel stinkt und Gift in einem ungeahnten Ausmaß ausgebracht wird, wo die Vögel verstummt sind und das Grundwasser nicht mehr zum Trinken taugt. Wie soll das weitergehen? Gibt es keine Chance, den Geistern Einhalt zu gebieten, die einst in guter Absicht gerufen worden waren, um den Bauern die Arbeit zu erleichtern und ihr Leben zu verbessern? Ist für die Agrarwende ein »Schmetterlingseffekt« denkbar? Mein Ausblick am Ende des Buches wird, es mag Sie überraschen, verhalten optimistisch ausfallen. Vielleicht ist die darin zögerlich geäußerte Zuversicht aber auch nur ein Wunschtraum. Weil kommende Generationen nicht schätzen werden, was sie nicht mehr kennenlernten und noch selbst erlebt haben: die Artenvielfalt unserer Natur, unserer Schmetterlinge.
Totenkopfschwärmer – Beispiel für einen Gast, der bei uns kaum noch leben kann
In unserer Zeit verschwinden Arten, deren Kennenlernen Kinder nachhaltig hätte prägen können. Ich denke an das große Staunen, das mich erfasste, als eines Abends Anfang Oktober ein Totenkopfschwärmer im Glas auf der Fensterbank aus der Puppe schlüpfte. Bei der Kartoffelernte hatte ich sie gefunden. Die Kartoffeläcker wurden im Niederbayerischen in den frühen 1960er Jahren noch überwiegend ausgeackert, wie es hieß. Ein Pferd zog den Pflug, dessen Schar so angesetzt war, dass sie an einer Seite im richtigen Abstand so die Furche zog, dass die um etwa zwei Handbreit höhere Zeile mit den Kartoffelstauden gleichsam umgekippt wurde. Einige Kartoffeln lagen dann frei. An ihnen orientierte man sich und fand weitere, die noch von der Erde umschlossen waren. Mit den Händen wurden diese herausgeholt. Auf Niederbayrisch hieß das Kartoffelklauben. Nun fressen aber die Raupen des Totenkopfschwärmers im Sommer am Kartoffelkraut, denn sie sind auf Nachtschattengewächse als Nahrungspflanzen eingestellt. Die zwar ursprünglich aus Amerika stammende Kartoffel gehört zu dieser – giftigen – Pflanzenfamilie.
Aber ihre ferne Herkunft stört nicht nur nicht, sondern begünstigt die Totenkopfschwärmer sogar. Denn von Natur aus würden die Weibchen dieser massigen Schmetterlinge nirgendwo Nachtschattengewächse in solcher Häufigkeit und in so günstigem Wuchs mit offenem Boden um die Stauden finden können. Daher war die amerikanische Kartoffelpflanze schon bald nach der Einführung in Europa im frühen 17. Jahrhundert eine bevorzugte Alternative für den afrikanischen Großschwärmer. Vorher kam er vermutlich nur selten aus dem randtropischen Afrika eingeflogen, weil es hier an geeigneten Futterpflanzen mangelte. Der Bittersüße Nachtschatten Solanum dulcamara bot nicht viel und wächst so verstreut, dass auch gegenwärtig kaum einmal Raupen des Totenkopfschwärmers daran gefunden werden.
Sind diese Raupen erwachsen, graben sie sich knapp unter der Erdoberfläche eine längliche Höhle, in der sie sich verpuppen. Nach Wochen der Puppenruhe schlüpfen die fertigen Schmetterlinge. Und müssen versuchen, nach Süden über die Alpen zu fliegen. Den Winter überleben sie nördlich davon nicht. Mein Totenkopf war so eine erwachsene Raupe. Ich hatte ihn in einem Einweckglas auf Torfmull bebettet und damit locker zugedeckt. Von Zeit zu Zeit besprühte ich den Torf ein wenig, dass die Puppe nicht zu trocken lag. Mit Erfolg. Der frisch geschlüpfte Totenkopfschwärmer, dessen Flügel noch nicht voll entfaltet waren, so dass sie den gelb-schwarz geringelten, sehr dicken Hinterleib nicht zudeckten, schien mir geradezu riesig. Umso mehr, als ich ihn auf den Zeigefinger kriechen ließ, um ihn an die Gardine setzen zu können. In der Hängehaltung sollten sich die Flügel fertig strecken können und flugtauglich werden. Mein Ziel war ja, ihn in der späten Dämmerung fliegen zu lassen, damit er zurück nach Afrika gelangt. Allein die Vorstellung, dass dies vielleicht gelingt und ich dazu beitragen konnte, erregte mich ungemein. Die angeblich an einen Totenkopf erinnernde, hell gelbliche Zeichnung auf dem Rücken beeindruckte mich hingegen nicht. Egal, wie ich sie betrachtete, sie sah überhaupt nicht nach einem Totenschädel aus. Oder mir fehlte die Fantasie, mir einen einzubilden. Auch jetzt, während ich dies schreibe, fällt es mir schwer, vorzustellen, dass Menschen in früheren Zeiten eine so irrige Vorstellung entwickeln konnten. Doch wer im Blatt des Leberblümchens eine Leber sieht, nur weil es aus drei (gar nicht leberartigen) »Lappen« besteht, und daraus auch noch ableitet, so etwas müsse gut gegen Leberbeschwerden sein, der gelangt bei der Rückenzeichnung dieses Schwärmers eben auch zu einem Mini-Totenkopf.
Totenkopf des Totenkopfschwärmers: So sieht sie tatsächlich aus, die Rückenzeichnung. Nur überschießende Fantasie kann darin einen Totenschädel erkennen
Ich weiß es nicht mehr, ob mir gerade Überlegungen zu seinem Namen durch den Kopf gingen, als etwas geschah, das endgültig den Biologen in mir weckte. Unsere Katze, die auf dem Sofa gelegen hatte und nach Katzenart so tat, als würde sie tief und fest schlafen, schlich sich an und reckte ihre Nase zum Totenkopf an der Gardine hoch. Im selben Moment, in dem ein Schnurrhaar ihrer Schnauze den Schmetterling berührte, schnellte dieser den gelb-schwarz geringelten Hinterleib zwischen den Flügeln hervor und piepste schrill. Vor Schreck wich die Katze zurück, fiel übers Sofa herunter und zog sich darunter zurück in volle Deckung.
Die Wirkung dieser Wespen- oder Hornissenzeichnung, verbunden mit dem in den fürs menschliche Ohr nicht mehr hörbaren Ultraschallbereich hineinreichenden Piepston war ein Lehrstück: Kein Buch, keine Schilderung so eines Vorgangs hätte eindrucksvoller vermitteln können, was eine »Schrecktracht« bedeutet und wie sie wirkt. Umso mehr war ich berührt, dass ich den Totenkopf mit meiner Fingerspitze so leicht dazu bringen konnte, sie zu erklettern und sich von mir an die Gardine setzen zu lassen. Jahre später, wenn ich gelegentlich einmal eine Hummel streichelte und damit zu einem leisen Surren anregte, dachte ich an dieses Erlebnis zurück. Der Totenkopfschwärmer, dem in meinem Leben noch Dutzende weitere folgten – bis die Kartoffelernte mechanisiert wurde und keine Puppen mehr zu finden waren bzw. kein Exemplar die harte Behandlung in der Erntemaschine mehr überlebte –, dieser in meiner Obhut geschlüpfte Schmetterling hatte mich berührt.
Totenkopfschwärmerraupe (Foto: Peter Denefleh)