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I’ll Be Home for Christmas |
Ihre Eltern flogen morgen nach London? Konnte das sein? Charlotte starrte auf die Nachricht auf ihrem Handy. Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals, in ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum, eigentlich war sie doch gar kein so sentimentaler Typ. Das mussten die Hormone sein, seit Connor auf der Welt war, war eben alles anders. Sie presste ihr Gesicht an sein kleines warmes Köpfchen und ließ den Tränen freien Lauf. Alle würden sich an diesem Weihnachten sehen – ihre Eltern, ihre Oma, ihre Schwestern. Nur sie selbst, die gerade zu diesem Zeitpunkt in ihrem Leben die größte Sehnsucht nach ihrer Familie hatte, würde Tausende von Meilen entfernt zwischen irre zuckenden Lichtern und Robs lärmenden Verwandten sitzen und dieses seltsame Zeug essen, das Tante Daphne in der Küche zubereitete und als Moose Munch, also Elchfutter bezeichnete, Popcorn mit Karamell und Nüssen. Momentan sah es eher aus wie Elchdung, und Charlotte mochte außerdem kein Elchfutter, sie gierte nach Lebkuchen und Gänsebraten mit Rotkohl wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Die Hormone, garantiert …
»Hey, Honey, was ist denn?« Rob stand vor ihr und sah sie erschrocken an. »Alles okay?«
»Ja. Nein. Nicht so richtig.« Sie wischte sich über das Gesicht. »Ich habe nur Heimweh. Weihnachtsheimweh. Zu Weihnachten werden wir Deutschen immer ein bisschen rührselig.« Sie versuchte zu lachen, aber es klang ziemlich kläglich. »Meine Eltern besuchen kurzfristig meine beiden Schwestern. Heute sind sie bei Emily in Berlin und morgen fliegen sie zu Anne nach London«, erklärte sie ihrem Mann.
»Echt?« Rob riss erstaunt die Augen auf.
»Das haben sie wohl heute erst spontan entschieden, ich verstehe es selbst nicht so richtig. Mein Vater hat eigentlich total Angst vor dem Fliegen.« Sie schniefte. »Mich besuchen sie natürlich nicht. Ich wohne eben viel zu weit weg.«
»Sei nicht traurig.« Rob umarmte sie und drückte sie fest an sich. »Ich verspreche dir, dein erstes amerikanisches Weihnachten wird so großartig, dass dein Heimweh gar keine Chance hat. Und irgendwann feiern wir auch mal mit deinen Eltern, garantiert. Wenn unser kleiner Mann hier ein bisschen älter ist.« Er drückte Connor einen Kuss auf die Stirn.
»Na klar.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Machen wir.« Wann das passieren würde, stand in den Sternen. Aber man durfte ja wohl noch träumen.
»Meine Eltern haben sogar eine Überraschung für dich«, flüsterte Rob ihr ins Ohr. »Eigentlich solltest du es ja erst morgen erfahren, aber sie haben einen echten deutschen Stollen für dich besorgt. Ein Riesending, zwei Kilo schwer. Damit du dich wie zu Hause fühlst. Freust du dich?«
»Und wie.« Charlotte presste ihr Gesicht an Robs Schulter, damit er nicht sah, dass ihr schon wieder die Tränen kamen. Sie konnte Stollen nicht ausstehen, war über die Geste von Robs Eltern jedoch zutiefst gerührt, weil der Stollen sie tatsächlich an zu Hause erinnern würde und an Oma, die das Gebäck so sehr liebte, und schließlich an die Tatsache, dass es unter Umständen Omas letztes Weihnachten in ihrer Familie war, das sie nun verpasste und …
Ihr Handy klingelte. Ihre Eltern riefen an, wahrscheinlich aus Berlin. Auf gar keinen Fall durften sie Charlotte anmerken, dass sie geweint hatte. Sie wischte die restlichen Tränen an Robs Pullover ab – zum Glück war es ja nicht der kostbare Christmas Sweater – und wappnete sich für das bevorstehende Gespräch. Lächeln, nicht weinen. Durchatmen, fröhlich sein. Hoffentlich spielten sie in Deutschland nicht irgendeine sentimentale Weihnachtsmusik im Hintergrund, das würde sie nicht ertragen. Sie ging ran.
»Hallo?«
Lautes Bellen dröhnte aus dem Handy und traf ihr völlig unvorbereitetes Trommelfell mit der Wucht einer Handgranate. Etwas schepperte laut, und das Bellen nahm hysterische Ausmaße an.
»Frohes Fest, meine Süße!«, brüllte die Stimme ihres Vaters. »Sorry, das Handy ist eben … warte mal …«
Er klang irgendwie ein bisschen verschwommen. Lag das an der Verbindung?
»Hab’s wieder«, ertönte seine Stimme erneut. »Rutschiges kleines Miststück, fällt einfach runter. Also, ein frohes Fest wünschen wir dir heute schon. Wir feiern nämlich zwei Mal. Heute ist unsere erste Runde Heiligabend, haha. Also Merrikrstmas, the erste Runde, für deine Amis«, nuschelte er noch hinterher. »Wir haben sogar zwei Bäume, denn wir sind keine Spießer.«
War er etwa betrunken? »Ist alles okay, Papa?«
»Alles bestens, mein Engelchen. Wir feiern hier ganz wunderbar bei Emily und Mama und Oma und Kral, ich meine Karl, und mit Simon und Garfunkel und mit Jannik und mit … wie war noch mal dein Name?« Es klirrte lebensgefährlich hinter ihm.
»Simon und Garfunkel? Wer ist das? Und wer ist Karl?«, fragte Charlotte verblüfft.
»So kleine Tiere. Mit Fell dran. Flinke Biester, das sag ich dir. Und Karl ist ein Punk. Also, war er früher mal. So wie ich auch.«
»Nein, du warst ein Hausbesetzer«, erklang Omas Stimme im Hintergrund. »Das ist was anderes.«
»Ist essenziell dasselbe«, korrigierte sie Charlottes Vater. »Aus, Ralfi! Nicht die Linzer Plätzchen!«
Du lieber Himmel, was war denn da los? Es war überhaupt nicht das Gespräch, das Charlotte erwartet hatte. Aber irgendwie war es genau das, was sie jetzt brauchte.
»Es ist toll, dass ihr Anne morgen besucht«, gelang es ihr, ihrem Vater über das beleidigte Winseln eines Hundes hinweg zuzurufen. »Mensch, Papa, dass du dich in ein Flugzeug setzt, kann ich kaum fassen. Ich bin stolz auf dich!«
»Ach, das kriege ich schon hin«, nuschelte er. »Wir müssen unsere Töchter zu Weihnachten alle gleich behandeln, nicht wahr? Das sagt Mama auch. Alle unsere Töchter, wohlgemerkt. Schließlich weiß ich haargenau, wie viele ich habe – nämlich drei.« Er lachte und hustete gleichzeitig. »Wir haben unsere Pässe nicht umsonst mitgenommen.« Jetzt lachte er noch mehr.
Was sagte er da? Hatte Charlotte das richtig verstanden? Alle drei Töchter? Pässe?
»Ihr habt eure Pässe mitgenommen?«, fragte sie langsam.
»Ja, klar. Die Oma auch. Die hat sogar ihren Rentenausweis dabei. Gibt’s in Amerika eigentlich auch Seniorenrabatt?«
Charlotte stutzte, dann fing ihr Herz vor Freude an, wie wild zu klopfen. Konnte das sein? Was genau wollte ihr Vater ihr da auf eine etwas merkwürdige Weise mitteilen?
»Verstehe ich dich auch richtig, Papa?«, hakte sie nach. »Ihr wollt alle eure Töchter besuchen?«
»Achtung, der Baum kippt um!«, rief eine Männerstimme jetzt von irgendwoher, und Charlotte hörte, wie ihre Schwester Emily etwas antwortete, das im allgemeinen Lärm unterging.
»Was?« Ihr Vater nahm geräuschvoll einen Schluck. »Ja, unsere Töchter sind uns alle gleich viel wert, natürlich. Wir machen da keinen Unterschied. Der restliche Rum steht auf dem Kühlschrank, Karl. Was sagte ich gerade? Ach ja – irgendwann muss ich meine Flugangst ja mal überwinden, nicht wahr? Also warum nicht zu Weihnachten, um meine Töchter zu sehen? Bei den Engländern und Amis feiert man ja eh erst am Fünfundzwanzigsten, da flitzen wir einfach hin und her, so lang ist der Flug sowieso nicht. Ups. Was ist denn, Mutter? Was soll ich nicht erzählen?«
»Um meine Töchter zu sehen«, wiederholte Charlotte leise und wie unter Schock. Ihre Eltern wollten auch sie besuchen kommen! Offenbar sollte es eine Überraschung werden, aber da ihr Vater schon ziemlich angeschickert war, hatte er es aus Versehen preisgegeben.
»Oh mein Gott, Papa, ich fasse es nicht!«, platzte es aus ihr heraus. »Ist das euer Ernst? Wann genau kommt ihr an? Deshalb fliegt ihr über London, stimmt’s? Jetzt verstehe ich das erst. Weißt du, wie glücklich ich jetzt bin?«
Sie stieß einen kleinen Jubelschrei aus. Der Flug von London nach Seattle dauerte immerhin zehn Stunden. Ob ihr Vater das überhaupt wusste? Egal. Sie durfte ihn bloß nicht mit der Nase darauf stoßen. Was er da gerade gesagt hatte, war einfach so toll, so umwerfend, dass Charlotte am liebsten die ganze Welt umarmt hätte.
»Papa, du bist der Beste! Dass du das für mich machst! Ich war schon so traurig, ich hätte vorhin fast geheult vor Heimweh, aber jetzt kommt ihr und alles wird gut. Ich bin so glücklich! Connor wird sich auch freuen, alle werden sich freuen. Rob!« Sie drehte sich fassungslos zu ihrem Mann um, diesmal mit Freudentränen im Gesicht. »Rob, stell dir mal vor, was mein Dad mir gerade verraten hat«, rief sie ihm auf Englisch zu. »Meine Eltern kommen auch zu mir! Das ist echt die beste Überraschung der Welt. Warte mal kurz, Papa.« Sie legte das Handy auf eins der Sofakissen, um den völlig verdutzten Rob in die Arme zu nehmen und zu küssen.
»Charlotte? Hallo? Äh, Charlotte? Ähm, ach du meine Güte, was hab ich denn jetzt …?«, erklang es leise aus dem Handy. Leider hörte Charlotte das nicht mehr, weil Connor in diesem Moment lautstark gegen die stürmische Umarmung seiner Eltern protestierte und die Verbindung am anderen Ende unterbrochen wurde.