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Sind die Lichter angezündet |
Julia wäre beinahe auf Simon, das Frettchen, getreten. Sie stolperte und hielt sich in letzter Minute am Türrahmen fest.
»Sorry«, sagte sie unsinnigerweise zu dem kleinen Tier. Simon saß einen Moment lang regungslos da und blickte sie vorwurfsvoll an. An seinem Hals leuchtete ein rotes Samtschleifchen, zur Feier des Tages. Eigentlich waren diese Frettchen ja niedlich, aber trotzdem gewöhnungsbedürftig.
»Mama, kannst du Simon zurück in seinen Käfig stecken?«, erklang Emilys Stimme, untermalt von Winseln. Die vier Hunde mussten in Emilys Zimmer warten, bis die Frettchen mit ihrem Weihnachtsspaziergang durch die Wohnung fertig waren, sonst würde es laut Emily hier ein Massaker geben. In der Küche hatte offensichtlich schon eins stattgefunden, wie Julia beim Betreten der WG vor zwei Stunden festgestellt hatte. Natürlich hatte sie sich jegliche Bemerkung zum Zustand der Küche verkniffen, sie waren schließlich zum Feiern hier. Emily wirkte allerdings nervös und fahrig – was war nur mit ihr los? Sie hatte sich offenbar wahnsinnig über ihren Besuch gefreut, besonders darüber, dass ihre Oma mitgekommen war, aber irgendetwas bedrückte sie. Dauernd schielte sie auf ihr Handy, sah zur Wohnungstür und zupfte an ihren grün-blauen Haaren herum. Erwartete sie noch jemanden? Hatte Emily vielleicht neuerdings einen Freund? Julias Herz hüpfte gleich noch ein bisschen höher. Sie würde ihre Jüngste in einer ruhigen Minute danach fragen. Wenn endlich diese ganzen Tiere versorgt waren.
»Mach ich«, rief Julia zurück. »Kein Problem.«
»Wo steht denn bei euch der Zucker?«, meldete nun Frank sich aus der Küche. »Ich brauche noch mehr Zucker, meiner reicht nicht.«
Julia bewunderte ihn. Innerhalb kürzester Zeit hatte er in der Kampfzonen-Küche genug Platz freigeschaufelt und einigermaßen saubere Teller und Töpfe organisiert, um den Kartoffelsalat zuzubereiten und seinen Punsch anzusetzen. Die Gans hatte er bereits aus der Packung befreit, dann nach einem passenden Bräter gesucht und sogar einen völlig sauberen gefunden. Wahrscheinlich hatte den einfach noch nie jemand benutzt. In der ganzen Wohnung hing mittlerweile ein weihnachtlicher Duft nach Punsch mit Orangen, der den zuvor dominierenden Geruch nach Frettchen, indischen Räucherstäbchen und viel zu selten geöffneten Fenstern übertönte.
»Zucker haben wir nicht«, rief Emily zurück. »Nur Fair-Trade-Bio-Ahornsirup.«
Frank antwortete etwas wenig Schmeichelhaftes und Julia lachte vor sich hin. Irgendwann war immer das erste Mal. Heute war eben die Premiere für Punsch mit Ahornsirup. Sie bückte sich.
»Komm her, Simon. Du gehst jetzt zurück in deinen Käfig.« Das Frettchen rannte augenblicklich weg. Mist. Julia verfolgte das Tier, allerdings huschte es sofort zielsicher in einen schmalen Spalt zwischen Bücherschrank und Couch und war offenbar nicht willens, dort wieder herauszukommen. Julia beschloss, das Tier mit etwas Futter hervorzulocken, und ging in die Küche.
»Hast du ein bisschen Fleisch für Simon?«, fragte sie ihren Mann.
»Selbstverständlich, mein Schatz.« Frank wirbelte sie kurz herum und reichte ihr dann ein kleines Stück Speck, den er für die Füllung mitgebracht hatte. »Festtagsessen für die Herren Frettchen. Das opfere ich gerne.« Seine Worte kamen etwas verschwommen heraus und er lachte albern. Er hatte eindeutig bereits ordentlich Schlagseite.
»Sag mal, wie viel hast du denn schon getrunken?«
»Heute ist Weihnachten. Sozusagen die erste Runde. Hast du selbst gesagt. Ein Grund zum Feiern. Koste mal den Punsch.« Er deutete auf einen gigantischen Kochtopf von der Art, mit der man früher in den Berliner Mietswohnungen die Wäsche kochte. Daneben standen eine leere Rumflasche, mehrere leere Rotweinflaschen und die Plastikdose mit Gewürzen und Orangen, die er aus Weimar mitgebracht hatte.
Julia beäugte den Inhalt. »Wow, wie viel hast du denn da reingekippt? Das schaffen wir nie.«
»Deswegen sollst du ja auch was davon trinken«, erklärte Frank mit der leicht absurden Logik eines Betrunkenen. Er reichte ihr eine große Tasse voller Punsch.
Julia kostete. »Hm, schmeckt lecker. Und denk dran, wir wollen noch Charlotte anrufen. Nicht, dass du vorher einschläfst.«
»Wie könnte ich das vergessen.« Er gab ihr einen Kuss. »Und morgen sehen wir unsere Anne.« In seinen Augen schimmerte es. »Das wird mein schönstes Weihnachtsgeschenk.«
»Und meins ist, dass du dich endlich wieder in ein Flugzeug setzt«, flüsterte Julia ihm ins Ohr. »Ich halte auch deine Hand, versprochen.«
»Ich schlafe sowieso. Hoffentlich.« Frank genehmigte sich einen weiteren großzügigen Schluck, und Julia begriff, dass er auf einen anständigen Kater hoffte, der ihn im Flugzeug morgen sofort wegdämmern ließ. Nun gut, dem würde sie nicht im Wege stehen.
»Prost. Dann schon mal frohe Weihnachten, mein Schatz.«
Sie stießen mit den etwas klobigen Tassen an, und Julia machte sich mit dem Stück Speck in der Hand auf die Suche nach Simon. Das Frettchen war allerdings nicht mehr hinter der Couch oder überhaupt irgendwo zu sehen.
Elisabeth hatte inzwischen mit leichter Hand Weihnachtsstimmung in die Wohnung gezaubert. Es lief Weihnachtsmusik im Radio, das Bäumchen mit den Schleifen und Hundekeksen stand dekorativ auf einem kleinen Tisch, daneben ein zweites, etwas mageres Tännchen, das sie an einer Raststätte hinter Leipzig ergattert hatten. Blöderweise hatte Julia die Kiste mit dem Christbaumschmuck vergessen, aber Elisabeth faltete gerade Weihnachtssterne aus den ganzen Pizza- und Dönerflyern, die sie im Flur gefunden hatte – glücklich darüber, dass sie sich nützlich machen und gleichzeitig den Berg Papier abbauen konnte. Eine Win-win-Situation, wie sie Julia stolz erklärte.
Auf vier Tellern türmten sich Julias Plätzchen, die Lenin-Büste trug eine Weihnachtsmütze und einen kitschigen kleinen Engel um den Hals, und auf dem Esstisch hatte Elisabeth einen großen dunkelroten Samtschal von Emily ausgebreitet, der dem chaotischen Wohnzimmer tatsächlich einen Hauch von festlicher Eleganz verlieh. Das Einzige, das nicht zu der weihnachtlichen Stimmung passte, war Emilys nervöser Gesichtsausdruck.
Jetzt konnte Julia sich nicht länger zurückhalten. »Emily, was ist denn nur los, du machst so einen gestressten Eindruck? Es ist doch alles wunderbar hier, wir machen es uns jetzt gemütlich, Papa kocht und … ach, da ist ja auch Simon.«
Das Frettchen flitzte über den Boden, hielt kurz an und stellte sich auf die Hinterbeine, als ob es Julia zum Narren halten wollte, dann rannte es weiter.
»Das ist nicht Simon, das ist Garfunkel.«
Julia fragte sich gerade, wie um alles in der Welt ihre Tochter diese Viecher auseinanderhalten konnte, als sich im Schloss der Wohnungstür ein Schlüssel drehte.
Die vier Hunde in Emilys Zimmer fingen an, wie aufgescheucht zu bellen, und Simon – es musste einfach Simon sein – stürmte draußen durch den Flur in Richtung Küche.
»Es kommen noch welche«, platzte Emily heraus. »Deswegen bin ich gestresst. Jannik und jemand anders, ich weiß nicht mal, wer. Ich hab versucht, es zu verhindern, aber der hat sich nicht abwimmeln lassen, dabei wollte er angeblich in die Schweiz. Es tut mir so leid, dass die jetzt unser Weihnachten versauen.«
Emily wischte sich eine kleine Träne aus den Augen, die Wohnungstür ging auf und drei Männer mit Instrumentenkästen kamen herein, allen voran dieser merkwürdige Typ namens Jannik mit nackten Füßen. Doch bevor Julia etwas antworten konnte, ging Elisabeth den dreien bereits entgegen, ein vorfreudiges Glitzern in den Augen.
»Aber das ist doch großartig, Emily«, jubelte sie. »Je mehr, desto besser! Hereinspaziert und frohe Weihnachten alle miteinander!« Sie schüttelte dem völlig verdatterten Jannik die Hand und deutete auf seine Füße. »Junger Mann, das ist viel zu kalt, hier gibt es ja nicht mal eine Fußbodenheizung.« Sie drehte sich zu Emily um. »Gib dem armen Kerl ein paar warme Socken.«
»Tagchen, Leute!« Ein völlig verlotterter Mensch mit ergrauter Punk-Frisur winkte Julia zu. »Riecht ja schon mal gut hier. Was gibt’s?«
»Kartoffelsalat mit Würstchen. Und am ersten Feiertag dann Gänsebraten. Ich knöpfe mir nachher gleich mal die Gans vor, die Füllung ist schon fertig«, verkündete Frank feierlich. Er war dazugetreten, ein weißes Geschirrtuch über dem Arm wie ein Oberkellner im Ritz.
Janniks Kopf fuhr herum. »Ihr wollt Tiere essen? Echt jetzt?«
»Papa, die sind alle Vegetarier«, piepte Emily gequält. »Und außerdem wollen sie gar kein Weihnachten feiern. Weder heute noch morgen noch überhaupt irgendwann.«
»Ach, Quatsch, ich esse und feiere alles«, erwiderte der ältliche Punk gut gelaunt. »Weihnachten, Chanukka, Ramadan, voll egal, was auch immer ansteht. Und hier gibt’s wohl auch Feuerzangenbowle, hat mir das Christkind im Treppenhaus zugeflüstert?« Er rieb sich die Hände.
»Ja klar!« Frank strahlte. »Komm mit, kriegst auch was. Ich bin übrigens der Frank.«
»Mama, Papa, Oma – das hier sind Karl und Jannik und …« Emily blickte den anderen Typen auffordernd an.
Der murmelte unverständlich einen Namen, dann bückte er sich blitzschnell und hielt Simon hoch in die Luft. Oder war es Garfunkel? Er überreichte Julia das Tier, die es wie ferngesteuert entgegennahm.
»Jannik, kann ich bitte mal mit dir reden?«
Emilys Stimme verhieß nichts Gutes, und Julia begab sich rasch ins Wohnzimmer, um das Frettchen endlich zurück in den Käfig zu setzen. Aus der Küche erklang jetzt lautes Gelächter und Gläserklirren.
»… war ja früher auch mal Hausbesetzer«, hörte sie Frank angeben. »Prost!«
Er klang noch um einiges betrunkener als vorhin. Das etwas zu laute und zu schrille Gelächter von Elisabeth schepperte durch die Wohnung, dazu das polternde Lachen von diesem Karl. Der Typ mit dem unverständlichen Namen setzte sich Julia gegenüber auf die Couch, griff nach einem Teller mit Plätzchen und fing kommentarlos an, ihn zu leeren.
»Habt ihr auch geilere Musik?«, fragte er nach einer Weile mit vollem Mund. »Das da klingt ziemlich ätzend.«
»Sicher.« Julia nickte abwesend und lauschte. Im Flur stritten sich Emily und dieser Jannik zischelnd über irgendetwas. Hoffentlich gab es keinen Krach zwischen den beiden. Es sollte ein gemütlicher vorgezogener Heiligabend werden. Julia war egal, wer hier noch aufkreuzte. Dann feierten sie eben mit diesen Leuten, das war doch auch schön. Heute waren sowieso schon alle Regeln aufgehoben, da kam es darauf nun auch nicht mehr an.
Sie spürte etwas Feuchtes an ihrer Hand und sah nach unten. Ein schwarzer großer Hund stand neben ihr und schnüffelte an ihr herum. Sie zuckte augenblicklich zurück.
»Emily?«, rief sie schwach.
»Das ist Ralfi, der tut nichts«, erklärte der Typ kauend. »Der ist aus dem Tierheim, in dem Emily arbeitet. Ist schon ewig dort. Schwarze Hunde will ja immer keiner adoptieren. Die Leute sind doch alle rassistische Arschlöcher.«
»In der Tat«, stammelte Julia. Wieso lief der Hund hier herum? Wer hatte den rausgelassen und wo befanden sich die anderen Hunde? Und wo das zweite Frettchen?
Frank kam herein, seine Mutter und diesen Karl im Schlepptau. Frank schwankte leicht und reichte Julia einen weiteren Becher Punsch.
»So ein stimmungsvolles Fest hatten wir schon lange nicht mehr«, schwärmte er. »Ich hab die armen Hunde mal rausgelassen, die wollen mitfeiern. Und jetzt rufen wir erst mal unsere Charlotte in the U, S and A an, was?«