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Joy to the World

29.12., 14:00 Uhr
Flughafen Seattle, USA

»Na, wenigstens haben wir diese seltsame Gurke noch gefunden.« Frank blies auf den Kaffee in seinem Pappbecher, um ihn abzukühlen. »Wie die Millers sich da alle gefreut haben!« Er trank einen Schluck. »Ich kapiere das immer noch nicht. Du?«

»Ich auch nicht.« Julia hatte am Abend des zweiten Feiertages den Weihnachtsbaum der Millers einer näheren Betrachtung unterzogen, hauptsächlich um die ganzen Schmuckelemente mit den Familienfotos daran zu bewundern. Beim Blick nach oben hatte sie plötzlich die kleine Glasgurke entdeckt, die dort in den Tiefen des Baumes über Julias Kopf baumelte wie der Fluch ihres Lebens. Der Schrei: »Sie hat die Weihnachtsgurke gefunden!«, war durch das ganze Haus geschallt, und man hatte Julia von allen Seiten gratuliert. Aber warum? Sie hatte nicht die leiseste Ahnung. Fragen wollte sie allerdings auch nicht, da die Millers davon auszugehen schienen, dass jeder deutsche Bürger zu Weihnachten nichts anderes machte, als in seinem Baum nach dieser kleinen Gurke zu suchen wie nach einem vierblättrigen Kleeblatt.

»Irgendein kulturelles Missverständnis.« Sie zuckte mit den Schultern. »Anders kann ich es mir nicht erklären.«

Sie standen auf dem Flughafen Seattle in der Schlange zum Check-in für ihren Rückflug nach Deutschland, und es ging und ging nicht vorwärts.

»Ich habe online für zwei Koffer bezahlt, jetzt sehen Sie bitte noch einmal richtig nach«, ereiferte sich gerade ein Mann, der vorn an der Reihe war.

Julia tat das Bodenpersonal leid. Eine Schwemme von Reisenden ergoss sich durch das Terminal, alle nach den Feiertagen auf dem Weg zurück nach Hause, alle frustriert, dass das Fest vorbei war und sie in ein paar Tagen wieder zur Arbeit mussten, alle genervt von den strengen Flugregeln und in der Vorahnung eines endlosen Herumsitzens auf engstem Raum, und das auch noch mit den über Weihnachten zugelegten Kilos.

Julia beobachtete Frank heimlich von der Seite, der den letzten Schluck Kaffee durch seine Kehle gluckern ließ. Diesmal ohne Zusatz. Emily hatte sich vehement geweigert, ihrem Vater ein weiteres Beruhigungsmittel zu verpassen, und sogar behauptet, dass sie die Packung verloren habe. Besser so, dachte Julia. Wer weiß, was in dem Zeug drin war, irgendwas schräges Homöopathisches bestimmt, so wie die alle in der WG in Berlin drauf waren … Nur blöd, dass sie jetzt gar nichts für Frank hatten.

»Alles okay mit dir?«, erkundigte Julia sich vorsichtig. »Ich meine im Hinblick auf …« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Abflughalle, die hinter dem Security-Check lauerte.

»Alles in Ordnung.« Frank nickte tapfer. »Vielleicht vergeht die Zeit ja wieder wie im Flug, haha, wie beim letzten Mal. Und wenn du mich am Fenster sitzen lässt und ich mich nicht in den Mittelsitz quetschen muss, dann kann ich vielleicht sogar ein bisschen schlafen.«

»Na klar. Weil du es bist. Ich hoffe nur, deine Mutter steht den langen Flug durch. So bequem wie auf der Hinreise hat sie es nicht noch mal.«

»Das ist mir egal«, nörgelte jetzt eine Frau am Check-in. »Wenn das Flugzeug zu voll ist, dann ist das nicht mein Problem. Sie können mich nicht einfach irgendwo anders hinsetzen, ich hab den Sitz selber ausgewählt!«

»Mann, das kann ja heiter werden«, murrte ein Mann vor ihnen. »Wenn die mich umsetzen, verklage ich die. Letztens haben sie schon meine Koffer verloren. Da waren alle Geschenke drin. Kamen nach Weihnachten an, da verklage ich die sowieso schon wegen emotionalem Stress.«

Julia versuchte, die ganze miese Laune um sich herum auszublenden. Auch wenn man sie umsetzte oder das Flugzeug Verspätung hatte oder was auch immer, war das nicht das Ende der Welt. Sie war einfach nur glücklich über die wunderbaren und chaotischen Tage, die hinter ihnen lagen.

»Weißt du übrigens, was Bernie und Doreen gesagt haben?« Frank riss sie aus ihren Gedanken. »Dass sie nächstes Jahr zu Weihnachten zu uns kommen wollen. Sie sind ganz scharf auf die deutschen Weihnachtsmärkte. Bernie spielt mit dem Gedanken, in seinem Garten einen eigenen Weihnachtsmarkt zu eröffnen.« Frank kicherte vor sich hin. »Der bringt das glatt fertig, das sag ich dir. Ich hab ihm versprochen, dass ich den Punsch dafür braue und nach Amerika verschippe.«

»Warum eigentlich nicht?« Julia fand die Idee gut. »Sollen sie kommen. Das wäre schön. Und dann fliegen wir alle zur Hochzeit von Jason und Anne nach England. Einfach so. Da haben wir ja schon Übung drin.«

Ihr Blick ruhte auf ihrer mittleren Tochter, die eng umschlungen mit Jason ein paar Meter hinter ihnen stand. Eine Weihnachtshochzeit wollten die beiden feiern, um sich immer an ihre Versöhnung zu erinnern. Julia wurde ganz warm ums Herz, als sie Annes glückliches Gesicht sah.

»Schreibst du an Jannik?«, erkundigte sie sich dann bei Emily, die ununterbrochen etwas in ihr Handy tippte. »Geht es Ralfi gut?«

»Nope.« Emily sah nicht auf. »Ich schreib an niemanden. Ich google Studiengänge.«

Hatte sie das jetzt richtig gehört? Und so wie es klang, hatte dieser Jannik sich offenbar barfuß aus Emilys Gedanken geschlichen, was ja ehrlich gesagt zu begrüßen war. Emily hatte sowieso viel mehr drauf, als sie sich selbst zutraute, die würde schon ihren Weg gehen.

»Wir sind dran.« Frank schob sie ein Stück vorwärts. »Mutter, kommst du?«, rief er Elisabeth zu. Die hatte sich auf einen Stuhl in der Nähe gesetzt, um sich das Schlangestehen zu ersparen.

»Hallo.« Die Dame am Check-in wirkte erschöpft, zwang sich aber offensichtlich zu einem Lächeln. Sie nahm Julia die vier Pässe ab und tippte etwas in ihren Computer.

»Tut mir sehr leid«, sagte sie dann. »Aber wir sind überbucht. Wäre es möglich, dass zwei von ihnen ein paar Reihen weiter hinten sitzen? Dann kann ich eine Familie mit Kindern zusammensetzen.«

»Kein Problem.« Julia lächelte aufmunternd. »Wir hatten so ein schönes Weihnachtsfest, uns kann nichts mehr die Laune verderben, nicht wahr, Frank?«

»Es war großartig. Wir haben drei Mal Weihnachten gefeiert, an drei Tagen und in drei verschiedenen Ländern. Verrückt, was?«

»Tatsächlich? Das klingt toll. Und danke für Ihr Verständnis.« Die Frau hinter dem Schalter atmete sichtbar erleichtert auf. »Da sind Sie heute echt die Ersten. Was meinen Sie, was ich mir schon alles anhören musste.«

»Das tut mir leid. Ist bestimmt nicht einfach. Da vergeht einem die ganze weihnachtliche Erholung gleich wieder, was?« Julia nickte mitfühlend.

»Sie sagen es.« Die Frau tippte wieder etwas in ihren Computer, dann streifte sie Julia und Frank mit einem Blick und hob rebellisch das Kinn. »Und wissen Sie, was? Ich lasse mir davon nicht die Laune verderben. Ganz im Gegenteil.« Sie lächelte in sich hinein, tippte wieder etwas, druckte dann die Gepäckbelege aus und befestigte sie an den Taschen. »Hier sind die neuen Bordkarten, für sie alle, Frau Bachmann. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.«

»Danke.« Julia warf einen Blick auf ihre Bordkarte und stutzte. »Wir sitzen ja alle in Reihe zehn. Ich dachte, zwei von uns sitzen woanders?«

»Ich hab da was geändert.« Die Frau zwinkerte ihr zu. »Die einzigen Passagiere mit guter Laune sollen auch dafür belohnt werden. Und da vorn war noch so viel frei.«

»Business Class?« Frank starrte immer wieder auf seine Bordkarte. »Die hat uns einfach allen ein Upgrade gegeben? Ich fasse es nicht. Wir fliegen Business Class!« Er wurde immer lauter.

»Ist ja gut, Papa, jetzt schrei nicht so.« Emily sah sich verlegen um.

»Dass ich das noch ein zweites Mal erlebe.« Elisabeth schnäuzte sich gerührt. »Ihr werdet sehen, wie wunderbar das ist. Wenn ich das den anderen im Heim erzähle, dann platzen die vor Neid.«

»Was ist mit Anne?«, fragte Emily. »Die sitzt dann nicht bei uns, oder wie?«

»Die hatte doch ihre eigene Buchung.« Julia sah sich um. Da kam Anne mit Jason gerade durch den Security-Check. »Die beiden sitzen woanders. Glaub mir, die werden so eng zusammenrücken, dass es völlig egal ist, ob sie erste Klasse, Holzklasse oder Pappklasse reisen.«

Sie fuhren in einem kleinen Zug zum Abflugterminal und schlenderten dort zu ihrem Gate.

»Jetzt guckt mal, wer da steht«, sagte Elisabeth plötzlich. »Den kennen wir doch. Also ich, haha.«

Julia folgte ihrem Blick. Da war dieser junge Mann wieder, dieser Fotograf, der auf dem Hinflug neben Elisabeth gesessen hatte. Wie hieß er gleich noch mal?

»Andrew. Aus Australien.« Das kam von Emily, wie aus der Pistole geschossen. »Er sieht uns leider nicht.« Sie klang enttäuscht. Allerdings hellten sich ihre Züge wieder auf, als sie im Flugzeug ihren Platz suchte und entdeckte, dass Andrew wieder neben Elisabeth am Fenster saß.

»Was für ein Zufall, hello again!« Elisabeth winkte Andrew enthusiastisch zu.

»Hello there!« Er freute sich offenbar genauso.

Julia wechselte einen kurzen Blick mit Frank. Würden sie jetzt neun Stunden lang mitanhören müssen, wie seine achtzigjährige Mutter alle Register zog, um mit diesem Andrew zu flirten? Aber Elisabeth überraschte sie.

»Andrew, ich glaube, ich tausche mal kurz den Platz mit meiner Enkelin. Letztens hat es am Fenster so schrecklich gezogen, da sitze ich lieber in der Mitte.« Sie schob die verdutzte Emily neben Andrew und zwinkerte Julia zu.

»No problem.« Ein winziges Lächeln umspielte Andrews Lippen.

»Du kannst meinen Schal haben«, bot Frank seiner Mutter an.

»Nein, nein, ist schon gut.« Elisabeth winkte ab.

»Wirklich, Mutter. Nicht dass du dich noch erkältest.«

Elisabeth räusperte sich leise. »Frank, du warst noch nie der Hellste, aber trotzdem danke. Ich werde mich nicht erkälten, glaub es mir.«

Julia gab ein kurzes amüsiertes Geräusch von sich und sah aus den Augenwinkeln hinüber zu Emily. Die war bereits in ein Gespräch mit Andrew vertieft und Julia konnte sie lachen hören. Und noch etwas nahm sie wahr. Wie dieser Andrew ihre Emily ansah … Genau so hatte Frank sie selbst bei ihrem ersten Date vor über dreißig Jahren angesehen. Jetzt brachte die Stewardess den beiden jeweils ein Glas Sekt und sie stießen an. Dann kam sie zu ihnen und reichte ihnen ebenfalls ein Glas. Frank kippte seines nahezu auf ex hinunter.

»Hast du Angst vor dem Flug?«, fragte Julia leise.

»Angst? Nein, gar nicht. Hast du schon gesehen? Man kann den Sitz zu einem Bett umstellen. Und was wir hier alles essen können!« Er seufzte voller Vorfreude. »Guck dir das nur an, die haben hier sogar eine Speisekarte. Business Class, hey?« Er blätterte die Karte mit wachsender Begeisterung durch. »Und es gibt Brownies zum Nachtisch!«

Julia hatte gar keinen Hunger auf Gebäck. Allein beim Gedanken an die noch zu verzehrenden Stollen, die wie die drei Reiter der Gewichtsapokalypse auf sie warteten, wurde ihr ganz flau im Magen.

»Ui, schön, Brownies. Ich fange ja schon fast an, die Dinger zu mögen«, meinte Elisabeth. »Daphne hat mir noch eine Packung zugesteckt, die gebe ich den anderen im Seniorenheim. Muss ihnen ja sowieso irgendwas mitbringen.«

Julia schielte erneut zu Emily und Andrew. »Weißt du, was ich gerade überlege? Wie man wohl in Australien Weihnachten feiert? So in der Sonne und am Strand, das muss eigenartig sein.«

»Warum nicht?« Frank sah nicht einmal auf, er war immer noch nicht mit der Speisekarte fertig. »Ist vielleicht mal ein Erlebnis. Wieso fragst du das? Es ist wohl eher unwahrscheinlich, dass wir irgendwann in Australien Weihnachten feiern werden.«

»Du, da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Julia bedächtig, ohne den Blick von ihrer Jüngsten abzuwenden, die jetzt gebannt mit Andrew Tierfotos auf seinem Laptop betrachtete und zu diesem Zweck mindestens zehn Zentimeter näher an ihn herangerückt war. »Absolut nicht sicher.«

»Na, und wenn, das würden wir auch noch hinkriegen. Wir sind doch spontan.« Frank prostete ihr zu. »Und Weihnachten heißt nicht, dass man immer Schnee haben muss oder Gänsebraten oder Berge von Geschenken oder perfekt gewachsene Tannenbäume. Weihnachten ist …« Er suchte nach Worten.

Julia verstand auch so, was er sagen wollte. Das war der Vorteil, wenn man sich schon so lange kannte und liebte. Wie hatte Frank es neulich gleich ausgedrückt? Und in dem Moment, als die Anschnallzeichen aufleuchteten, der Pilot etwas Unverständliches durchs Mikro nuschelte und die Sonne als Abschiedsgruß ein letztes Strahlen auf die weiße Winterpracht draußen schickte, fiel es Julia wieder ein:

»Weihnachten ist ein Gefühl im Herzen.«