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Jingle Bell Rock |
Es wäre echt toll gewesen, wenn sie noch ein paar Tage in London hätten dranhängen können, dachte Emily. Heute am ersten Weihnachtstag war es in den Straßen und selbst hier im Flughafen am Gate 60 nahezu gespenstisch leer und still. Aber spätestens ab morgen würde sich das ja wieder ändern. Sei’s drum – dafür war sie dank der Zeitverschiebung heute Mittag schon in Amerika, das erste Mal in ihrem Leben! Und dort warteten Charlotte und ihr cooler Mann Rob und natürlich Connor, Emilys süßer Neffe, auch wenn sie sich normalerweise nichts aus Babys mit ihren Schrumpelfingern und Glatzköpfchen machte.
Sie hoffte, dass sie in Seattle irgendwo so ein verrückt geschmücktes Haus sehen würden, wie man es aus amerikanischen Filmen kannte. Auch wenn so was rein technisch gesehen natürlich eine Menge Strom vergeudete und Jannik den ganzen Plastik-Kitsch hasste. Apropos … Sie checkte ihr Handy, um zu sehen, ob er ihr irgendeine Nachricht geschrieben hatte, schließlich teilten sie sich jetzt gewissermaßen das Sorgerecht für vier Hunde, aber da war nichts. Wahrscheinlich schlief er noch, es war ja gerade mal zehn Uhr morgens.
Sie sah kurz nach, wie viele Leute ihr London zu Weihnachten-Foto auf Instagram angesehen hatten, und ihre Laune flaute ein wenig ab. Jannik war schon wach. Denn in ihrem Newsfeed konnte sie seine Kommentare zu den ganzen tollen Hipster-Fotos lesen, die Cat gepostet hatte. Alle von sich selbst vor dramatischem Berghintergrund, logisch, und mit irgendwelchen schmucken Nostalgie-Filtern versehen. Emily ersparte sich die Beschreibungen von Cat, die unter den Fotos zu lesen waren. Lief die Frau eigentlich die ganze Zeit mit einer Filterbrille auf der Nase herum, weil sie die Welt ohne Grün- und Braunfärbung nicht mehr ertragen konnte? Was Emilys eigentliche Aufmerksamkeit erregte, war allerdings der Spruch von Jannik darunter. Von heute Morgen. Wunderschön – wish I was there with you! Das hörte sich nicht so an, als ob die beiden sich gestritten hätten. Wieso war er nicht mit Cat in die Schweiz gefahren? Und warum zum Geier schrieb er ihr nicht auf Deutsch, sondern in diesem albernen Mischmasch? Unterhielten sie sich live auch nur auf Denglisch? Lächerlich.
»Wir bitten Mrs Elisabeth Bachmann zum Informationsschalter«, ertönte plötzlich eine Durchsage. Emily schreckte hoch. Die verlangten nach Oma? Ach, du lieber Himmel, stimmte etwas mit ihrem Pass nicht? Es wäre ja entsetzlich, wenn Oma wieder umkehren müsste!
Emily reckte den Hals und beobachtete, wie ihre Großmutter sich zum Schalter begab und dabei ihren Vater abschüttelte, der sie begleiten wollte. Oma hasste es, wenn man sie wie eine gebrechliche alte Frau behandelte oder, noch schlimmer, wie jemanden, der nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte und einen Vormund brauchte. Papa zuckte mit den Schultern und begab sich zurück zu Mama, um einen Schluck aus einer Wasserflasche zu trinken. Emily durchzuckte es eiskalt. Verdammt, sie hatte heute Morgen ganz vergessen, Papa die zweite Ladung von Ralfis Beruhigungsmittel in den Kaffee zu kippen. Sie waren alle wie kopflose Hühner durch die Wohnung gesaust, damit sie rechtzeitig zum Flughafen kamen und nichts vergaßen und in Annes Abwesenheit nichts anbrannte, explodierte oder vergammelte, ehe sie in vier Tagen wieder zurückkehrte. Emily musste Papa unbedingt noch einen Kaffee aufschwatzen, worin sie die Tablette auflösen konnte.
Sie sah sich um. Da vorn war ein Coffee-Shop, in dem ein verschlafener Jugendlicher so langsam Kaffee zubereitete, als ob er in einer schwerelosen Raumkapsel arbeiten würde. Sie kramte in ihrem Rucksack nach der kleinen Schachtel mit den Tabletten. Ach ja, da war sie. Und da war auch das Lebkuchenherz Für Emily, das Mama ihr gestern Abend mit einem Augenzwinkern überreicht hatte. Jedes Jahr gab es diese Herzen als Geschenk, schon seit Emily denken konnte. Lecker waren die. Sie hatte überhaupt noch nichts gefrühstückt, weil heute Morgen keine Zeit und sie noch viel zu müde gewesen war. Sie biss ein Stück ab und überlegte, wie sie das mit der Tablette auf die Reihe kriegen sollte.
»Das sieht lecker aus«, sagte jemand auf Englisch in ihrer Nähe.
Emily sah hoch. »Was?« Krümel flogen ihr aus dem Mund.
Ihr gegenüber saß ein total gut aussehender Typ in Cargohosen und T-Shirt, braun gebrannt und lässig, als wäre heute nicht Weihnachten, sondern Party an einem Strand in Thailand.
»Dieses süße Teil.« Er deutete auf das Lebkuchenherz und grinste. »Was steht denn da drauf?«
»Ähm … Für Emily vom Weihnachtsmann«, las sie vor. Sie lief feuerrot an. Zum Glück verstand der ja kein Deutsch. »It means … äh …«
Er grinste. »Lucky Emily. Emily hat’s gut«, fügte er unerwartet auf Deutsch hinzu. »Mir hat Santa nichts geschenkt.«
»Wahrscheinlich warst du nicht artig genug«, konterte Emily.
»Wahrscheinlich.« Sein Grinsen wurde noch breiter.
»Wir bitten Mr Andrew Williams zum Informationsschalter«, erklang es schon wieder aus den Lautsprechern.
»Oh, das bin wohl ich.«
Er stand auf, lächelte sie noch einmal an und ging ebenfalls zu dem Schalter am Gate. Beinahe prallte er mit Oma zusammen, die mit einem geradezu triumphierenden Gesichtsausdruck von dort zurückkam. Wieso wurden auf einmal alle zum Schalter gerufen? Wieso wurde sie, Emily, nicht dorthin gerufen? Und warum musste der süße Typ gleich wieder aus ihrem Gesichtsfeld verschwinden, kaum dass sie drei Worte mit ihm gewechselt hatte? Andrew. Er konnte erstaunlich gut Deutsch. War das ein Ami? Definitiv kein Brite oder Schotte, das hätte sie gehört. Jetzt kam Papa auf sie zu.
»Stell dir vor, Oma sitzt in der Business Class, sie hat ein Upgrade bekommen«, rief er ihr zu. »Ist das nicht toll? Sie freut sich wie verrückt. Ich bin ja überhaupt nicht neidisch …« Er lachte.
»Echt? Wahnsinn.« Emily freute sich für Oma.
»Ich hole uns noch einen Kaffee, willst du auch einen?« Papa schwenkte einen Geldschein.
Kaffee! Emily sprang auf und riss ihm förmlich den Schein aus der Hand. »Ich erledige das, Papa. Setz du dich mal wieder hin.«
»Wieso, ich kann das doch machen. Wir sitzen nachher sowieso noch ewig und drei Tage lang in diesem Höllending herum.« Er schielte zu dem großen Panoramafenster. Draußen konnte man schon das riesige Flugzeug stehen sehen, das gerade mit Gepäck beladen wurde.
»Auf gar keinen Fall. Ich hole den Kaffee. Ein kleines … Weihnachtsgeschenk für dich. Ich bin viel jünger, man muss da ewig anstehen, guck mal, wie langsam der Typ ist.«
Sie deutete zu dem Coffee-Shop, vor dem eine ältere Dame gerade ihre Brille zurechtrückte, um die astronomisch lange Liste des Kaffeeangebots zu studieren, während der Angestellte, umgeben von Weihnachtskugeln und Rauschgoldengeln, mit glasigem Blick auf ihre Bestellung wartete.
Papa kratzte sich leicht verwirrt am Kopf.
»Okay«, lenkte er ein. »Wenn du darauf bestehst. Dreimal Milchkaffee, einmal koffeinfrei für Oma. Anne will nichts.«
Emily nickte und schlenderte betont entspannt zu dem Coffee-Shop, obwohl sie innerlich vor Anspannung fast durchdrehte. Nicht dass die ausgerechnet jetzt zum Einsteigen aufriefen. Sie musste Papa unbedingt noch dazu kriegen, diesen Kaffee zu trinken. Im Flugzeug saß sie nämlich eine Reihe vor ihm und hatte keine Chance mehr.
Endlich zog die Kundin vor ihr mit einem Kaffee davon.
»Merry Christmas.«
Der Typ an der Theke schielte Emily träge an. Sie gab ihre Bestellung durch und beobachtete dabei ihren Vater, der nervös hin und her tigerte, immer wieder seine Bordkarte checkte und in seinem Handgepäck wühlte. Wenigstens hatte er die vermaledeite Gans nicht mehr da drin. Bald schläfst du wieder wie ein Baby, versprach Emily lautlos ihrem Vater. Dann sah sie dabei zu, wie der Typ den Kaffee in aller Gemütsruhe zubereitete, als ob er eine Höchstgeschwindigkeit von zehn Handgriffen pro Stunde nicht überschreiten dürfte. Endlich war er fertig.
»Macht zwölf fünfzig.« Er stellte die Pappbecher vor sie hin, nahm mit einer schlaffen Handbewegung das Geld entgegen, brauchte gefühlte zehn Minuten, um das Wechselgeld zusammenzukramen, und verfiel dann wieder in seinen Dämmerschlaf. Gut. Emily konnte keine Zeugen gebrauchen. Sie griff in die Schachtel und holte den Tablettenblister heraus. Doch dann zögerte sie. Die Pillen in der kleinen Tüte daneben waren viel größer. Für größere Hunde? So groß wie Papa? Vielleicht sollte sie lieber eine von denen nehmen, der Flug war ja fast fünfmal so lang wie der letzte. Sie entschied sich für diese Variante, nahm eine der großen Pillen aus der Tüte und ließ sie in Papas Kaffee fallen. Als die Tablette in dem schwarzen Getränk verschwand, atmete sie auf. Jetzt nur noch an den richtigen Bestimmungsort, nämlich in Papas Blutbahn, bringen.
Sie setzte sich zu ihren Eltern, um sicherzugehen, dass ihr Vater den Kaffee auch restlos leerte, was er Gott sei Dank auch tat. Gleichzeitig scannte sie die Umgebung, ob sie diesen Andrew von vorhin noch einmal erspähte, aber er war nirgendwo zu sehen. Emily wollte gerade wieder aufstehen und noch ein bisschen herumlaufen, in der Hoffnung, dass sie vielleicht noch mal zufällig mit ihm zusammenstieß, als sie eine Nachricht auf ihrem Handy erhielt. Das war jetzt bestimmt Jannik.
Nein, es war Carina, ihre Kollegin aus dem Tierheim. Wieso schrieb die ihr? So eng waren sie weiß Gott nicht befreundet, eigentlich überhaupt nicht. Was sich vor allem daran zeigte, dass Carina ihr nicht mal ein frohes Fest wünschte, sondern gleich zur Sache kam.
Emily, hast du die Schachtel aus meinem Spind genommen?
Ja. Wieso?
Wieso??? Warum hast du das gemacht?
(Mist. Eine schnelle Notlüge.) Ich brauchte die Beruhigungstabletten für Ralfi. Damit er zu Weihnachten nicht so aufgeregt ist. Du weißt ja, wie er manchmal durchdreht. Er ist bei mir zu Hause, hab ich dir doch geschrieben.
Welche hast du ihm gegeben??
(Welche? Was für eine blöde Frage.) Na, die aus dem Blister.
Gott sei Dank. Emily, gib ihm UM GOTTES WILLEN keine von den großen aus der Tüte! Die sind nicht für Hunde, das sind meine! Die hab ich nur dort aufbewahrt!!
(Ein ungemütliches Gefühl beschlich Emily. Aufbewahrt?) Hä? Wieso? Was sind das für Tabletten?
Das sind Partypillen, so ähnlich wie LSD. Von Ricardo. Ich wollte nicht, dass die anderen aus meiner WG die finden. Die klauen wie die Raben. Die Pillen sind für Silvester. Leg sie mir wieder ins Fach, wenn du morgen reinkommst, okay?
Scheiße. Emily starrte auf das Display ihres Handys. Dann griff sie reflexartig in ihre Tasche und ließ die Schachtel mit den Pillen in den nächsten Mülleimer gleiten. Scheiße, Scheiße, Scheiße!