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Morgen, Kinder, wird’s was geben |
In der Seniorenresidenz »Am Park« veranstalteten ein paar weißhaarige alte Damen ein Kaffeekränzchen im großen Saal und lauschten dem Klavierspiel eines ebenfalls weißhaarigen Pianisten.
Franks Mutter, Elisabeth Bachmann, hatte einen Tisch etwas weiter weg gewählt. Als ihre Schwiegertochter den Raum betrat, winkte sie ihr zu und goss ihr sofort eine Tasse Kaffee ein.
Julia nahm Platz.
»Hallo, Elisabeth, warum sitzt du denn nicht bei den anderen?«
»Weil ich kein Groupie von Herrn Beyer bin. Gleich spielt er Morgen, Kinder, wird’s was geben«, verkündete Elisabeth und verdrehte dabei die Augen. »Das hat er seit dem ersten Dezember schon hundert Mal gespielt. Allein heute schon mindestens vier Mal. Wenn er es noch mal spielt, gehe ich vor und gebe ihm was, und zwar nicht erst morgen. Etwas, woran er sich für den kurzen Rest seines verbleibenden Lebens erinnern wird.«
»Aber …« Julia biss sich auf die Lippe und lachte in ihren Schal. »Du musst doch nicht hier sitzen und ihm zuhören.«
»Und ob ich muss. Gleich fängt nämlich die Schicht von David an, und der kommt hier in den Saal.«
»Wer ist denn David?«
»Unser reizender neuer Betreuer. Der ist aus England und redet immer mit mir. Die alten Schachteln da drüben verstehen ja kein Wort Englisch.«
Elisabeth deutete voller Verachtung mit dem Kopf zu den Damen am Nachbartisch, die jetzt dem Klavierspieler höflich Beifall klatschten. Wenige Sekunden später erklangen die ersten Töne von Morgen, Kinder, wird’s was geben. Elisabeth stöhnte leise auf.
»Reizender junger Betreuer?« Wen hatte ihre Schwiegermutter denn da schon wieder im Visier? »Wie genau darf ich reizend verstehen?«
»Mit irgendwas muss man sich ja die Zeit vertreiben …« Elisabeth goss sich noch mehr Kaffeesahne in die Tasse. »David und ich haben neulich sogar zusammen weißen Glühwein getrunken. Das kannte der noch gar nicht, hat ihn schwer begeistert.« Sie schob ein Adventsgesteck auf dem Tisch hin und her. »Das hier haben die anderen in der Zeit gebastelt. Was meinst du, was das für ein Theater war! Jeder wollte das schönste Gesteck machen, wie in der dritten Klasse. Da zwitschere ich lieber einen mit dem David.«
Ein junger Mann, die Haare zum Man Bun gezwirbelt und mit einem Namensschildchen am T-Shirt, betrat den Raum.
»Hallo, David!«, kreischten die Damen vom Nebentisch entzückt und so laut, dass sie den Klavierspieler übertönten. Der wurde davon so aufgeschreckt, dass er sich verspielte, sein verwirrtes Gesicht dem Quell der Störung zuwandte, eine Weile lang konsterniert seine Umgebung betrachtete, als hätte er eher erwartet, sich auf einer Forschungsstation im Eismeer zu befinden, und dann übergangslos mit Lasst uns froh und munter sein weitermachte.
»Hi, Ladys.« Der junge Mann namens David grinste fröhlich. »Hi, Betty.« Er winkte Julias Schwiegermutter zu.
»Das ist er, der David«, erklärte diese stolz.
»Der nennt dich Betty?« Julia konnte es nicht fassen.
»Ja, warum denn nicht? Das ist die englische Kurzform von Elisabeth, und so heiße ich nun mal. Ich finde, das klingt lässig.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Silvester hat er Dienst hier. Da werde ich eine Ohnmacht faken, wenn die Böller losgehen. Dann muss er sich kümmern. Hab ich alles schon geplant.«
»Also, jetzt hör auf.« Julia prustete los.
Elisabeth war wirklich eine Nummer für sich. Und im Gegensatz zu den meisten ihrer Freundinnen und Bekannten kam Julia sehr gut mit ihrer Schwiegermutter aus. Sie hatte schon immer einen besseren Draht zu ihr gehabt als zu ihren eigenen Eltern, die schon längst nicht mehr lebten. Ja, das war ungewöhnlich, das war ihr klar. Elisabeth konnte zwar ziemlich sarkastisch werden, hatte eine Schwäche für junge Männer und die luxuriöseren Seiten des Lebens, aber sie hatte ein gutes Herz und war außerdem geistig fitter als so manche Fünfzigjährige. Mit ihren achtzig Jahren war sie überdies voller Tatendrang und von dem dringenden Wunsch beseelt, sich nützlich zu machen. Weder Julia noch Frank hatten vor einem Jahr verstehen können, warum Elisabeth in die Residenz »Am Park« gezogen war, schließlich war sie noch mehr als rüstig. Mittlerweile jedoch glaubte Julia, den Grund zu ahnen. Elisabeth brauchte andere Leute um sich, sie hätte sich jedoch niemals Julia und Frank in ihrem Haus aufgedrängt. Allein verkümmerte sie, sie brauchte Action, ein wenig Klatsch, ein wenig Aufregung und vor allem Menschen, mit denen sie reden konnte.
»Zu Silvester bist du außerdem bei uns«, sagte Julia. »Wir holen dich am Dreiundzwanzigsten vormittags ab, dann kannst du mir ein bisschen bei den Vorbereitungen helfen.«
Viel würde es nicht zu helfen geben, weil Frank sich sicher an der Gans austobte und alles andere schon vorbereitet sein würde. Außerdem waren sie in diesem Jahr nur zu viert, aber Julia wusste, dass ihre Schwiegermutter stets auf eine Gelegenheit hoffte, ihre Hilfe anzubieten, und sich niemals nur mit einem Glas Eierlikör in der Hand auf der Couch rekeln und bedienen lassen würde.
»Kommt Anne nun also wirklich nicht?«, erkundigte sich Elisabeth. »Ich meine – bei Charlotte kann man es ja verstehen, aber Anne hat kein Kind gekriegt und England ist heutzutage auch keine Entfernung mehr.«
Julia schüttelte den Kopf. »Nein. Sie will mit ihrem Freund zusammen das erste gemeinsame Weihnachten feiern, hat sie gesagt. Echt englisch, mit allem, was dazugehört.«
»Ach so. Na gut, das würde ich in dem Fall wohl auch machen«, sagte Elisabeth und bedachte David mit einem wohlwollenden Blick. »So ein fescher junger Engländer unterm Mistelzweig …«
Julia schüttelte amüsiert den Kopf. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie Elisabeth von Christine und ihrem jungen Lover erzählen sollte. Lieber nicht. Es brachte ihre Schwiegermutter möglicherweise auf dumme Gedanken.
»Und Christmas Pudding und Charles Dickens und so weiter«, fuhr Elisabeth verträumt fort. »Socken, die über dem Kamin hängen, tief verschneite Hügel, auf denen malerische Cottages stehen …«
»Sie wohnt in London, in einem Apartment.«
»Weiß ich doch. Sei nicht immer so pingelig. Ich schwelge nur ein bisschen. Ich habe England immer sehr gemocht. Früher bin ich ja oft mit Bernhard dahin gefahren.«
»Ich weiß.« Bernhard, Julias wunderbar warmherziger Schwiegervater, lebte leider schon seit ein paar Jahren nicht mehr. »Zu Weihnachten machen wir die Gans genau so, wie Bernhard sie immer gemacht hat, und danach ist Videochat mit Anne und Charlotte angesagt, da kannst du auch Connor sehen, deinen Urenkel.«
Elisabeth nickte stumm, und unvermittelt zog sich Julias Herz zusammen. Wenn ihre eigenen Chancen schon schlecht standen, ihren Enkel in der nächsten Zeit live zu sehen, so lagen die Chancen ihrer Schwiegermutter, dem kleinen Urenkel in ihrem Leben überhaupt noch zu begegnen, wahrscheinlich bei unter zehn Prozent. Das Weihnachtsfest würde diesmal lange nicht so unbeschwert werden wie sonst, das wurde Julia mit einem Mal klar. Sie würden natürlich alle versuchen, sich nichts anmerken zu lassen, aber im Endeffekt ließ es sich nicht verleugnen: Es war der Beginn einer neuen Ära. Eine Zeit, in der die Kinder flügge wurden, bis Julia irgendwann mit Frank allein übrig blieb wie ein graues altes Spatzenpaar.
Wenn sie an diesem Weihnachten wenigstens irgendwo anders hätten hinfahren können. Ins Warme oder so. Es mussten ja nicht gleich die teuren Malediven sein. Vielleicht mit Elisabeth, oder sogar mit Emily. Aber das war ja nicht möglich – Frank stieg in kein Flugzeug und wäre niemals mit einem Weihnachten unter Palmen zurechtgekommen. In so einem tropischen Land sang natürlich nicht der Dresdner Kreuzchor seine schwermütigen Weisen zum Fest, sondern es lärmte eine glitzernde Tingeltangelband an der Strandbar. Das wäre wie heiße Lava in Franks Ohren, von seiner Besessenheit von Gänsebraten und der Vorliebe seiner Mutter für Stollen und Glühwein mal ganz zu schweigen. Nein, Frank würde an Heiligabend eher im Archivkeller seiner Krankenversicherung Krankenscheine aus den gesamten Neunzigerjahren alphabetisch ordnen, als auf Hawaii unter einer mit Lichterketten behängten Palme zu schunkeln.
Ein einziges Mal hatten sie in der Vergangenheit ein alternatives Weihnachtsfest gewagt. Vor ungefähr sechzehn Jahren war das gewesen. Mit Franks Kollegen Jürgen, seiner Frau und den Kindern deren Berghütte im verschneiten Bayrischen Wald zu teilen – was hätte es Weihnachtlicheres geben können? Nun, wie sich herausstellte, so ziemlich alles. Selbst Camping vor dem Brandenburger Tor wäre entspannter gewesen. Julia erinnerte sich mit Horror an Steffis und Jürgens rotzverschmierte Blagen, die als Allererstes Emily entgegenkrähten, dass der Weihnachtsmann eine Erfindung ihrer blöden Eltern sei, dann wie kleine Primaten auf den Möbeln herumturnten und es sogar schafften, den Hirschgeweih-Kronleuchter zu Bruch zu bringen. Jürgen brauchte bereits morgens um zehn einen »Muntermacher« aus Rum im Kaffee und Steffi saß erschlafft auf der Couch und jammerte: »Ihr kriegt alle nichts vom Christkind, ich sag’s euch!«, während ihre Kinder sich mit abgebrochenen Weihnachtsbaumzweigen peitschten und mit ihren Popelfingern Tunnel durch Franks Stollen bohrten.
Es war ein so niederschmetterndes Erlebnis gewesen, dass Frank und Julia hinterher vermieden, in irgendeiner Weise darüber zu sprechen, um das Trauma nicht noch zu vertiefen.
Ach, den Stollen musste sie noch vom Bäcker besorgen, fiel es ihr plötzlich ein. Warum eigentlich? Niemand außer Elisabeth mochte das klebrig süße, schwere Gebäck so richtig, selbst Franks Begeisterung hielt sich in Grenzen. Sie seufzte. Irgendwie gehörte ein Stollen aber trotzdem zu Weihnachten dazu.
»Da kommt die Frau Weber«, bemerkte Elisabeth jetzt leise. »Die klaut. Hab ich dir das schon erzählt?«
»Nein.« Julia betrachtete überrascht die unscheinbare kleine alte Frau, die durch den Saal schlenderte und hier und da mal stehen blieb. »Was klaut sie denn?«
»Alles, was ihr unter die Finger kommt. Die ist kleptomanisch, das sag ich dir. Besteck und Handschuhe und Monatskarten für die Bahn und so weiter. Ich trage immer das Wichtigste aus meinem Zimmer bei mir. Man weiß ja nie.« Elisabeth klopfte auf ihre prall gefüllte Handtasche.
»So was musst du melden, wenn du das weißt!«
»Nein, warum denn? Dann hab ich ja nichts mehr, was ich beobachten kann.«
Der Klavierspieler, der kurz mal hinausgeschlurft war, kam wieder herein, nahm seinen Platz ein und drosch erneut in die Tasten.
»Jetzt geht’s wieder los.« Elisabeth verdrehte die Augen.
»Morgen, Kinder, wird’s was geben«, schallte es durch den Saal, die Damen am Nachbartisch sangen mit brüchigen Stimmen mit und Frau Weber steckte blitzschnell eine Kuchengabel in die Tasche ihrer Strickjacke.
»Ich hol dich am Dreiundzwanzigsten, so früh es geht, ab, ich verspreche es dir.« Julia drückte ihre Schwiegermutter ganz fest. Am besten schon im Morgengrauen. Bevor der Klavierspieler loslegte.
Sie betrat die Bäckerei, und eine melodische Ladenglocke erklang, die ebenfalls schon seit ewigen Zeiten hier bimmelte. Julia beschloss, den kleinsten Stollen zu nehmen, den sie hatten. Selbst der war wahrscheinlich noch zu groß. Sie selbst würde sich der Form halber lediglich eine kleine Scheibe reinwürgen, Emily würde verächtlich schnauben, wenn man ihr den Stollen anbot, und Frank müde abwinken. Nur Elisabeth würde sich daran erfreuen, allerdings auch nicht wie ein Sumo-Ringer futtern.
Die Bäckerin Frau Reichert begrüßte sie überschwänglich. »Ich dachte schon, Sie kommen gar nicht mehr und sind dieses Jahr zur Konkurrenz übergelaufen.«
»Um Gottes willen, es gibt doch nur bei Ihnen den richtig guten Stollen, auch wenn ich dieses Jahr nur einen kl…«
»Warten Sie, ich hab Ihnen einen aufgehoben«, wurde sie von Frau Reichert unterbrochen. Die tauchte ab, holte etwas unter dem Ladentisch hervor und reichte es Julia mit einem triumphierenden Lächeln. »Extra für Sie und Ihre Familie. Alles Bio, zwei Kilo schwer. Den größten, den ich dieses Jahr hatte. Und weil sie so eine gute Kundin sind, gibt es noch einen Ministollen gratis dazu.«
Julia schluckte. Das süße Stück war so groß wie ein Geigenkasten, der Babystollen daneben hätte für ihre Zwecke völlig ausgereicht.
»Oh, wie schön, ich wollte aber …«, setzte sie an, dann fehlten ihr die Worte.
»Ich wusste, dass Sie sich freuen würden. Das wären dann vierzig Euro glatt. Noch ein paar Plätzchen dazu?«
»Die back ich selber«, krächzte Julia. Was um Himmels willen machte sie hier eigentlich? Mechanisch nahm sie den Stollen mit seinem Kind entgegen, die gemeinsam mit den beiden unnützen Lebkuchenherzen ein komplett sinnentleertes Dasein in ihrem Haus fristen würden.
»… Ihnen schöne Feiertage«, drang die Stimme von Frau Reichert wieder zu ihr durch.
»Ihnen auch.« Julia schleppte das riesige Gebäck zur Tür und ärgerte sich über ihre eigene Feigheit.
Zu Hause angekommen, sperrte sie die beiden Stollen sofort in die Speisekammer. Weg damit. Aus dem Radio dudelte weihnachtliche Musik und hob ihre Stimmung. Ach, natürlich würden sie in diesem Jahr ein schönes Fest feiern, auch wenn Charlotte und Anne nicht dabei waren. Vielleicht konnte sie Frank ja wenigstens dazu überreden, mal ein anderes Essen auszuprobieren? Vielleicht ein vegetarisches Festmahl anstatt der fettigen Gans? Oder wie wäre es mit einem schönen Konzertbesuch anstelle von stundenlangem Fernsehen? Erst letztens hatte eine von Julias Kolleginnen in der Physiotherapie-Praxis ein Rezept für eine raffinierte weihnachtliche Grünkohlrolle mitgebracht. Warum eigentlich nicht?
Doch dann sah Julia ihren Mann vor sich, wie er mit langem Gesicht die Grünkohlrolle sezierte, dabei seufzte und gleichzeitig viel zu oft versicherte, dass sie ihm hervorragend schmeckte, wie er dann zu fortgeschrittener Stunde zur Gefriertruhe schlich und dort sehnsüchtig die tiefgefrorene Gans streichelte und wie er ergeben in einem viel zu engen Anzug in einem Konzertsaal saß und dem Weihnachtsoratorium lauschte, dabei heimlich mit seiner Apple Watch herumspielte und schließlich während einer Arie von einem Hustenanfall gebeutelt wurde. Lieber nicht. Weihnachten war sein Heiliger Gral, sie rüttelte besser nicht daran.
Plätzchen würde sie trotzdem backen, dazu war sie dieses Jahr noch gar nicht gekommen und Emily liebte Weihnachtsplätzchen über alles. Am Sonntag war der zweite Advent, da würde sie es sich mit Frank gemütlich machen.
Sie setzte den Teig für die Lebkuchen an, denn der musste über Nacht im Kühlschrank ruhen, arbeitete sich von Linzer Plätzchen zu Vanillekipferln weiter und beendete die Backorgie mit Emilys Lieblingsgebäck, sogenannten Weinbrandsternen. Nach knapp zwei Stunden sank sie erschöpft auf den Stuhl. Es duftete himmlisch in der Küche. Frank würde Augen machen!
Ihr Handy klingelte, Emily rief aus Berlin an. Julia wischte sich schnell die mehlbeschmierten Hände an einem Geschirrtuch ab und ging ran. »Hallo, mein Schatz?«
»Hallo, Mama. Alles klar bei euch?«
»Ja, bestens.« Im Hintergrund knallte und klirrte es bei Emily. »Was ist denn das für ein Lärm bei euch? Feiert jemand Polterabend?«
»Nee, Jannik hat so kitschige Engel von irgendwem bekommen, und die zerkloppen sie jetzt.«
»Was? Wer? Und warum?«
»Na, die anderen aus der WG, weil Weihnachten so eine kommerziell verseuchte sentimentale Konsumscheiße geworden ist und wir uns solchen Müll nicht hier in die Wohnung stellen und das Ganze noch damit unterstützen.«
»Ach so.« Julia lauschte verblüfft. »Die armen Engel. Na, ihr könnt ja machen, was ihr wollt. Aber ich dachte, du liebst Weihnachten?«
»Nein, nicht mehr. Wie kann man das denn feiern, wenn überall auf der Welt so viel Schreckliches passiert? Die Leute sterben wie die Fliegen in anderen Ländern und wir fressen Stollen und Gans!«
Sofort fiel Julia der unselige Riesenstollen mit seinem Anhängsel wieder ein. »Wenn wir zu Hause herumsitzen und kein Weihnachten feiern, ändert sich auch nichts für diese Leute. Also warum darauf verzichten?«
»Weil es dann insgesamt gesehen nicht mehr so pervers ist.«
»Also, ich kann dir jetzt irgendwie nicht ganz folgen. Aber in zwei Wochen kommst du ja und dann wollen wir mal sehen, wer hier kein Weihnachten mehr mag.«
Julia versuchte, ihrer Stimme einen heiteren Ton zu verleihen, Emilys nächster Satz jedoch brachte ihre ganze Welt zum Einstürzen.
»Mama, ich komme nicht. Ich hab es mir anders überlegt. Wir verzichten auf den ganzen Konsumterror und machen hier in der WG eine Anti-Weihnachts-Party. Janniks Band wird spielen und vielleicht nehme ich sogar ein paar Hunde aus meinem Tierheim über die Feiertage auf. Um die kümmert sich nämlich zu Weihnachten kein Mensch.«
»Was? Emily, wir freuen uns auf dich! Oma kommt, die will dich mal wiedersehen.«
»Sie kann mich doch ein andermal sehen. Im Januar oder so. Ist ja fast dasselbe.«
Nein, das war nicht dasselbe! Wie konnte Emily ihnen das antun? Wut stieg in Julia auf, aber sich jetzt mit ihrer jüngsten Tochter zu streiten, würde die Weihnachtsstimmung nicht gerade verbessern.
»Das finde ich total schade, Emily«, sagte sie deshalb nur leise.
»Mama, es ist nur ein blödes Fest, das künstlich aufgebauscht wird. Eine ganze Industrie verdient daran und an Frieden auf Erden glaubt mittlerweile kein Mensch mehr. Nur noch an Shoppen.« Emily stieß geräuschvoll die Luft aus, wahrscheinlich rauchte sie wieder, obwohl sie angeblich aufgehört hatte.
»Für unsere Familie ist es nicht nur ein blödes Fest«, widersprach Julia. In dem Moment rumste und knallte es wieder bei Emily, jemand lachte hysterisch, jemand schrie: »Ey, Alder, wie geil ist das denn!«, und da konnte Julia das Gespräch einfach nicht mehr ertragen.
»Ich rufe dich in den nächsten Tagen noch mal zurück, ich hab was im Ofen«, sagte sie kurz angebunden und legte auf.
Wie betäubt ließ sie ihren Blick durch die Küche schweifen. Sieben Bleche voller Plätzchen standen um sie herum. Plätzchen, die verziert und mit Marmelade zusammengeklebt und mit Puderzucker bestreut werden wollten. Im Kühlschrank wartete der Teig für die Lebkuchen auf seinen Einsatz, die Herzen für die Mädchen lagen im Schrank und in der Speisekammer lauerte der Riesenstollen wie das Phantom der Oper auf sie. Wer sollte das alles essen? Und plötzlich schossen Julia die Tränen in die Augen.