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Winter Wonderland

26.12., 14:00 Uhr
Seattle, USA

In England feierten sie heute Boxing Day, den Tag, an dem traditionell die Reste des Weihnachtsmahls an die Bediensteten der Herrenhäuser verteilt wurden. In Schachteln verpackt, daher der Name. Das machte heutzutage dort natürlich kein Mensch mehr, dafür stürmten viele Leute zum Winterschlussverkauf in die Läden. Und in Deutschland erwachten sie am zweiten Feiertag aus ihrem Weihnachtskoma, schoben mit einer entkräfteten Geste den bunten Teller von sich, weil sie keine Lebkuchen mehr sehen konnten, oder begaben sich auf einen kleinen Winterspaziergang über verschneite Felder. Nur dass es in Deutschland laut Wetterkarte in diesem Jahr keine verschneiten Felder gab, sondern Nieselregen bei zwölf Grad. Da hatten sie es doch in Amerika prima getroffen, fand Anne, denn hier gab es heute einen Mix aus allem. Wer wollte, konnte sich schwungvoll in den Rausch des Weihnachtsschlussverkaufs in Seattle stürzen, so wie Papa es vorhatte. Der begab sich gerade mit Doreen hinaus in den Garten, um den Gänsebraten zu holen, den er noch vor seiner Einkaufsorgie für heute Abend vorbereiten wollte.

»I was a house-sitter when I was young, you know«, hörte Anne ihn vor Doreen angeben.

»Oh, lovely«, erwiderte Doreen. »Das war ich während meiner Studienzeit auch. Hat richtig viel Geld gebracht.«

»In Amerika kriegt man Geld dafür?«, fragte Papa verblüfft. »Die rufen nicht die Polizei? No police?«

»Warum sollten sie?«

»Na, weil …« Papa klang beeindruckt. »Unglaublich. Was für ein Land!«

Anne grinste. Ach, Papa …

Wer heute lieber über verschneite Straßen stapfen wollte, der konnte sich Charlotte und Rob anschließen, die gerade versuchten, Connor in den Schneeanzug zu zwängen, den er offenkundig mit ganzer Seele hasste.

Und wen nichts von beidem reizte, der konnte sich im Wohnzimmer neben Daphne auf die Couch fallen lassen, mit ihr eine Flasche Eggnog leeren, eine Art Eierlikör mit Muskatnuss, dabei sentimentale Schwarz-Weiß-Weihnachtsfilme ansehen und sich von Daphne Lebensratschläge in Männerfragen einholen. So richtig Lust hatte Anne darauf auch nicht, zumal sie bezweifelte, dass Daphne in dieser Beziehung eine Autorität darstellte. Ihren ersten Mann hatte sie verlassen, weil er sie betrogen hatte, und ihren zweiten Mann hatte sie selbst betrogen, weil er laut eigener Aussage ein trostloser alter Knacker gewesen war. Mann Nummer drei war über Nacht scheinbar grundlos abgehauen, eine Kränkung, die den Grundstein für Daphnes Tequila-Neigung gelegt hatte, und von Mann Nummer vier hatte sie sich angeblich einvernehmlich getrennt, allerdings weigerte sie sich, den Grund zu nennen. Nein, auf die Beziehungsprobleme anderer Leute hatte Anne jetzt echt keinen Bock. Auf Shoppen allerdings auch nicht. Allein der Gedanke, sich mit vom Jetlag bleiernen Gliedern durch die aufgeheizten Massen in einem Einkaufszentrum zu drängen, die wie in einem nie enden wollenden Reigen Weihnachtskarten und Lichterketten für das nächste Jahr kauften, verursachte ihr Kopfschmerzen. Blieb also nur der Winterspaziergang. Ja, das war wahrscheinlich sowieso die beste Idee. Frische Luft, klarer Himmel, knöcheltiefer Schnee überall. Sie sollte die paar Urlaubstage hier zum Entspannen und Ausruhen nutzen, bevor sie wieder zurück in ihren Job musste. Bevor sie sich dem Leben ohne Jason in London endgültig stellen musste.

»Braucht ihr Hilfe?« Sie trat auf Rob und Charlotte zu, die den krebsroten Connor jetzt endlich wie einen zappelnden kleinen Tintenfisch in seinen Anzug verpackt hatten. Er brüllte wie am Spieß.

»Danke, geht schon. Er mag das Ding nicht, ich weiß auch nicht, warum. Hoffentlich schreit er nicht die ganze Zeit.« Charlotte seufzte.

»Er wird bestimmt gleich im Wagen einschlafen.« Rob umarmte seine Frau kurz.

Charlotte sah erschöpft aus und hatte tiefe dunkle Ringe unter den Augen, und doch kam sie Anne in dem Moment, als Rob sie in die Arme nahm, wie die schönste Frau der Welt vor. Die beiden waren so glücklich mit ihrem Kind, dass sie richtig von innen her strahlten. Es versetzte Anne einen kleinen Stich. Nicht aus Neid, sondern aus Ernüchterung. Würde sie je so ein Glück erleben? Das erste Mal in ihrem Leben überkam sie eine dunkle Angst davor, vielleicht immer allein bleiben zu müssen. Verheiratet mit dem Job, wie man so schön sagte. Sie hatte schon ein paar gescheiterte Beziehungen hinter sich, und ob sie nach Jason jemals wieder jemanden fand, mit dem sie so gut klarkam, bezweifelte sie.

Weg mit den düsteren Gedanken! Sie riss sich zusammen. »Ich helfe euch mit dem Wagen.« Sie griff nach dem Kinderwagen, der zusammengeklappt in der Eingangshalle stand, und versuchte, ihn auseinanderzufalten. Wie funktionierte das blöde Ding? Irgendwas klemmte ihr den Finger ein. Herrgott, sie war nicht einmal in der Lage, einen läppischen Kinderwagen aufzustellen, geschweige denn, ein Kind mit irgendjemandem zu haben, das sie da hätte hineinlegen können! Es klopfte an der Tür.

»Charlotte!«, rief sie, ohne aufzusehen. »Da ist jemand.«

»Nachbarn mit noch mehr Cookies.« Charlotte drückte ihrem Mann den vakuumverpackten Connor in den Arm und begab sich zur Tür. »Die ganze Straße bringt sich schon seit Tagen ununterbrochen gegenseitig Cookies. Ich frag mich, wer das alles essen soll. Ich jedenfalls nicht. Ich will endlich wieder meine Figur zurück.« Sie öffnete die Tür.

»Yes?«, hörte Anne sie fragen.

Eine Männerstimme antwortete. Eine Stimme, die Annes Herz augenblicklich höherschlagen ließ. Das konnte nicht sein, oder? Das musste jemand anders sein, der … Sie stolperte regelrecht zur Haustür und schob ihre verdutzte Schwester beiseite.

»Jason?«, brach es aus ihr heraus. »Was um alles in der Welt machst du denn hier? In Amerika?«

Letzteres war genauso offensichtlich wie schwachsinnig, Jason würde ja wohl selbst wissen, auf welchem Kontinent er sich gerade befand.

»Ich will zu dir.« Er wirkte verlegen und trotzig zugleich. »Ich hab den Flug heute genommen. Es gab ja nichts, was mich in London hielt. Außer vielleicht mein Wintermantel.« Er zog fröstelnd die Schultern hoch. Jetzt trug er zwar nicht mehr die lächerliche graue Windjacke, sondern eine schwarze wollene und einen Kaschmirschal, aber für den Wintereinbruch in Seattle reichte das trotzdem nicht.

»Ja, komm erst mal rein.« Charlotte trat einen Schritt zur Seite, um ihn hereinzulassen. »Rob, du glaubst nicht, wer hier ist«, rief sie über die Schulter nach hinten.

»Ich würde lieber erst mit Anne reden«, erwiderte Jason. Sein Blick glitt an Anne herab und sie ärgerte sich, dass sie mit hastig zusammengerafften Haaren und in einem viel zu großen warmen Pullover aus Charlottes Schwangerschaftsgarderobe vor ihm stand.

»Wir müssen zuerst was klären«, fügte Jason hinzu. »Wenn sie dann immer noch möchte, komme ich gern rein. In Seattle ist es wirklich ganz schön kalt, wer hätte das gedacht.« Er lächelte verkrampft.

»Okay«, machte Charlotte gedehnt und warf Anne einen neugierigen Blick zu. Die nickte unmerklich.

»Bin schon weg.« Charlotte schlüpfte nach hinten und schob Rob samt Baby von der Eingangshalle weg. Augenblicklich fing Connor wieder an zu brüllen.

»Was klären?«, fragte Anne mit belegter Stimme. Sie konnte ihren Blick nicht von Jason wenden. Er stand tatsächlich hier vor ihr, das musste sie erst einmal verdauen.

»Ob du gern noch ein bisschen mit mir Weihnachten feiern willst. Ich weiß, es ist eigentlich fast vorbei, rein technisch gesehen gehört der Boxing Day aber noch zu Weihnachten dazu.«

»Du bist den ganzen weiten Weg hierher geflogen, damit du mit mir Weihnachten feiern kannst?«

»Ja. In London hattest du ja keine Zeit.«

»Und jetzt habe ich Zeit, meinst du?«, fragte sie langsam.

»Hoffentlich.« Er trat einen Schritt auf sie zu.

»Moment, Moment.« Das ging ihr viel zu schnell. »In London wolltest du Weihnachten mit mir als Kumpel feiern. Wenn dieses großzügige Angebot noch besteht, lehne ich gern dankend ab. Ich will dich nicht als Kumpel, Jason.«

»Ich will dich auch nicht als Kumpel, Anne.«

»Als was denn dann?«, fragte sie. Ihre Stimme klang auf einmal ganz rau.

»Achtung«, brüllte plötzlich Papas Stimme. »Vorsicht, Anne, sie kommt, lasst sie nicht auf die Straße rennen.«

»Was? Wen?« Anne drehte sich verblüfft um, doch in diesem Moment preschte etwas großes Weißes an ihr vorbei. Im ersten Schreck dachte sie, dass die Millers noch einen Hund besaßen, den sie bislang aus irgendwelchen Gründen geheim gehalten hatten, doch dann erkannte sie zu ihrem Erstaunen, dass da eine Gans in den Vorgarten flatterte.

»Das ist der Braten«, japste Papa. »Also, die Gans lebt noch, das haben sie mir nicht gesagt. Wo ist sie hin? Hallo, Jason.« Papa drängte an ihnen vorbei.

»Hi.« Jason taumelte einen erschrockenen Schritt zur Seite.

Die Gans gab krächzende Laute der Empörung von sich und fegte mit einer gezielten Bewegung den Merkelzwerg um, der als Wächter des Lebkuchenhauses sein neues Dasein fristete. Anne musste gegen ihren Willen grinsen. Oh Mann, das Vieh war riesig. Size XL. Ein halber Flugsaurier! Wo hatten die Millers die nur aufgetrieben? Und was sollte ihr armer Vater damit machen? Offenbar gingen die Millers davon aus, dass alle Deutschen erdige Naturburschen waren, die im Handumdrehen eine lebende Gans in einen krossen Braten verwandeln konnten. Papa hatte in seinem ganzen Leben noch nie etwas getötet – ganz im Gegenteil, er hatte dem Hamster seiner Kinder vor fünfzehn Jahren einen Hamsterpalast mit drei Etagen und einer Rutsche gebaut und selbst die ekligste Spinne grundsätzlich nur sanft aus dem Fenster entsorgt.

»Helft mir mal, sie einzufangen«, jammerte er jetzt. »Die erfriert sonst draußen oder wird überfahren.«

»Ihr wollt sie so oder so töten.« Emily kam herbeigerannt. »Dann kann dir ihr Schicksal auch egal sein. Die arme Gans! Hi, Jason. Wusste gar nicht, dass du auch kommst.«

»Hi«, wiederholte Jason. »You need help?«, rief er Papa zu.

»Yes!« Papa versuchte, seine Jacke über die Gans zu werfen, um sie auf diese Weise einzufangen, aber das Tier flutschte ihm immer wieder davon.

»Papa, du jagst ihr Angst ein«, rief Emily.

Vom Lärm angelockt, kamen bereits die ersten Nachbarn aus ihren Häusern, um zu sehen, was die Millers sich als neuesten Weihnachtsgag ausgedacht hatten.

»Soll ich Dave Carrington holen?«, brüllte jemand. »Der hat ein Gewehr!«

»Bloß kein Gewehr!«, riefen Emily und Papa gleichzeitig.

Jason stürzte los und versperrte der Gans den Weg, ihrem wütenden Schnabel ausweichend. Die Gans drehte ab und rannte zurück, in Richtung Papa. Der bewegte sich heroisch auf sie zu, stolperte allerdings über ein paar Kabel auf dem Boden und schlug der Länge nach in den Schnee. Die Gans gackerte aufgebracht und wählte dann den einzigen Fluchtweg, den sie sah: das Lebkuchenhaus. Geistesgegenwärtig schlug Jason hinter ihr die Tür zu.

»Meine Güte. Thank you, Jason.« Papa stand auf und klopfte sich den Schnee ab.

Anne konnte die Gans in dem kleinen Häuschen spektakeln hören, irgendwas ging zu Bruch da drin.

»Und jetzt?« Emily war den Tränen nahe. »Was machen wir jetzt mit ihr?«

»Also, ich schlachte sie nicht«, erklärte Papa entschieden. »Das geht zu weit. Gänsebraten hin oder her.«

Doreen und Bernie kamen dazu und betrachteten das demolierte Lebkuchenhaus.

»Wir könnten sie zu dem Bauern zurückbringen, bei dem wir sie gekauft haben«, schlug Doreen vor. »Der könnte sie noch mal verkaufen.«

»Papa, mach was.« Emily manövrierte sich vor die Tür des Lebkuchenhauses. »Die wollen die Gans zurückbringen. Das ist ihr Todesurteil.«

»Emily, Schatz, das geht uns nichts an. Die Millers haben die Gans besorgt, also gehört sie ihnen.«

»Wie wäre es mit Dave Carrington?«, rief Charlotte ihnen von der Veranda aus zu. »Der hat einen Haufen Tiere auf seinem Grundstück. Damit er nach dem Weltuntergang etwas zu essen hat. Hühner und Kaninchen und sogar ein paar Ziegen. Bestimmt nimmt er auch noch eine Gans auf.«

»Um sie zu essen. Na klasse. Da haben wir viel gewonnen.« Emily verzog wütend das Gesicht.

»Die isst er doch nur, wenn das Ende der Welt da ist«, erklärte Charlotte. »Wenn all seine Vorräte aufgebraucht sind. Und die reichen für Jahrzehnte.«

Jetzt beratschlagten alle laut, was zu tun sei. Ein paar Nachbarn mischten sich ein, die Gans krakeelte, und plötzlich spürte Anne Jasons Hand in ihrer.

»Gehen wir ein Stück spazieren?«, fragte er leise.

Sie nickte. Bloß weg von all dem Lärm.

Sie liefen schweigend durch das Viertel und hielten sich immer noch bei der Hand. Der Schnee war nahezu unberührt, kaum jemand war heute mit dem Auto irgendwohin gefahren, und bis auf ein paar Kinder, die einen Schneemann bauten, dessen Hut immer wieder herunterfiel, war niemand auf der Straße. Nach einer Weile wurden die Abstände zwischen den Häusern größer und statt neu erbauter Stadtvillen standen hier traditionelle kleine Farmhäuschen mit großen Grundstücken.

»Sieh mal da«, brach Anne endlich das Schweigen. »Wie hübsch.«

Auf einem kleinen Hügel vor ihnen hatte jemand eine große Tanne mit einfachen roten Schleifen geschmückt. Der Baum stand aufrecht in dem frischen weißen Schnee und wirkte in seiner Schlichtheit umso schöner.

»Lass uns mal da hochgehen«, schlug Jason vor.

Sie erklommen den kleinen Hügel und sahen sich um. Anne schnappte nach Luft, so großartig war der Ausblick zu ihrer Linken. Dort befand sich eine Wiese, die an einen Wald grenzte, und auf die Wiese hatte jemand mit funkelnden Lichtern in riesengroßen Buchstaben die Worte Peace on Earth in den Schnee gesetzt.

»Hier ist es perfekt.« Jason blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Du hast mich vorhin etwas gefragt.«

»Ja?« Annes Herz klopfte jetzt wie wild.

»Du wolltest wissen, wie ich mit dir Weihnachten feiern will.« Jason schluckte. »Und genau über diese Frage habe ich seit Tagen ununterbrochen nachgedacht. Ich glaube, darauf gibt es nur eine einzige mögliche Antwort.« Er griff in seine Manteltasche und kniete sich plötzlich im Schnee vor ihr hin.

War das wirklich kein Traum? Anne blinzelte. Die Kälte kroch ihr in den Hals, weil sie vergessen hatte, einen Schal umzulegen. Also war es definitiv kein Traum.

»Die einzige Art, wie ich mit dir Weihnachten feiern möchte, oder jedenfalls das, was davon noch übrig ist«, hier lachte er nervös, »ist mit dir als meiner zukünftigen Frau. Ich war ein Vollidiot, Anne. Kannst du mir verzeihen? Bitte, sag ja.«

Anne sah den wunderschönen zarten Ring in der kleinen Samtschachtel, Jasons Augen, die den Blick nicht von ihr ließen, und seine Wimpern, auf denen sacht eine Schneeflocke landete.

Und dann antwortete sie ihm.