17 |
We Wish You a Merry Christmas |
»Alter! Du siehst heute Morgen aus, als ob du hauptberuflich Blut spenden würdest!« Karl schlug Frank begeistert auf den Rücken. »Alles stabil bei dir?«
Frank antwortete nicht, sondern bedachte Karl mit einem leidenden Blick. Tatsächlich wechselte seine Gesichtsfarbe zu dieser frühen Stunde ununterbrochen von talgbleich über ein kränkliches Grau bis zu einem unguten Grünton. Er hockte in eine Decke gehüllt in der WG-Küche und nahm in regelmäßigen Abständen kleine Schlückchen von einem viel zu starken Kaffee zu sich, den Emily ihm gekocht hatte. Nichts erinnerte mehr an den Partylöwen von gestern Abend, der sich als drittes Bandmitglied versucht und lauthals beim Jingle-Bell-Rock mitgesungen hatte, während er mit Essstäbchen auf den Tisch trommelte. Jedenfalls so lange, bis die Leute von oben an die Decke klopften.
»Uh«, brachte er endlich heraus. »Mir geht’s gar nicht gut. Wann müssen wir los?«
Julia sah auf die Uhr. »Der Flug geht um zwölf, also müssen wir um zehn Uhr einchecken. Jetzt ist es Viertel nach neun. Ich würde mal sagen, in den nächsten zehn Minuten sollten wir fahren.«
»Oh Gott! Oh Gott«, wimmerte Frank leise. »Wollt ihr alleine fliegen? Ich fahre einfach mit dem Auto hinterher. Durch den Eurotunnel, dann bin ich irgendwann später auch in London.«
»Irgendwann ist das richtige Wort. Vergiss es. Wir haben es versprochen und wir werden um 13:00 Uhr bei Anne in London sein. Hier, nimm eine Aspirin.« Julia wühlte in ihrer Handtasche und reichte ihm eine Tablette. »Du schaffst das. Runter mit dem Kaffee.«
»Okay. Ich geh nur mal ins Bad. Ich komme gleich wieder.« Frank stand auf und schlich so langsam aus dem Zimmer, als ob er sich auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung befände.
In diesem Moment holte Emily etwas aus der Tasche, löste eine Tablette aus einem Blister und warf sie ihrem Vater blitzschnell in die Tasse. Dann rührte sie hektisch um.
»Emily! Was ist das?«, fragte Julia erschrocken.
»Abführmittel?« Karl lachte so sehr in seinen Kaffee hinein, dass er ihn beinahe umschmiss.
»Sei still«, zischte Emily ihn an. »Es ist nichts, Mama, ehrlich. Nur ein kleines Beruhigungsmittel. Für die Reise und für die Nerven.«
»Was für ein Beruhigungsmittel denn, um Himmels willen?«
»Etwas ganz Harmloses, echt. Rein pflanzlich. Haben wir schon oft benutzt.«
»Wir? Wer ist wir?«
Doch in diesem Moment kam Frank zurück. Er wirkte etwas frischer und trug den neuen Pullover.
»Okay«, sagte er mit erzwungener Munterkeit. »Dann machen wir uns mal auf den Weg.« Er blies in den Kaffee, rührte ihn um und trank ihn aus. »Hm.« Er leckte sich kurz über die Lippen. »Der Kaffee schmeckt irgendwie komisch. Oder sind das diese verschrumpelten Fair-Trade-Kaffeebohnen, die ihr immer benutzt?«
Julia suchte Emilys Blick. Doch die wich ihr aus, was Julia gar nicht gefiel. Was war das für ein Zeug?
»Du bist nur verkatert«, sagte Emily und nahm ihm die Tasse ab. »Wirst mal sehen, der nächste Kaffee am Flughafen schmeckt dir schon besser.«
Frank zuckte zusammen, als ob die bloße Erwähnung dieses Ortes ihn in seelische Abgründe stürzen würde, und klammerte sich an die Stuhllehne.
»Frank.« Julia löste seine Hände. »Der Stuhl bleibt hier. Auf geht’s.«
Am Flughafen Tegel tanzte an diesem Morgen bereits der Berliner Bär. Sie drängten sich an Familien mit Taschen und Geschenken vorbei, an Geschäftsleuten, die bis zur letzten Sekunde noch Deals verhandelt hatten und nun in den Flughafenshops gehetzt nach Geschenken suchten, an jungen Leuten mit Rucksack, die über die Feiertage nach Hause flogen, an jungen Eltern, die mit ihren Kinderwagen Schneisen durch die Menge pflügten, und an Hunderten von Menschen, die sich begrüßten oder verabschiedeten, um irgendwo anders Weihnachten zu feiern. Julia entdeckte sogar eine Traube erwartungsfreudiger Urlauber, die trotz des kalten Berliner Schmuddelwetters in Bermuda-Shorts auf ihren Fug warteten, um am Heiligen Abend an einem fernen Strand unter Palmen zu sitzen.
Überall fröhliche Gesichter und Festtagsstimmung, überall in den Schaufenstern der Flughafenläden Weihnachtsschmuck, Kugeln und Tannenzweige. Ein als Weihnachtsmann verkleideter Flughafenangestellter verteilte kleine Schokoladen-Nikoläuse an überdrehte Kinder.
»Wart ihr denn auch alle artig?«, rief er immer wieder in die Menge.
»Na klar!«, rief ein Mann in dicker Winterjacke zurück und lachte sich halbtot.
Vor Julia schleppte Frank sein Handgepäck und zog die Reisetasche hinter sich her, hinter ihr schlurfte Emily mit einem kleinen Rucksack. Julia selbst zog eine weitere Reisetasche auf Rädern und hatte sich noch Elisabeths Gepäck über die Schulter gehängt, damit die alte Frau nicht so schwer tragen musste. Trotzdem hatte sie das Gefühl, schneller vorwärtszukommen als Frank, denn sie stolperte dauernd in ihn hinein.
»Sag mal, was schleppst du denn eigentlich so Schweres in deinem Handgepäck?«, fragte sie schließlich ungehalten. »Du kommst ja überhaupt nicht voran.«
»Die Gans natürlich«, schnaufte er. »Die lass ich doch nicht einfach zurück. Die ist ja noch roh, dieser blöde Ofen bei Emily ging ja plötzlich nicht mehr. Der war noch von vor der Wende.«
Julia blieb stehen. »Das ist nicht dein Ernst. Du hast die rohe Gans dabei? Warum hast du die nicht dort gelassen? Die hätten sie noch essen können.«
Frank drehte sich um. »Die Jungs in der WG waren alle Veganer, falls dir das nicht aufgefallen ist. Die hätten ja sogar den Kartoffelsalat fast nicht angerührt, wegen dem Ei und der Mayonnaise. Was meinst du, was die mit meiner Gans gemacht hätten, hm? Wahrscheinlich zurück auf den Bauernhof gebracht. Auf jeden Fall nicht raffiniert zubereitet. Wie auch – ganz ohne Ofen?«
»Karl war kein Vegetarier«, wandte Julia ein.
»Karl ist ein … ein sehr netter Mensch, aber offen gestanden halte ich ihn für komplett unfähig, auch nur ein Spiegelei zu braten. Geschweige denn eine Weihnachtsgans mit einer Füllung aus Backpflaumen und Portwein. Die Gans kommt mit, und fertig. Anne wird sich freuen.«
»Aber die werden dein Handgepäck durchleuchten. Was meinst du, was los ist, wenn die auf einmal ein Tierskelett in diesem Röntgending sehen?« Julia war auf dem besten Weg, sich fürchterlich aufzuregen. »Die halten dich für verrückt.«
»Es ist erlaubt, ich habe mich extra heute Morgen im Internet kundig gemacht«, erklärte Frank. »Noch ist England in der EU, und da darf man Fleisch einführen. Solange es nur für den eigenen Verzehr gedacht ist. Und verkaufen will ich meine leckere Gans ja dort weiß Gott nicht!«
»Trotzdem ist es peinlich. Wir tun einfach so, als ob wir nicht dazugehören«, raunte Elisabeth Julia zu. »Am besten, er geht mit seinem Skelett zuerst durch und wir schlendern dann später hinterher. Noch ein Käffchen für die Nerven, Frank?« Beim letzten Satz wurde ihre Stimme wieder lauter.
Emily kicherte leise und Julia wurde das Gefühl nicht los, dass ihre Schwiegermutter von Emily von Anfang an in das seltsame Beruhigungsmittel eingeweiht gewesen war.
Julia setzte kurz die schwere Tasche ab und sah sich um. Von einem Werbeplakat her lachte eine gut aussehende Großfamilie unterm Weihnachtsbaum auf sie herunter – adrette kleine Mädchen in Samtkleidern, ein verspielter Labradorwelpe, der sich im Geschenkpapier verheddert hatte, Mama und Papa entspannt und lässig und die Großeltern komplett faltenfrei und nur durch ihre weißen Haare als solche zu erkennen. Okay, ganz so würde es bei ihnen nicht ablaufen. Nichtsdestotrotz – es war Weihnachten. Ihnen standen eine große Reise und jede Menge Trubel bevor, doch Anne brauchte ihren Beistand und am Ende der Reise warteten der kleine Connor, Julias älteste Tochter und ein Rattenschwanz unbekannter amerikanischer Verwandter auf sie. Sie sollte wirklich ihre Nerven schonen. Oder wenigstens für größere Aufregungen in Bereitschaft halten. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass davon noch einige auf sie lauerten.
Julia seufzte kurz und betrachtete die Schlange, die sich vor dem Souvenirladen gebildet hatte. Was die Leute nur alle in letzter Minute noch kaufen wollten? In dem Moment fiel ihr ein, dass sie überhaupt kein Geschenk für Bernie und Doreen besorgt hatten. So ein Mist!
»Frank!«, sagte sie. »Wir haben ein Problem.«
»Julia, jetzt lass meine Gans in Ruhe, ich bitte dich. Du musst dich überhaupt nicht damit befassen, ich …«
»Das meine ich nicht«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Wir brauchen noch was, ein Mitbringsel oder ein Geschenk für die Miller-Familie. Das haben wir total vergessen. Wir können nicht ohne etwas dort aufkreuzen. Wie sieht das denn aus?«
»Und wo sollen wir jetzt noch was herkriegen?«
»Dort.« Sie deutete auf den Souvenirladen. »Du kaufst schnell etwas, irgendwas typisch Deutsches. Und wir stellen uns inzwischen beim Security-Check an.«
»Was typisch Deutsches?« Frank verdrehte hilflos die Augen. »Und was soll das sein?«
»Du wirst schon was finden. Wir warten bei Flugsteig neun.« Sie hob die Tasche wieder hoch. »Da vorn ist es, ich kann es schon sehen.«
Sie reihten sich in die Schlange vor dem Sicherheitscheck ein. Unglaublich, wie viele Leute heute Morgen nach London flogen. Was wollten die alle dort? Hatten die kein Zuhause? Julia trippelte von einem Fuß auf den anderen, bis ihr klar wurde, dass sich Franks Nervosität wie durch Osmose auf sie übertragen hatte. Während er ergeben und mit hängenden Schultern zum Souvenirladen getrottet war und dabei sogar gegähnt hatte, wurde Julia immer hibbeliger. Sie versuchte sich abzulenken und beobachtete die zweite Schlange links von ihr, die sich vor der Personenkontrolle gebildet hatte. Weihnachten oder nicht – das Personal wühlte ungerührt in Taschen herum auf der Suche nach selbst gebastelten Bomben und Shampooflaschen, vor ihnen ein endloser Reigen aus Bäuchen und Gürteln, verschwitzten Füßen, Schlüsseln und Laptops.
Hinter Julia tippte Emily hastig auf ihrem Handy herum. Schrieb sie diesem Jannik eine Nachricht? Julia hätte ja wetten können, dass zwischen den beiden irgendwas lief. Zumindest von Emilys Seite aus. Die schien ganz vernarrt in den zu sein.
»Schreibst du an Jannik?«, wagte sie einen Vorstoß.
Emily sah überrascht auf. »Wieso?«
Wieso? Was für eine merkwürdige Frage.
»Na, weil …« Mist. »Weil ich das Gefühl habe, dass da was zwischen euch ist.«
»Nein. Da ist nichts.«
Emilys Antwort kam zu schnell und zu abrupt. Julia ahnte, dass ihre Tochter sich vielleicht etwas mehr nach Jannik sehnte als dieser sich nach ihr. Das tat ihr natürlich leid, andererseits verspürte sie eine gewisse Erleichterung. Jannik war ja ganz nett, gestern Abend hatte er sie jedenfalls alle überrascht und mit seiner Musik Elisabeths Herz im Sturm erobert, aber so richtig passte der nicht zu Emily. Und wie schnell Schwiegersöhne in spe wieder von der Bildfläche verschwanden, das hatte sie ja gerade bei Anne miterlebt. Daher entschied sie sich für den Spruch, den ihre eigene Mutter bei solchen Gelegenheiten immer losgelassen hatte.
»Er scheint ein netter junger Mann zu sein.« Das passte immer. Mochte man denjenigen, so war der Kommentar vage genug, um nicht zu enthusiastisch zu wirken. Mochte man ihn nicht, löste man mit dieser Bemerkung hoffentlich den Widerspruch der störrischen Tochter aus, die ja kaum einen Mann mögen konnte, den ihre eigene Mutter gut fand, und sorgte damit für ein baldiges Ende der unliebsamen Beziehung.
»Ja, ist er«, murmelte Emily. »Meistens. Aber er ist in jemand anders verknallt.«
Julia durchforstete ihr Gehirn in Windeseile nach einer passenden Antwort – Freude oder Bedauern äußern? –, als Emily auch schon weitersprach.
»Da kommt Papa zurück. Was schleppt der denn alles?«
Julia fuhr herum. Zusätzlich zu seiner schweren Tasche war Frank jetzt mit zwei riesigen Tüten beladen. Was um alles in der Welt hatte ihr Mann da gekauft?
»Was typisch Deutsches«, rief er begeistert, während er näher kam. »Ihr werdet staunen.« Er griff in die erste Tüte. »Echter Dresdner Stollen. Ein Kilo schwer, das reicht für die alle.«
»Einen Stollen?« Julia schloss kurz gequält die Augen. Dieses Gebäck verfolgte sie wie ein verdammter Stalker, nirgends war sie vor ihm sicher.
»Und dann noch das hier …« Frank kicherte voller Vorfreude, während er etwas Unförmiges aus der zweiten Tüte zog.
Im ersten Moment glaubte Julia, dass er eine Babypuppe besorgt hatte, doch dann fiel ihr die Kinnlade herunter. »Was zum Geier ist das, Frank?«
»Ein Gartenzwerg. Deutscher geht’s nicht. Das Modell Angie!« Er lachte sich halb kaputt. »Siehst du nicht, wem der ähnlich sieht?«
»Du hast einen Gartenzwerg mit dem Gesicht der Merkel gekauft?« Selbst Emily stand nun der Mund offen. »Papa! Was für ein krasser Scheiß ist das denn?«
»Wieso? Das ist total lustig. Das gibt es bei den Amis bestimmt nicht, wollen wir wetten? Wo bleibt euer Humor?« Er stopfte den Zwerg beleidigt in die Tasche zur Gans.
Ruhig bleiben, zwang Julia sich zur Selbstdisziplin. Ganz ruhig. Einatmen. Ausatmen. Weihnachten. Tannenzweige. Lichterglanz. Kerzenduft. Enkelkind. Frieden auf Erden.
»Next!«, rief die Angestellte am Sicherheitscheck.
Julia konnte es nicht fassen, als sie eine Stunde später tatsächlich neben Frank im Flugzeug saß. Natürlich hatten die Angestellten beim Security-Check die Augen aufgerissen, als sie die unförmige Gans in Aluminiumfolie in seinem Handgepäck entdeckt hatten. Julia hätte schwören können, dass sie daraufhin extra laut und langsam mit Frank geredet hatten. Aber da es in der Tat nicht verboten war, eine Gans zum eigenen Verzehr mitzuschleppen, hatte Frank mit triumphierendem Gesicht seinen Weihnachtsbraten wieder in Empfang nehmen können.
Das leise gemurmelte »… immer wenn du denkst, dass du schon alles gesehen hast, kommt wieder ein Verrückter an …« eines der Flughafenangestellten klang Julia noch in den Ohren, genau wie das wiehernde Gelächter seiner Kollegen.
Aber nun saßen sie hier auf ihrem Platz und Frank las mindestens schon zum siebten Mal die kleine Broschüre aus dem Sitz vor ihm, die ihn in hübschen bunten Bildchen darüber informierte, wie er sich im Fall eines Flugzeugabsturzes zu verhalten habe. Als er sie endlich zurück in den Vordersitz packte, zitterte seine Hand.
»Mach ein bisschen die Augen zu«, schlug sie vor. »Schlaf einfach noch eine Runde.«
Er sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Schlafen!«, schnaufte er. »Als ob ich jetzt schlafen könnte.«
»Nervös?«, erkundigte sich interessiert die Frau, die neben Julia saß.
»Nein«, quetschte Frank genau in dem Moment heraus, als Julia »Total!« sagte.
Die Frau, eine gedrungene Blondine unbestimmten Alters, die sich offensichtlich vor dem Abflug ein paar Ladungen Gucci und Chanel im Duty-free gegönnt hatte, lächelte verständnisvoll.
»Haben Sie zufällig ein Gummiband zum Schnipsen?«, erkundigte sie sich bei Julia.
»Ich glaube, nicht.«
Julia spürte, wie ihr Stresslevel erneut anstieg. War es nicht schon schlimm genug, dass sie sich mit Franks Phobie herumschlagen musste? Hatte das Schicksal ihr jetzt auch noch eine Irre an die Seite gesetzt, die offenbar vorhatte, in Reihe dreiundzwanzig ein wenig Gummitwist zu hopsen?
»Ach, ich glaube, ich habe selbst noch eins.« Die Frau stöberte in ihrer Handtasche herum und ließ mit jeder Bewegung neue Parfümschwaden aufsteigen.
Ich halte das nicht aus, dachte Julia. Sie rutschte auf der ihr zugewiesenen lächerlich kleinen Fläche hin und her, während Frank neben ihr in seinem Sitz verschwand.
»Hier!« Die Frau hielt triumphierend einen kleinen roten Gummi hoch. »Den machen Sie sich ums Handgelenk, und immer wenn Sie Angst bekommen, lassen Sie den Gummi schnipsen, und zwar so richtig, dass es auf der Haut auch ordentlich wehtut.«
Sie demonstrierte es an sich selbst. Mit einem scharfen Knall landete der Gummi auf ihrem puddingartigen Handgelenk und hinterließ einen feuerroten Streifen. Die Frau lachte aus für Julia völlig unbegreiflichen Gründen. Wann flogen sie endlich los? Oder besser noch – wann waren sie endlich da?
Die Nachbarin drängte Frank jetzt den Gummi auf. »Hat mir immer geholfen. Schmerztherapie, sozusagen.«
Voller Widerwillen streifte er sich das Bändchen über sein Handgelenk. Er traute sich wohl nicht, das unwillkommene Geschenk abzulehnen.
»Vielen Dank.« Julia rang sich ein Lächeln ab. Ein Röhren erklang von irgendwo draußen am Flugzeug, und prompt klatschte rechts von ihr der Gummi auf Haut, gefolgt von Franks scharfem Lufteinziehen.
»Sehen Sie? Wirkt prima, nicht?« Die Dame lächelte stolz.
Es folgten die üblichen Abflugzeremonien. Das Aufleuchten und Anschnallen, die pantomimischen Darbietungen der Flugbegleiter und die joviale Begrüßung durch den Piloten. Er wünschte ihnen allen einen guten Flug und drückte die Hoffnung aus, dass sie bald starten konnten. Es klang ein bisschen, als säßen sie alle mit vorn im Cockpit und betätigten gemeinsam den Starthebel. Als befänden sie sich alle auf einem lustigen Klassenausflug in den Vergnügungspark. Ein Klassenausflug, auf dem der Klassenclown ununterbrochen mit einem Gummiband schnipste und alle in den Wahnsinn trieb.
Das Flugzeug hob ab und das Schnipsen nahm ein stakkatoartiges Tempo an. Julia stand kurz davor, Frank das unselige Gummiband vom Handgelenk zu reißen, als das Schnipsen plötzlich von einem anderen Geräusch abgelöst wurde. Ein Röcheln und Schnaufen, dann ein Schnarchen. Julia traute ihren Augen nicht. Frank war im Begriff einzuschlafen! Erschöpft lehnte er seinen Kopf ans Fenster, sein Mund stand offen, der Gummi hing lasch an seinem Arm. Die totale Kapitulation.
»Sehen Sie das?«, wandte Julia sich verblüfft an die Frau neben ihr. »Er ist einfach eingeschlafen. Unglaublich.«
»Super«, freute sich die freundliche Frau. »Den Gummi können Sie behalten, schenk ich Ihnen. Frohe Weihnachten.«
»Danke.«
Julia beugte sich vor, um Emily diesen wunderbaren Erfolg mitzuteilen. Die saß neben ihrer Oma in derselben Reihe auf der anderen Seite des Gangs.
»Emily«, zischelte Julia halblaut. »Elisabeth! Er schläft, hurra!«
»Das war mein Beruhigungsmittel«, flüsterte Emily zurück. »Ich hab dir doch gesagt, dass das gut ist.«
»In der Tat.« Julia fiel ein Stein vom Herzen. »Gib ihm das beim nächsten Flug wieder, okay?«
»Nein, doppelt so viel, wir fliegen ja viel länger«, riet Elisabeth.
Emily hielt den Daumen hoch. »Okay.«
Julia lehnte sich wieder zurück. Gott sei Dank. Gott sei Dank! Gerührt betrachtete sie Frank, der wie ein überdimensionaler Neugeborener neben ihr gurgelte und schnaufte.
Nach einer Weile servierte das Personal ein paar Drinks, die meisten Leute dösten, lasen etwas oder spielten mit ihren Handys herum. Die Anspannung fiel von Julia ab wie ein schwerer Mantel und irgendwann dämmerte sie ebenfalls ein. Jetzt konnte nichts mehr schief…
»Sehen Sie das auch?«, hörte sie die Frau neben sich plötzlich sagen. »Was ist denn das?«
Julia blinzelte und setzte sich aufrecht hin. Die Frau deutete auf den Fußboden im Gang. Dort hatte sich eine kleine Lache ausgebreitet, eine rötliche Brühe, die langsam über den Gang hinweg zu Emily sickerte.
»Da ist irgendwas kaputt.« Die Frau beugte sich vor, um die Flüssigkeit näher zu inspizieren. »Wie das aussieht! So … Sagen Sie mal, ist das Blut?« Sie fuhr erschrocken zurück.
Der Mann in der Reihe vor ihnen vollführte eine hastige Drehung im Sitzen und starrte voller Angst auf die Pfütze. Dann hob er den Kopf.
»Das kommt von da oben«, rief er aufgeregt. »Da blutet irgendwas.« Er sah sich hektisch um. »Excuse me?« Er winkte der Stewardess. »There is … äh … Blut in the Handgepäckfach!«
Aufgeregtes Stimmengewirr erklang aus allen Richtungen, ein paar Leute erhoben sich und sahen über ihre Sitzlehnen in der Hoffnung, einen Blick auf das erwähnte Blutbad zu erhaschen. Eine Stewardess eilte mit professionellem Pokerface herbei und riss mit einem Ruck das Gepäckfach über Julias Reihe auf.
»Wem gehört diese Tasche?«, erkundigte sie sich streng auf Deutsch mit einem starken britischen Akzent.
Oh Gott. Julia sackte immer mehr in ihrem Sitz zusammen. Das durfte jetzt nicht wahr sein. Sie hatte es doch geahnt, verdammt noch mal.
»Uns«, piepste sie unglücklich.
»Was?«
»Meinem Mann«, verbesserte Julia sich rasch. Sie sah überhaupt nicht ein, dass sie jetzt für Franks Blödheit geradestehen sollte.
»Sir?« Noch bevor Julia sie daran hindern konnte, beugte die Stewardess sich rigoros über die Sitze und rüttelte Frank wach. »Sir, Ihre Tasche blutet.«
»Was?« Frank sah sie glasig an. Einen Moment lang ruckte er orientierungslos in seinem Sitz herum, bis ihm offenbar wieder einfiel, wo er sich befand. Ein Ausdruck von Panik trat in sein Gesicht. »Stürzen wir ab?«
»Nein. Aber deine Gans läuft aus«, zischte Julia ihm zu.
»Sir, Sie müssen das in Ordnung bringen«, verlangte die Stewardess nun.
Frank schraubte sich hoch, immer noch halb benebelt und mit verknittertem Schlafgesicht. Die Frau neben Julia glitt eilfertig aus ihrem Sitz, ringsumher reckten die Leute ihre Hälse.
»Ist nur die Füllung von der Gans«, erklärte Frank nach links und rechts. »Kein Grund zur Panik.«
Irgendwo ein paar Reihen weiter hinten machte ein Witzbold das Schnattern einer Gans nach. Eine Frau lachte. Frank holte unter den neugierigen Blicken aller Reisenden seine Tasche aus dem Gepäckfach. Rötliche Flüssigkeit lief an ihren Seiten herunter und tröpfelte auf den Boden. Ein Raunen ging durch die Menge. Frank öffnete die Tasche und packte fluchend alles aus – die nackte Gans in der Alufolie, einen durchweichten London-Stadtführer, ein besudeltes Taschenbuch, einen Pullover, eine Packung zerkrümelte Kekse, eine Orange sowie mehrere Kabel und Stecker zum Aufladen diverser Geräte und zum Schluss einen Gartenzwerg mit Angela Merkels Gesichtszügen.
»Was der alles in seiner Tasche hat!«, rief jemand begeistert.
Frank schob die Gans in der Alufolie hin und her, seufzte und murmelte vor sich hin, ehe er sie schließlich in den Pullover wickelte. Dann packte er alles wieder ein, ganz zum Schluss den Merkel-Zwerg. Jetzt ging die Tasche nicht mehr zu und er fing wieder von vorn an. Mittlerweile gab es wohlgemeinte Ratschläge von den anderen Reisenden.
»Nimm die Merkel auf den Schoß!«
»Die Bücher wegschmeißen, Pullover anziehen.«
»Gans in die Bordküche geben und fertig.«
»Vielleicht fliegt das Ding ja noch. War’s ’ne Fluggans?« Lautes Gelächter.
Frank ließ sich nicht beirren und schichtete störrisch die Gans und den ganzen anderen Krempel hin und her wie in einem Puzzle für Fortgeschrittene, aber der Zwerg passte einfach nicht mehr hinein. Am Ende ließ er ihn draußen und klemmte ihn sich unter den Arm.
»So. Jetzt müsste es gehen.« Er zog den Reißverschluss der Tasche zu. »Sorry«, fügte er noch hinzu, an niemand Bestimmtes gerichtet. Er wuchtete die Tasche wieder hoch und die entnervte Stewardess schloss mit einem Knall das Fach.
»Wir landen in Kürze«, sagte sie. »Bitte schnallen Sie sich an.«
Sie landeten gleich? Julia dämmerte, was das bedeutete. Sie hatten es geschafft! Das Gänse-Drama hatte Frank völlig von seiner Flugangst abgelenkt und jetzt waren sie gleich bei Anne in London. Auf einmal war sie ihm gar nicht mehr böse, dass er die Gans mitgeschleppt hatte, denn irgendwie hatte sie ihm ja auf paradoxe Weise dabei geholfen, seine Ängste zu überwinden. Und vielleicht freuten sich die Amerikaner ja tatsächlich über den Zwerg?
Gerührt drückte Julia Frank einen Kuss auf die Wange, als er sich wieder setzte.
»Die erste Etappe ist gleich geschafft«, flüsterte sie ihm zu. »Das hast du prima gemacht.«
»Meine Damen und Herren, ich habe gute Neuigkeiten für Sie«, meldete sich der Pilot. »Wir haben gerade die Wetterprognose für London erfahren und die Chancen für ein White Christmas stehen heute Nacht ausgesprochen gut.« Ein paar Leute klatschten spontan. »Das letzte Mal gab es im Jahr 2010 weiße Weihnachten in London. Das gesamte Bordpersonal und ich drücken die Daumen und wünschen Ihnen allen ein frohes Fest – und danke, dass Sie alle bis zum Schluss an Bord geblieben sind.« Gelächter brandete auf, und noch bevor Frank die Chance hatte, sich von Neuem in seine Nervosität hineinzusteigern, glitt das Flugzeug im Londoner Nieselregen nach unten und landete dort sanft wie eine Biene auf einer Blüte.