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Stille Nacht, die erste |
Julia merkte sofort, dass irgendwas nicht stimmte. Franks verwirrt reumütiger Gesichtsausdruck sprach Bände, auch die Art, wie er sich verlegen am Kopf kratzte und verängstigt sein Handy anstarrte, als ob gleich Tentakeln herauskriechen und sich um seinen Hals schlingen würden.
Die anderen hatten natürlich nichts mitgekriegt. Dieser Karl tanzte zu dem Weihnachts-Gedudel aus dem Radio leicht schwankend auf der Stelle, und Emily und Mr Barfuß waren ins Zimmer gekommen und stritten immer noch leise und zischelnd. Der andere Typ hatte sich den zweiten Plätzchenteller vorgeknöpft und Franks Mutter Elisabeth bemühte sich, die aufdringliche Liebe des großen schwarzen Hundes namens Ralfi abzuwehren, ohne dabei handgreiflich zu werden.
»Was ist los?«, fragte Julia ihren Mann.
»Ich glaube …«, setzte er an und verstummte.
»Du glaubst?«
»An das Christkind?«, scherzte Karl und schwenkte seinen Becher. Ein großer Schwapp Punsch klatschte auf den Fußboden, wo er sich friedlich mit den sämtlichen anderen über die Jahre hinweg verkippten Flüssigkeiten vereinte.
»Ich glaube, ich habe aus Versehen etwas … äh … Blödes gemacht. Gesagt, meine ich.«
»Was denn um Himmels willen?«
Julia ließ Frank nicht aus den Augen. Er griff mechanisch nach seinem Becher, bemerkte dann ihren Blick und stellte ihn schuldbewusst wieder ab, ohne einen Schluck zu trinken.
»Was hast du zu Charlotte gesagt? Ist sie traurig, weil wir ihre Schwestern besuchen, ist es das?«
Julia hätte ihn am liebsten geschüttelt. Warum stand er da wie der Hofnarr außer Dienst und rückte nicht endlich mit der Sprache heraus?
»So was in der Art«, murmelte er endlich. »Ich hab irgendwie … also ihr könnt mich totschlagen, aber ich weiß echt nicht, wie das passieren konnte, also ich habe ihr gesagt, dass wir sie übermorgen besuchen kommen. Und jetzt freut sie sich.« Er hob entschuldigend die Hände. »Kann man ja auch verstehen.«
Julia fehlten einen Moment lang die Worte. Sie hatte das Gefühl, diese kleine Szene hier von außen zu betrachten, ein verfremdetes Krippenspiel ohne Jesusbaby, dafür mit einem riesengroßen Esel an der Glühweintränke. »Wieso hast du das denn getan?«, gelang es ihr endlich zu fragen.
»Ich weiß auch nicht«, kam es kläglich von Frank zurück. »Es hat sich so ergeben.«
»Krass.« Das kam von Emily. Es klang bewundernd.
Karl lachte auf, der Typ mit dem unverständlichen Namen hielt im Kauen inne. Elisabeth befreite sich energisch von den Pfoten des anhänglichen Ralfis.
»Was genau hat Charlotte geantwortet?«, erkundigte sich Elisabeth mit der ihr eigenen praktischen Ader.
»Sie hat sich natürlich wie verrückt gefreut, logisch. Ich glaube, sie hat vor Freude fast geweint. Ich weiß selber nicht, warum ich aufgelegt habe, vor Schreck wahrscheinlich.« Frank fluchte leise. »Jetzt wundert sie sich natürlich, warum ich nicht mehr am Apparat bin. Ich muss sie zurückrufen.«
Wieder betrachtete er sein Handy voller Horror, als hielte er einen der Molotowcocktails aus seiner glorreichen Jugend in der Hand.
Das durfte doch nicht wahr sein. Julia gab ein entnervtes Schnauben von sich.
»Natürlich müssen wir sie zurückrufen und dieses Missverständnis aufklären. Wahrscheinlich hat sie sowieso schon gemerkt, dass du betrunken bist.«
»Ich bin nicht betrunken. Ich bin angeheitert und es ist Weihnachten. Also fast. Das erste Weihnachten, du hast es selbst so genannt.« Er klang aufmüpfig.
»Willst du dich jetzt mit mir streiten?«
»Ich streite nicht. Ich erkläre dir nur, warum ich recht habe.«
Hatte der Mensch da noch Töne? Und ob sie sich stritten! Würde dieses chaotische Weihnachten etwa in einem fetten Familienkrach enden, mit diversen Vertretern der autonomen Szene Berlins als Zuschauern?
»Du rufst Charlotte jetzt sofort zurück und erklärst ihr das Missverständnis«, verlangte Julia. »Du hast uns das schließlich eingebrockt.«
»Nein, das kann ich nicht. Da tut sie mir leid. Das will ich ihr nicht antun.«
»Dann mach ich es eben«, erklärte Julia und griff nach dem Telefon. Doch das lag plötzlich schwer wie ein Stein in ihrer Hand. Sollte sie ernsthaft ihre Älteste zurückrufen, die gerade am anderen Ende der Welt vor Glück durch das Zimmer tanzte? Sollte sie genau dieses Glück mit dem Axthieb eines: »Kommando zurück, wir kommen doch nicht, war nur ein alberner Scherz von deinem betrunkenen Vater, haha« zertrümmern? Und da war ja auch noch Connor. Dieses wunderbare kleine Wesen, das plötzlich in greifbare Nähe rückte. Fast konnte Julia schon seine winzigen Fingerchen spüren, die sich um ihren Zeigefinger schlangen. Sie ließ das Handy wieder sinken.
»Soll ich sie vielleicht anrufen?«, erkundigte sich Karl. »Ich bin gut mit so zwischenmenschlichem Kram. Ich hab früher mal bei der Telefonseelsorge gearbeitet.«
»Auf gar keinen Fall.« Das fehlte noch. »Also, ich meine, unsere Charlotte kennt Sie ja nicht mal«, versuchte Julia ihrer Bemerkung die Schärfe zu nehmen, als sie seinen gekränkten Blick bemerkte.
»Ich wüsste da eine Lösung«, kam es unerwartet von Elisabeth und alle drehten sich zu ihr um.
»Welche?«, fragte Frank voller Hoffnung.
»Na, die offensichtliche. Wir fliegen wirklich hin. Wir sind morgen sowieso schon in London. Von Heathrow aus gibt es sicher einen Flug nach Seattle. Die sind neun Stunden in der Zeit zurück, und wenn wir am Fünfundzwanzigsten mittags losfliegen, kommen wir noch rechtzeitig am ersten Weihnachtsfeiertag in Amerika an. Lustig irgendwie, wenn man mal darüber nachdenkt, auch wenn ich das mit der Zeitverschiebung nie so richtig kapiert habe. Rein theoretisch würde man ja nie älter werden, wenn man immer in die Vergangenheit reist, oder?«
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Dann lachte einer der Anwesenden schallend auf. Es war Frank.
»Lustig«, keuchte er. »Wirklich, das ist lustig. Da fliegen wir einfach hin, sagt sie. Haha.« Sein Lachen erstarb allerdings in einem kleinen Gurgeln, als niemand mitlachte. »Nee«, sagte er. »Das ist nicht euer Ernst … Ist das etwa euer Ernst?«
Julia konnte ihm ansehen, dass ihm der Gedanke, weitere endlose Stunden in einem Flugzeug zu sitzen, in etwa so willkommen war wie ein Blinddarmdurchbruch.
»Ich finde …«, fing sie an, doch jetzt redeten schlagartig alle durcheinander.
»Ich wollte früher auch irre gern mal nach New York. Ist nur immer was dazwischengekommen.« Karl seufzte.
»Seattle«, korrigierte ihn Julia mechanisch.
»Ich finde, das ist eine super Idee.« Elisabeth sah sich Beifall heischend um. »Und wenn ich achtzigjährige Schachtel so einen Flug aushalte, dann du ja wohl auch, Frank. Und was die Tickets angeht – die werden mein Weihnachtsgeschenk für euch. Hab bislang sowieso nur Duftkerzen und einen Schlips besorgt.«
»Mutter, das ist völlig absurd«, versuchte Frank zu Wort zu kommen, aber jetzt fielen die Hunde mit wildem Gebell in die Diskussion ein und hatten wohl beschlossen, dass dies ein guter Zeitpunkt sei, die Weihnachtsfeier mit einer kleinen Jagd durch das Zimmer aufzumischen. Ralfi rammte den kleinen Tisch und das Bäumchen flog in hohem Bogen auf den Boden, wo sich die Hunde wie die Irren darauf stürzten und die Hundekekse in Windeseile abfraßen.
Julia schloss einen Moment lang gestresst die Augen. Vielleicht war es ja gar nicht so schlecht, wenn sie einen großen Ozean zwischen sich und diese WG bringen konnten?
»Und warum nicht?«, verschaffte Elisabeth sich in dem allgemeinen Lärm Gehör. »Was ist daran so schwierig?«, fragte sie ihren Sohn. »Du musst nur meine Kreditkarte hier nehmen und an deinem Laptop drei Tickets von London nach Seattle buchen. Und übermorgen früh setzt du dich in London in ein Flugzeug, kippst ein paar Whiskys und schläfst danach ein, und wenn du aufwachst, ist immer noch Weihnachten und wir treffen unsere liebe Charlotte. Ist dir schon jemals der Gedanke gekommen, dass ich meinen kleinen Urenkel vielleicht noch mal sehen möchte, bevor ich in den ewigen Jagdgründen verschwinde?«
Augenblicklich wurde es still im Zimmer. »Freue dich, du Christenheit«, trällerte eine Frauenstimme inbrünstig aus dem Radio. Der Typ, dessen Namen Julia immer noch nicht wusste, verdrehte die Augen, stand auf und schaltete das Gerät aus.
»Vier Tickets«, sagte Emily in die jäh eingetretene Stille hinein. »Kannst du uns auch vier Tickets spendieren, Oma? Und noch eins für mich nach London. Ich möchte mit.«
»Ich auch«, rutschte es Julia heraus. »Mein Gott, klar will ich mit. Ich meine – stellt euch das mal vor! Wir könnten übermorgen schon dort sein und feiern ein drittes Mal Weihnachten! Wäre das nicht irre? Und so was von spontan!«
Das galt Frank. Der stand immer noch mitten im Zimmer, und sein Gesichtsausdruck wechselte ständig von Belustigung zu Verzweiflung und wieder zurück.
»Ihr wollt echt in die Staaten fliegen?«, sagte Emilys barfüßiger Freund. »Ich fasse es nicht. Und ausgerechnet du, Emily? Ich sage nur ein Wort: Flugzeugemissionen. Hast du gar kein schlechtes Gewissen? Gibt es da keine Alternative?«
»Ja, wie denn sonst, junger Mann?«, schnappte Elisabeth. »Sollen wir etwa mit den Wildgänsen fliegen? Mit der Titanic rüberschippern? Oder barfuß da hinpilgern?«
»Mit dem Auto geht auch schlecht«, gab Karl seinen Senf dazu. »Nach Amerika gibt es schließlich keinen Tunnel oder so.«
»Das weiß ich«, fuhr Jannik ihn an.
»Autos verbrauchen auch viel zu viel Benzin.« Karl ließ sich nicht beirren. »Pferde wären gut, also rein theoretisch. Pferde sind ja so was wie vegane Autos, wenn man es genau betrachtet. Das würde Jannik gefallen und schwimmen können sie auch und …«
»Karl, lass gut sein, okay?«, ging Jannik dazwischen.
Emily arbeitete sich zu ihrem Vater vor. »Papa, komm. Gib dir einen Ruck. Du hast drei Töchter, denk dran. Wie Oma gesagt hat – es ist ganz einfach.«
»Nee, so einfach ist das nicht«, meldete sich jetzt zu ihrer aller Verblüffung der dritte Typ. »Ihr braucht dieses Ding da. Das ESTA. Sonst lassen sie euch nicht rein. Und das muss man vorher beantragen.«
Diesen Moment nutzte Ralfi, um die eben verschlungenen Hundekekse allesamt wieder herauszuwürgen.
Aus der Küche wehte jetzt ein unangenehmer Geruch herüber.