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Let It Snow! |
Klasse. Jetzt saßen sie hier mitten in der Einöde fest. Emily zog fröstelnd ihre Jacke dicht um den Körper. Eine verdammte Kälte in diesem Schrottauto! Und weit und breit kein Mensch zu sehen.
»Vorhin sind wir an einer Farm vorbeigekommen«, meinte Oma. »Da war Licht. Vielleicht könnten wir dorthin zurücklaufen?«
»Mutter, das war vor mindestens fünf Kilometern. Hier gibt es ja nicht mal eine Straßenbeleuchtung.« Papas Laune wurde von Minute zu Minute mieser.
»Geradeaus in vier Kilometern ist eine Tankstelle.« Anne zoomte die Landkarte auf ihrem Handy näher heran. »Vielleicht könnte ich mit Emily dort hinlaufen und Hilfe holen?«
Bloß nicht. Emily machte sich ganz klein in ihrem Sitz. Sie hatte echt keinen Bock darauf, in der dunklen Schneekälte die Landstraße entlangzustapfen. Vielleicht gab es hier ja wirklich verrückte Serienmörder. Oder wilde Tiere – Bären und Kojoten und so was. Sie fröstelte.
»Auf gar keinen Fall. Ich schicke nicht meine beiden Töchter allein in die amerikanische Wildnis, und das auch noch zu Weihnachten.« Mama schüttelte empört den Kopf.
Gott sei Dank. »Wir könnten einen Baum fällen«, schlug Emily vor, um auch etwas beizutragen. »Hinten war doch eine Axt drin.«
»Und wozu?« Anne sah sie entgeistert an.
»Na, um ein Feuer zu machen. Damit wir uns wärmen können.« Das Feuer würde auch die wilden Tiere fernhalten, überlegte Emily. Sie erwähnte es nur nicht laut, weil die Stimmung sowieso schon im Keller war. »Wie in der Prärie und so«, schob sie lahm hinterher.
»Jetzt sag bloß noch, dann feiern wir Weihnachten wie die Indianer.« Anne lachte spöttisch auf.
»Ich weiß, dass die Indianer kein Weihnachten gefeiert haben, ich bin doch nicht blöd.« Langsam regte es Emily auf, wie Anne immer die überlegene große Schwester rauskehrte, bloß weil sie in London wohnte und einen Haufen Kohle verdiente. »Aber zumindest würden wir dann nicht erfrieren.«
»Wir erfrieren auch so nicht.« Anne verdrehte die Augen. »Wir laufen einfach zur nächsten Tankstelle, wie ich es vorgeschlagen habe.«
»Mann, Anne, das hier ist nicht London, hast du es noch nicht kapiert? Die nächste Tankstelle ist am Arsch der Welt, meilenweit weg. Hier kannst du nicht mit deiner Kreditkarte wedeln und ein Taxi rufen.«
»Wenigstens habe ich eine Kreditkarte, im Gegensatz zu dir«, schnappte Anne.
Auf einmal waren sie beide wieder zehn Jahre jünger, standen in der Küche ihrer Eltern und lieferten sich ihre tägliche Schlacht um die Nutzung des Badezimmers, um den letzten leckeren Joghurt oder darum, wer wessen Klamotten heimlich angezogen hat.
»Und ich hab wenigstens einen Freund, im Gegensatz zu dir«, schoss Emily zurück. Sie bereute es augenblicklich. Anne zuckte zusammen, ihre Wangen färbten sich rot, Tränen schimmerten in ihren Augen.
»Ach. Wen denn?«, erkundigte sich Oma interessiert. »Etwa diesen Jannik ohne Schuhe?«
»Ich dachte, der will dich nicht?«, tönte jetzt auch noch Mama durch das Auto.
Emily reichte es. Sie stieg aus und knallte die Wagentür zu. Warum hatte sie so etwas Blödes gesagt? Sie hatte doch gar keinen Freund. Und es stimmte, Jannik wollte sie nicht. Warum musste ausgerechnet Mama den Nagel auf den Kopf treffen? Emily hätte heulen können. Sie war völlig fertig mit den Nerven. Erst der Stress mit Papa und den Pillen – Gott sei Dank hatte er den Flug heil überstanden und keinen Verdacht geschöpft –, dann das mit Oma, die sie fast alle ins Gefängnis gebracht hätte, und dann diese Schrottkiste hier und die Müdigkeit und die Tatsache, dass Jannik sie ignorierte und dass Emily ihn und Cat nicht mal mehr auf Instagram stalken konnte, weil der Akku in ihrem Handy leer war.
Sie lief ein paar frustrierte Schritte hin und her, um sich aufzuwärmen. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen, vor lauter Kälte bildeten sich kleine Atemwölkchen vor ihrem Mund.
Die Beifahrertür öffnete sich.
»Jetzt steig wieder ein. Papa versucht es noch mal.«
Mama sah müde aus und plötzlich schämte sich Emily. Das hatte das beste Weihnachten aller Zeiten werden sollen und nun so was. Sie scannte ein letztes Mal die Umgebung, um vielleicht irgendwo ein Zeichen von Zivilisation zu entdecken, und da bemerkte sie es. Ein schwaches Licht. Es kam die Straße entlang und wurde heller und heller.
»Ein Auto«, rief sie. »Ein Auto kommt!«
Es war nicht einfach nur ein Auto. Es war ein Pick-up-Truck und er wurde langsamer, als er die auf der Straße herumhopsende Emily sah, die mit den Armen wedelte. Kurz vor ihr hielt er an. Ein bärtiger Mann mit roter Baseballkappe auf dem Kopf guckte heraus.
»Habt ihr Probleme, Leute?«, rief er. »Braucht ihr Hilfe?«
Emily klärte ihn rasch über ihr Dilemma auf.
»Na, dann rein mit euch in die gute Stube. Ich nehme euch mit zur Tankstelle. Zu Weihnachten lässt man niemanden auf der Straße sitzen«, sagte der Mann auf Amerikanisch zu ihnen und kletterte aus dem Truck, um die Türen seines Wagens zu öffnen. »Ich bin übrigens Mike, aber meine Freunde nennen mich Moose. Habt ihr ein Abschleppseil?«
»Er sagt, sein Name ist Elch und er nimmt uns mit«, übersetzte Anne. »Und ob wir ein Seil haben.«
»Er heißt Elch?«, fragte Papa alarmiert.
Mama legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
»Und ja, wir haben ein Seil. Welch Zufall.« Papa lachte freudlos. »Bist du sicher, dass er Elch heißt?«, raunte er Anne zu. »Ich meine nur – wir haben vorhin diesen Hirsch gesehen und jetzt kommt dieser Mann namens Elch auf einmal aus dem Nirgendwo, das ist irgendwie …« Er brach ab, offenbar wusste er selbst nicht, wie er das alles interpretieren sollte.
»Das ist wie Weihnachten«, schlussfolgerte Mama. »Und wie er heißt, ist mir egal, selbst wenn er der Weihnachtsmann persönlich wäre. Er hilft uns.«
Sie stieg als Erste in den warmen Truck von Moose, Oma folgte ihr sofort, danach Emily und Anne. Papa befestigte mit Mooses Hilfe das Seil an dem nutzlosen Mietauto, damit der Truck es abschleppen konnte.
»Sorry, Anne. Es tut mir leid, was ich gesagt habe.« Emily starrte verlegen zum Fenster hinaus. »Ich habe es nicht so gemeint.«
»Schon gut.« Anne blies in ihren Schal, um sich aufzuwärmen. »Außerdem hast du ja recht.«
»Nein, hab ich nicht, ich habe gelogen. Ich habe überhaupt keinen Freund. Ich habe jemanden gern, der mich nur leider nicht will.«
»Willkommen im Klub.«
Anne zog die Nase hoch. Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber in dem Moment setzten Moose und Papa sich ins Auto.
»Der hat genau so eine Kappe auf wie der Trump immer«, flüsterte Oma. »Seht ihr das? Diese rote Mütze?«
»Trump?«
Moose drehte sich zu Oma um. Tatsache, der hatte die gleiche Mütze auf. Scheiße, dachte Emily. Ausgerechnet ein Trump-Fan musste sie retten.
»Yes«, antwortete Oma nervös. »Your president.«
»See that?« Moose tippte an seine Mütze und beugte sich vor, damit sie besser lesen konnten, was darauf stand.
»Make America grate again.« Er lachte begeistert auf. »Ich bin ein Milchbauer! Kapiert? I grate cheese!«
»Er will, dass Amerika wieder Käse reibt«, übersetzte Anne perplex. »Also grate, nicht great, ich weiß nicht, was er damit …«
»It’s okay.« Moose hatte offenbar verstanden, dass sie mit der Botschaft auf seiner Mütze überfordert waren. Er winkte lachend ab und startete den Truck.
»Ich glaube, er liebt Trump…«, setzte Anne an.
Moose fiel ihr ins Wort. »Wisst ihr, warum Trump eine Mauer bauen will? – Weil die Chinesen auch eine haben und ihm gesagt haben, dass es bei ihnen keine Mexikaner gibt.« Er schlug sich begeistert auf die Schenkel, der Truck flutschte kurz auf der Straße hin und her.
»… ich glaube, er liebt Trump-Witze«, vollendete Anne ihren Satz.
Sie lachten alle erleichtert auf, was Moose zum Anlass nahm, einen Witz nach dem anderen auf sie abzufeuern, die Anne übersetzen musste.
»Kennt ihr den? Trump streitet sich mit Nordkorea, wer zuerst das Weltall erforschen wird. Sagt Trump: Wir Amerikaner landen als Erste auf der Sonne. Sagt der Dicke aus Nordkorea: Das geht nicht, auf der Sonne kann man nicht landen, die ist viel zu heiß. Sagt Trump: Aber Amerika kann das. Wir landen da nämlich bei Nacht.« Moose schüttelte es vor lauter Gelächter so sehr durch, dass er beinahe die Kontrolle über den Truck verlor.
»Gehen Bush und Obama in eine Bar und …« Moose unterbrach sich selbst. »Okay, Leute, da vorn ist das 7-Eleven von Mabel und Wayne, das hat auf. Die haben immer auf, auch heute. Wayne kann euch jemanden rufen, der den Wagen repariert. Obwohl …« Er zog die Stirn kraus. »Will ja keinem zu nahe treten, aber ich weiß nicht, ob sich das bei dem Karren noch lohnt. Wo müsst ihr hin?«
»Seattle.« Emily seufzte.
»Ach, du lieber Himmel. Puh, ob das heute noch was wird? Mabel macht ein prima Peppermint Bark«, meinte er, als ob das die Lösung wäre. »Dann feiert ihr einfach mit Mabel und Wayne Weihnachten.« Moose strahlte über das ganze Gesicht.
»Was ist ein Peppermint Bark?«, fragte Mama leise, als sie vor der Laden-Tankstelle vorfuhren.
Mabel und Wayne waren zusammen ungefähr 150 Jahre alt und hatten ihren gesamten Laden mit bunt flackernden Lichtern dekoriert. An der Decke drehte sich sogar eine Diskokugel, die dem Ganzen einen Hauch von Tanzschuppen der Siebzigerjahre verlieh, mit zwei geschnitzten Bären am Eingang, die wie Türsteher unter ihren Weihnachtsmannmützen hervorguckten. Ansonsten hatte Mabel, oder vielleicht auch Wayne, ganz offensichtlich eine innige Beziehung zu Engeln. Überall saßen sie herum – zu zweit, allein oder wie zu einem Schwätzchen in Gruppen angeordnet. Sie waren aus Keramik, aus Plastik, aus Pappe, Holz oder Metall gefertigt, gehäkelt, bestickt oder in wallende Leibchen gehüllt und ließen ihren beseelten Blick auf dem Zigarettenregal, den Chipstüten, den Benzinpreisen und dem unschlagbaren Angebot von zwei Packungen Erdnüssen zum Preis von einer ruhen.
Emily unterdrückte ein Kichern. Das volle Kontrastprogramm zu Cats Wintersonnenwende. Und irgendwie so abgefahren, dass es schon wieder cool war.
»Merry Christmas!«, riefen die beiden alten Leutchen ihnen entgegen und begrüßten sie wie lang vermisste Verwandte. Mabel trug Cowboystiefel und einen Jeansrock, sie hatte die Haare wie Dolly Parton gestylt und kleine Weihnachtsbäume an den Ohren baumeln, die zu Emilys Verblüffung ebenfalls mit winzigen zuckenden Lichtern bestückt waren. In der Ecke des Ladens blinkten mehrere künstliche Weihnachtsbäume um die Wette und verströmten merkwürdigerweise einen ausgesprochen starken Duft nach Tannengrün. In dem Moment entdeckte Emily etwas, das sie augenblicklich allen Stress vergessen ließ. Einen weißen Labrador, der auf einer weichen Decke auf dem Boden vor sich hin döste.
»Ah, das ist Rover«, rief Mabel, die offenbar ihren Blick bemerkt hatte. »Du kannst ruhig Hallo zu ihm sagen. Er mag Menschen.«
Emily kniete sich hin.
»Hey, Rover«, flüsterte sie. »Du bist der erste amerikanische Hund, den ich treffe. Nice to meet you.«
Rover seufzte leise und legte seinen Kopf auf ihre Hand.
Und plötzlich war die Welt wieder in Ordnung. Emily fror nicht mehr und hätte stundenlang hier sitzen und Rover streicheln können, eingelullt von all dem Gefunkel und dem überwältigenden Tannenduft, von Frank Sinatras Gesang, der sich immer noch ein White Christmas wünschte, obwohl sie schon längst eines hatten, von Rovers gemütlichem Schnorcheln und der schimmernden weißen Pracht draußen vor den Fenstern. Außer ihnen war kein Mensch hier und Mabel brachte ihnen heißen Kaffee und eine Art weiße Schokolade mit Nüssen und zerbrochenen Pfefferminzbonbons darin.
»Peppermint Bark.«
Sie hielt Emily stolz den Teller hin, die gleich kostete. Das Zeug war ja richtig lecker! Von Emilys Begeisterung ermutigt, tischte Maureen jetzt noch andere amerikanische Weihnachtsleckereien auf, während Papa mit Anne als Dolmetscher und mit Wayne den Wagen inspizierte und feststellte, dass Hopfen und Malz verloren war, und dann irgendeinen Abschleppservice anrief.
Emily futterte sich gerade durch Kürbisbrot und Popcorn, als die niederschmetternde Nachricht kam.
»Die können frühestens in vier Stunden hier sein.« Papa betrachtete fassungslos den Telefonhörer, der ihm diese gemeine Neuigkeit überbracht hatte. »Weil Weihnachten ist und die Straßen so zugeschneit sind.« Er rieb sich erschöpft über die Stirn. »Da kommen wir heute nicht mehr nach Seattle. Das können wir vergessen.«
»Seattle?« Mabel spitzte die Ohren. »Ich frag mal die kleinen Mädchen.« Sie schnappte sich ihr Handy. »Die wollen da heute noch hin. Vielleicht können sie euch ja mitnehmen.«
»Die kleinen Mädchen?« Mama schickte einen fragenden Blick in die Runde.
Emily zuckte mit den Schultern. Sie verstand es genauso wenig. Irgendwelche kleinen Mädchen, die jetzt nach Seattle fuhren? Wie klein? Vor ihrem inneren Auge erschien eine Horde von Girl Scouts in wurstbraunen Uniformen, die sich lärmend und kichernd in einen Bus drängten, während eine von ihnen vier Kissen übereinanderstapelte und sich hinters Lenkrad klemmte. Das war ja angeblich das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, und langsam wunderte Emily sich über gar nichts mehr.
Die kleinen Mädchen hatten lila und rosa Haare, zerrissene Jeans, trugen Holzfällerhemden und Gummistiefel mit dicken Wollsocken. Sie waren kaum älter als Emily und die Mitglieder einer Indie-Band, die morgen einen Gig in Seattle hatte.
»The Half Sisters. Das ist unsere Band«, erklärte eine von ihnen, die pinkfarbene Haare hatte. »Und auch unsere verwandtschaftliche Beziehung. Wir haben nämlich alle denselben Dad, nur verschiedene Mütter. Kannst dir ja vorstellen, was los war, als wir das herausgefunden haben.« Sie grinste. »Das war ein Spaß. Na ja, für Dad eher weniger.«
»Das glaube ich.« Emily musste die Mädchen immer wieder anstarren wie eine Vision. Sie sahen sich tatsächlich alle ähnlich und waren vor zehn Minuten in das beschauliche 7-Eleven geplatzt, wo sie sich sofort bereit erklärt hatten, Emilys Familie mitzunehmen.
»Das sind eure Weihnachtsengel«, erklärte Mabel feierlich und drückte das Mädchen mit den pinkfarbenen Haaren an sich, das ihre Enkelin war.
Normalerweise hätte Emily über so eine kitschige Bemerkung gelacht, aber heute – heute war irgendwie alles möglich. Sie fuhren mit einer echten Indie-Band nach Seattle, das war der Hammer. Wenn sie das Jannik erzählte! Sie musste unbedingt ein Foto mit der Band machen und auf Instagram stellen. #soblessed #rocking seattle #whitechristmas #nimmstdumichjetztendlichwahrjannik
Eine Stunde später war Emily total beeindruckt. Wenn die Mädchen nur halb so gut Musik machten, wie sie in ihrem Truck durch den Schnee donnerten, dann war ihnen ein Platz in der Rock ’n’ Roll Hall of Fame sicher. Eben hatten sie kurz auf einem Parkplatz angehalten, um vor der Überquerung des Bergpasses Schneeketten an den Rädern des Trucks anzubringen. Zwei der Mädchen waren ausgestiegen und hatten die Ketten an die Reifen gefummelt. Emily schluckte. Sie hatte noch nicht mal ihren Führerschein in der Tasche. Meine Güte, sie konnte ohne fremde Hilfe ja kaum den Schlauch an ihrem Fahrrad reparieren! Eigentlich hatte sie überhaupt noch nichts in ihrem Leben auf die Reihe gekriegt. Das würde sich ab jetzt ändern, schwor sie sich. Und Jannik würde sie auch nicht länger anschmachten, der sah nicht das in ihr, was sie für ihn sein wollte. Sie hatte es nicht nötig, ihn zu beeindrucken. Sie musste verdammt noch mal überhaupt niemanden beeindrucken, sondern einfach nur sie selbst sein und ihrem Leben die Richtung geben, die sie wollte. Eine Ausbildung anfangen oder ihr eigenes Tierheim eröffnen. Auf jeden Fall irgendwas tun, das die Welt ein Stück besser machte, und nicht immer nur davon reden.
Von draußen wehte jetzt der unmissverständliche Geruch eines Joints herein. Wahnsinn. Die brachten nicht nur in Windeseile Schneeketten an, die kifften auch noch dabei! Verstohlen schielte Emily zu ihren Eltern, aber die kriegten natürlich nichts mit.
»Oh, hier riecht es so romantisch nach Lagerfeuer«, meinte Papa lediglich. Manchmal zweifelte Emily echt an seiner angeblichen Hausbesetzer-Karriere.
Jetzt kletterten die Schneeketten-Girls wieder ins Auto. Allyssa, die mit den pinkfarbenen Haaren, drehte sich zu ihnen um. »Wollt ihr auch was davon haben?« Sie schwenkte den Joint.
»Öhm«, machte Emily und schielte zu Anne. Die grinste nur.
»We don’t smoke, thank you«, erklärte Papa.
»Papa, das ist ein Joint«, platzte Emily heraus, die es nicht länger aushielt.
»Ach, du lieber Himmel, dann erst recht nicht!« Papa winkte ab. »Ich hab noch nie in meinem Leben Drogen genommen und werde ganz bestimmt nicht in Amerika damit anfangen.«
Oh Gott. Emily ging augenblicklich in Deckung und vergrub ihr Gesicht in den Händen, damit niemand sah, dass sie vor Lachen bebte.
»Alles okay, Schatz?«, erkundigte Mama sich mitfühlend. »Bist du müde?«
»Ein bisschen«, piepte Emily.
»Ich schreibe jetzt Charlotte, dass wir in ungefähr zwei Stunden da sind. Falls nicht noch was schiefgeht. Klopf auf Holz.« Mama pochte auf ihren abgewetzten Ledersitz.
Zwei Stunden später fuhren sie von der Autobahn ab und durch Redmond, einen Vorort von Seattle.
»Wahnsinn, jetzt guckt euch die Häuser an, wie die alle geschmückt sind. Das gibt es doch gar nicht!«
Mama kriegte sich überhaupt nicht mehr ein und in der Tat sah es hier absolut schrill aus. Total irre bunte Lichter überall, aufblasbare meterhohe Schneemänner, nickende Rentiere, ein einziges Funkeln und Flimmern und Zucken überall.
Allyssa sagte etwas über die Schulter hinweg und lachte.
»Sie meint, das wäre noch gar nichts«, übersetzte Anne für alle. »Wir sollen erst mal abwarten, bis wir die Straße der Verrückten gesehen haben. Die ist gleich hier um die Ecke. Sie sagt«, jetzt hustete Anne leicht verlegen, »dass dort die absoluten Hardcore-Weihnachts-Motherfucker leben.«
»Du meine Güte«, staunte Mama. »Das können wir uns überhaupt nicht vorstellen, was, Frank? Und was das alles kostet! Was sind das nur für Leute?«
»Crazy people.« Allyssa wedelte sich lässig mit der Hand vor der Stirn herum. »Here we are.«
Sie bogen in eine Straße ein, die alles bisher Dagewesene übertraf. Hier sah es aus, als hätte ein Riese ein Kaufhaus voller Weihnachtsdekorationen umgestülpt und anschließend seinen Inhalt ohne Sinn und Verstand über die gesamte Straße verstreut.
»Jetzt guck dir dieses Haus an!« Papa lachte hellauf. »Denen steigt der Weihnachtsmann im wahrsten Sinne des Wortes aufs Dach und da, haha, siehst du das riesige Lebkuchenhaus im Garten? Das ist fast so groß wie unsere Garage in Weimar. Unglaublich. Also nehmt es mir nicht übel, aber die Amis haben in der Beziehung echt einen kleinen Dachschaden, was?« Papa schnaubte amüsiert. »Wer macht denn so was? Nur Verrückte.«
In diesem Moment trat eine Frau mit einem Baby im Arm aus dem Haus. Sie blieb vor einer Reihe grasender Metallrehe mit leuchtend roten Nasen stehen, dann drehte sie sich um und blickte suchend die Straße entlang.
»Diese Verrückte da ist übrigens eure Tochter.« Elisabeth schnallte sich ab. »Ich steig mal aus und sag Hallo.«