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Alle Jahre wieder

22.12., nachmittags
Weimar, Deutschland

»Also, ich weiß nicht …« Der Weihnachtsbaum sah aus wie eine Kreuzung aus Grabschmuck und Gehhilfe. Julia betrachtete ihn unglücklich. »Gab es denn nichts Besseres? Und viel zu klein ist er auch.«

Frank verdrehte die Augen. »Ja, das kann ich jetzt auch nicht ändern. Dann geh und kauf noch einen anderen, wenn du dich heute noch in das Tollhaus namens Innenstadt stürzen willst. Erst wolltest du gar keinen Baum. Gestern sagst du mir, du willst doch einen. Dann, wenn ich schon unterwegs bin, schreibst du mir eine Nachricht, dass er möglichst klein sein soll, damit er nicht so viel Arbeit und Dreck macht. Und nicht zu teuer, weil er sowieso bald wieder rausfliegt. Alle diese Komponenten zusammengenommen ergeben genau diese Tanne hier.«

Frank stupste den Baum an, der sich daraufhin langsam zur Seite neigte und unterwürfig wie ein einbeiniger Butler in dieser Position verharrte.

»Und in den Weihnachtsbaumständer passt er auch nicht«, bemängelte Julia.

»Natürlich nicht. Er ist ja kleiner als die Bäume, die wir in den letzten Jahren hatten. Ich verstehe sowieso nicht, warum wir plötzlich auf einen schönen Baum verzichten müssen, nur weil wir in diesem Jahr nicht so viele sind.«

»Na, weil …« Ach, verdammt.

Einen Moment lang standen sie schweigend vor dem mickrigen Baum und betrachteten ihn. Die Kiste mit dem Weihnachtsschmuck stand daneben, die Hälfte davon konnte Julia gleich wieder auf den Dachboden schaffen, weil das viel zu viel war. An weihnachtlichem Beiwerk gab es dieses Jahr bei ihnen weder Fensterschmuck noch bunte Teller, dafür über zweihundert Plätzchen in Dosen, die beiden Stollen, wegen denen Julia kaum noch die Speisekammer betrat, weil sie so hilflos und nutzlos da herumlagen und ihr leidtaten, sowie das alljährliche Adventsgesteck auf dem Tisch. Und der Nussknacker, der noch von Julias Mutter stammte. Er stand einsam auf dem Fensterbrett, ein Soldat auf verlorenem Posten, und sah traurig auf die Straße hinaus. Noch trauriger guckte allerdings Frank, dem wohl langsam dämmerte, dass der Zug zu einem Weihnachten-wie-immer in diesem Jahr längst abgefahren war.

»Es ist okay«, murmelte Julia. »Ist halt alles ein bisschen bescheidener dieses Jahr. Tut mir leid.«

»Macht nichts.« Frank legte den Arm um sie, er wusste genau, dass es hier nicht nur um den Baum ging. »Wir machen uns ein gemütliches Fest mit meiner Mutter, es wird trotzdem alles gut, du wirst sehen. Verhungern werden wir jedenfalls nicht, denn der Gänsebraten ist schon gesichert.« Er zog und schraubte an dem Weihachtsbaumständer herum und verschob irgendetwas und schon stand der Baum wieder aufrecht. Sofort sah er nicht mehr ganz so hilfsbedürftig aus, und Julia begann, ihn mit den kleinsten Kugeln zu behängen.

Wenig später nahm sie köstliche Düfte aus der Küche wahr. Wenn es ums Essen ging, war Frank ganz in seinem Element, und außerdem ließ er seine Weihnachts-Playlist durch das ganze Haus schallen. »Walking in a Winter Wonderland«, sang Bob Dylan mit seiner kratzigen Stimme und Julias Gedanken drifteten nach Amerika, nach Seattle, wo es jetzt sechs Uhr morgens war und ihre Tochter Charlotte hoffentlich noch schlief und sich etwas Ruhe gönnte, bevor Baby Connor sie wieder weckte.

Julias Handy summte und kündigte eine Whatsapp an. Von Charlotte! Wenn das keine Gedankenübertragung war.

Bin schon wieder wach oder immer noch oder was auch immer, ich weiß es selbst nicht mehr genau. Hier ist Connor vor einem unserer Weihnachtsbäume!!

Das Foto zeigte Charlotte, die auf dem Boden hockte, die blonden Haare zu einem Zopf zusammengerafft und immer noch ein bisschen pummelig von der Schwangerschaft. Dunkle Schatten unter den Augen, aber ein glückliches Lächeln im Gesicht. Neben ihr Connor mit einem Weihnachtsmützchen auf dem Kopf, der leicht erstaunt in die Kamera blickte. War da schon der Anflug eines Lächelns zu sehen? Er lag in einer Babyschale vor einem komplett in Weiß und Silber gehaltenen Weihnachtsbaum. Einer ihrer Bäume?

Süß! Habt ihr denn mehr als einen Baum?

Als Antwort schickte Charlotte ein Smiley, das sich vor Lachen krümmte. Julia betrachtete es grübelnd. Was bedeutete das?

Ich melde mich am Vierundzwanzigsten gegen elf Uhr morgens, okay? (schrieb Charlotte zurück.) Dann ist es bei euch acht Uhr am Abend. Jetzt verlangt Connor nach mir.

Freue mich drauf! Gib ihm einen Kuss von mir.

Mach ich.

Julia hielt ihr Telefon noch eine Weile in der Hand und betrachtete das Foto von dem weiß geschmückten Baum. Ja, der sah schick aus, ohne Frage, fast wie aus Schöner Wohnen. Ach, wie gern hätte sie mal ein bisschen länger mit Charlotte geredet, aber wegen der Zeitverschiebung war das immer so schwierig. Und Anne war immer so beschäftigt und Emily, die meldete sich überhaupt nicht mehr. War sie eingeschnappt, weil Julia neulich einfach aufgelegt hatte? Julia beschloss, ihrer Jüngsten eine Whatsapp zu schicken. Zu Weihnachten musste man sich doch vertragen, das hielt ihr harmoniesüchtiges Mutterherz sonst nicht aus. Es reichte schon, wenn sie sich dauernd Sorgen um ihre Töchter machte – um Emilys Zukunft, darum, dass Annes unbekannter Freund sie hoffentlich nett behandelte, und darum, dass Charlotte in dem fernen und befremdlichen Amerika mit ihrem ersten Kind auch gut klarkam.

Sie überlegte kurz, dann schoss sie ein Foto von dem kümmerlichen Weihnachtsbaum, schickte es an Emily in Berlin und schrieb dazu:

Wir entziehen uns auch dem Konsumterror und nehmen stattdessen über die Feiertage einen entwicklungsverzögerten Baum bei uns auf.

Ihren Sinn für Humor hatte Emily ja hoffentlich noch nicht verloren.

Gegen Abend fing es tatsächlich an zu schneien. Vielleicht bekamen sie ja mal wieder eine weiße Weihnacht. Zwar war es immer noch kein richtiger Pulverschnee, doch der Seele tat der sanfte Flockenwirbel gut. Julia hatte es sich in ihrem großen Ledersessel gemütlich gemacht, ein Buch in der Hand, ein Glas Wein auf dem kleinen Beistelltisch. Der Fernseher flimmerte im Hintergrund, zwei pausbäckige Frauen im Trachtenlook sangen dort mit viel Ergriffenheit vom Ros, das entsprungen war. Wer hatte das denn eingestellt? Julia zappte sich durch die Kanäle und blieb bei einer Dokumentation über eine Frau hängen, die zu Weihnachten dreiundzwanzig streunende Katzen in ihrem Haus aufnahm. Julia verschluckte sich vor Schreck an ihrem Wein und hustete. War das ihre Emily in vierzig Jahren?

»Ich mach trotzdem wieder meinen Punsch, okay?«, rief Frank aus der Küche. »Auch wenn wir nur zu dritt sind.«

»Natürlich«, rief sie zurück. »Hast du alles da?«

Franks Weihnachtspunsch war Legende, ein aromatisches Gebräu aus Rotwein, Weinbrand, Nelken und Orangen, ohne das Weihnachten nicht vollständig war.

Franks Antwort ging im Klingeln des Telefons unter. Es war Anne aus London, und Julia sprintete zum Apparat.

Anne berichtete ihr, dass sie ein echtes britisches Weihnachtsessen plane und von einer netten älteren Nachbarin viel Hilfe bei der Vorbereitung bekommen habe. Sie wolle dieser nun irgendetwas im Gegenzug dafür schenken.

»Ich weiß nur nicht so richtig, was«, meinte sie ratlos.

»Weißen Glühwein«, antwortete Julia wie aus der Pistole geschossen. »Engländer lieben weißen Glühwein, hab ich mir sagen lassen. Von Oma. Die kennt sich da aus.«

»Oma kennt sich da aus?«, wunderte sich Anne. »Wieso das denn?«

»Deine Großmutter pflegt … äh … freundschaftliche Beziehungen zu einem jungen Engländer.«

»Echt?« Anne lachte hell auf. »Ach, Oma. Ich würde sie so gern mal wiedersehen. Danke für den Tipp. Was schenkst du eigentlich Papa?«

»Nichts Besonderes. Einen Pulli. Ein paar Bücher, eine Grillzange und noch ein paar Kleinigkeiten. Wir wollen ja bei dem ganzen Konsumterror nicht mehr so mitmachen.«

»Du hast nicht zufällig mit Emily geredet, oder? Ich meine, sie aus deinen Worten herauszuhören.«

»Ja. Aber sie kommt zu Weihnachten nicht nach Hause.«

Anne schwieg einen Moment lang verblüfft. »Was? Ach, Mensch, das tut mir leid. Warum denn nicht?«

»Weil deine Schwester angeblich Weihnachten nicht mehr mag.«

»Vielleicht überlegt sie es sich noch anders.«

»Tja, vielleicht. Was hast du denn für deinen Jason?«, lenkte Julia rasch ab.

»Einen GoPro.«

»Einen was?«

»Das ist so eine Minikamera, die du am Körper befestigst. Damit kannst du filmen, wie du einen Berg hinuntersaust, beim Skifahren oder so.«

»Wozu das denn? Man sieht doch ohnehin, wie man den Berg hinuntersaust.«

»Mama!« Anne lachte. »Es ist halt was für Extremsport. Männer lieben so was. Technischer Krimskrams.«

»Ich würde ihn ja gern mal kennenlernen, deinen Jason. Warum kommt ihr uns nicht endlich mal zusammen besuchen?«

»Weil er immer so viel zu arbeiten hat. Und ich auch. Wir bekommen hier nicht so viel Urlaub wie ihr in Deutschland. Aber ihr könntet mal herfliegen, einfach übers Wochenende.«

»Na ja, du weißt doch, Papa …« Julia ließ den Rest des Satzes unausgesprochen in der Luft hängen. Sie hatte schließlich schon oft genug damit angefangen, aber Frank wich immer aus und wechselte das Thema. Er wollte weder fliegen noch zugeben, dass er Flugangst hatte, noch überhaupt in irgendeiner Weise über die Angelegenheit reden.

»Dann wenigstens du allein, Mama. Wie vor zwei Jahren.«

Vor zwei Jahren, lange vor Jason, war Julia tatsächlich einmal übers Wochenende nach London gedüst. Anne hatte damals gerade ihren Job angefangen und wohnte noch bei einer Freundin, die ununterbrochen mit weinerlicher Stimme mit ihrem Freund telefonierte, bis dieser per Telefon Schluss machte. Anne musste die Freundin daraufhin trösten und Julia kam sich ein wenig überflüssig vor. Sie lief allein durch Covent Garden und über den Piccadilly Circus, verstand kein Wort, aß überteuerte dreiecksförmige Sandwiches mit rätselhaftem Belag und sehnte sich nach Frank. Und irgendwie hatte es sich seitdem nie wieder ergeben.

»Wir kommen einfach mal mit dem Auto«, schwindelte sie betont fröhlich, weil Franks Angst vor dem Linksverkehr nur geringfügig kleiner war als die vor dem Fliegen. Warum hatte sie eigentlich keinen Piloten oder Rennfahrer geheiratet? Sie beantwortete sich die Frage gleich selbst: weil damals keiner zur Wahl stand und Frank abgesehen von seiner Macke der gutmütigste und liebste Mann der Welt war. Als Julia mit Charlotte schwanger gewesen war und sie noch kein Auto hatten, war Frank mal für sie zwanzig Kilometer auf dem Fahrrad zur einzigen vernünftigen Eisdiele im Umkreis gefahren, um in einem Thermobehälter Julias Lieblingseiscreme zu besorgen. Nur weil sie so einen Appetit darauf hatte! Ob dieser Jason so etwas für Anne tun würde?

»Und woraus besteht denn nun eigentlich das große britische Festessen?«, wechselte sie schnell das Thema. »Erzähl mal.«

»Na, Mrs Brown hat mir bei dem Menü geholfen. Es gibt Truthahn mit einer Kastanienfüllung und natürlich flambierten Christmas Pudding mit Weinbrandsoße. Und dann noch so Weihnachtsplätzchen namens Mince Pies mit Fruchtfüllung und Weinbrand. Eigentlich wird alles in England mit Weinbrand zubereitet, wenn ich es recht betrachte.«

»Oh wow, dein Jason kann sich glücklich schätzen!«

»Na ja, ich aber auch. Glaube ich zumindest. Also, er hat da was angedeutet …« Anne klang mit einem Mal leicht verlegen.

»Was denn?«

»Er hat neulich irgendwas gesagt, dass er sein Leben demnächst in eine neue Richtung lenken will und … also, ich glaube … er will mich vielleicht fragen, ob ich ihn hei…«

»Ob du ihn heiratest?« Julia kippte vor Schreck ihr Weinglas um.

»Ja. Ich glaube, schon.«

Was? Julia kannte diesen Menschen noch nicht einmal, und der wollte ihre Tochter heiraten?

»Was wirst du ihm denn antworten?«

Anne stieß ein entgeistertes Schnauben aus. »Na, was wohl? Ja, natürlich.«

»Selbstverständlich«, beeilte sich Julia zu sagen. Nicht, dass sie Anne auch noch verprellte. Eine Ehe wollte trotzdem gut überlegt sein. Die beiden kannten sich noch gar nicht so lange, gerade mal ein Jahr! Letztes Weihnachten hatten sie sich irgendwo in einem Pub kennengelernt. Und hatte dieser ominöse Jason mit seinem dicken Konto und seiner Extremsport-Kamera ihre gutmütige und kluge Tochter denn überhaupt verdient? Anne schien ihre Verstimmung zu spüren und berichtete jetzt von der Weihnachtsfeier ihrer Abteilung, bei der alle anwesenden Engländer mit einem Rentiergeweih auf dem Kopf Polonaise getanzt und mehrere Leute eine Alkoholvergiftung erlitten hatten. Julia gab im Gegenzug noch mehr Details von David preis, dem Schwarm des Seniorenheims, und irgendwann kam Frank dazu und schwatzte auch noch ein wenig mit Anne.

Als er aufgelegt hatte, überlegte Julia, ob sie ihm etwas von dem baldigen Heiratsantrag erzählen sollte, doch gerade als sie sich dazu entschloss, drehte er den Ton am Fernseher lauter.

»Guck mal, die zeigen Amerika im Fernsehen. Echt amerikanisches Weihnachten.«

Mit einer Mischung aus Faszination und Verwirrung verfolgten sie, wie die Kamera irgendwo im Mittleren Westen durch eine Straße glitt, in der totaler Weihnachtswahnsinn ausgebrochen war. Eine gigantische Schneekugel aus Gummi thronte auf einem Dach, darin tanzten Zwerge in einem dichten Flockenwirbel im Kreis, und das Ganze wurde vom Garten aus mit neongrünem Flutlicht beleuchtet. Tausende bunter Lichterketten schmückten das Haus, auf der Veranda standen drei aufblasbare Heilige Könige im Kunstschnee und ein kleiner Zug mit der Aufschrift Polarexpress sauste unentwegt durch den Vorgarten.

»Scott, was meinen Sie – wie viel geben Sie pro Jahr für Ihre Weihnachtsdekoration aus?«, fragte die Reporterin gerade einen stämmigen Mann mit Cowboyhut.

»Na ja, im Laufe der Jahre waren das sicher schon Zehntausende von Dollars.« Der Mann namens Scott lächelte stolz. »Das summiert sich allmählich. Aber man gibt es ja nicht jedes Jahr aufs Neue aus. Und Weihnachten ist ja auch nur einmal im Jahr.«

»Du lieber Himmel«, sagte die Reporterin und riss die Augen auf. »Das ist ja nicht zu fassen!«

»Dann sollten Sie erst mal das Haus von meinem Bruder sehen«, fuhr Scott geschmeichelt fort. »Der wohnt in Seattle an der Westküste und ist der Vorsitzende der Weihnachtskommission in seinem Viertel. Wer dort ein Haus kaufen will, der muss unterschreiben, dass er es spätestens bis zum ersten Dezember ordentlich schmückt. Und unter fünfzigtausend Lichtern braucht man da gar nicht erst anzufangen.« Er lachte kollernd. »Wir sind eben alle Weihnachtsfanatiker.«

»Voll durchgeknallt, die Amis«, kommentierte Frank und grunzte belustigt. »Um das alles am Leuchten zu halten, braucht man ja ein Kernkraftwerk im Garten! In Seattle auch, hat er gerade gesagt. Charlotte hat gar nicht erzählt, dass es dort solche Verrückte gibt.«

»Wahrscheinlich nicht genau da, wo sie wohnt. Das ist ja eher eine gediegene Gegend.«

»Na, Gott sei Dank. Von dem ganzen Lärm und Geflacker kriegt man ja Kopfschmerzen.« Frank verfolgte trotzdem fasziniert das Geschehen im fernen Mittleren Westen.

Julia antwortete nicht. Das Fernsehbild mitsamt der Schneekugel und den zahllosen blinkenden Lichtern spiegelte sich in den kleinen Kugeln ihres eigenen kärglichen Weihnachtsbaums und holte ein wenig Glanz der großen weiten Welt in ihre diesmal so leere Wohnung. Sie beneidete diesen unbekannten Scott im Fernsehen dafür, dass er sich einfach in sein Auto setzen und seinen Bruder in Seattle besuchen konnte, auch wenn die Fahrt sicher drei ganze Tage dauerte und es dort zuging wie im klingelnden, bimmelnden Fiebertraum eines drogenabhängigen Weihnachtsengels. Wenigstens trennte Scott kein endloses Meer von seinen Lieben.

Sie wandte sich schnell ab. In diesem Weihnachtsfest war der Wurm drin, es fühlte sich falsch an, stimmte hinten und vorn nicht. Zum Glück war es in ein paar Tagen schon wieder vorbei.