Die Favoritin
„Congratulations!“ Sue umarmte Hannah nun schon zum vierten Mal innerhalb weniger Minuten. „Well done!“
„Ich wusste, dass du es schaffst!“, jubelte Tori. „Hurra!“
Sina klopfte Hannah anerkennend auf den Rücken, Hannes strahlte sie an und hinter ihnen drängten sich Hannahs Eltern, um ihr ebenfalls zu gratulieren.
„Jetzt macht doch nicht so einen Wirbel“, wehrte sie ab. „Das war nur die Vorausscheidung, nicht das Turnier.“
„Der erste Schritt auf dem Weg zum Sieg“, rief Sina. „Und was für ein Schritt!“
„Da kann sich Myriam eine Scheibe von abschneiden“, spottete Tori.
„Lieber nicht“, meinte Sina. „Sie soll genauso bleiben, wie sie heute war.“
Die anderen lachten.
Myriam war fast am Schluss gestartet, als fünfundfünfzigste Teilnehmerin. Ohne die Spur eines Lächelns hatte sie sich auf den Rücken ihres schwarzen Quarterhorsewallachs geschwungen.
„Das Tier ist viel zu groß für sie“, murmelte Uwe, der neben Hannah auf der Zuschauertribüne saß. „Haben die Kingsize-Leute denn keine Augen im Kopf?“
Ernst grüßte Myriam die Wettkampfrichter, dann galoppierte sie los. Stangenkreuz, Trab, Drehung, Brücke, Tor – jede der Übungen absolvierten Reiterin und Pferd perfekt. Natürlich war Myriam bestens vorbereitet, wahrscheinlich hatte sie in den letzten Wochen genau wie Hannah täglich trainiert. Aber im Gegensatz zu Hannah schien sie die Freude am Reiten vollkommen verloren zu haben. Steif und angespannt saß sie im Sattel, ihre Vorführung wirkte einfach lustlos.
„Sie hat überhaupt keinen Ausdruck“, murmelte Uwe fasziniert.
„Was haben diese Idioten bloß mit ihr gemacht?“, flüsterte Sue fassungslos. „Myriam war so eine starke Reiterin, leidenschaftlich und begeistert. Und jetzt reitet sie … like a zombie.“
Wie ein Zombie. Das stimmt, dachte Hannah. Nach diesem Auftritt wäre keiner der Zuschauer auf die Idee gekommen, dass Myriam Pferde liebte und mit Enthusiasmus ritt. Offensichtlich hatte sie das Pattern genauso einstudiert, wie man Matheformeln oder Französischvokabeln paukte. Und nun spulte sie das Gelernte freudlos herunter.
„Sie schafft die Auswahl, das ist keine Frage“, erklärte Uwe, nachdem Myriam den Platz wieder verlassen hatte, ohne auch nur ein einziges Mal zu lächeln. „Aber das Turnier gewinnt sie auf diese Weise bestimmt nicht.“
Eine knappe Stunde später gaben die Preisrichter das Ergebnis bekannt. Genau wie Uwe es vorausgesagt hatte, hatten sich sowohl Hannah als auch Myriam qualifiziert.
„Aber beim Wettkampf hat sie keine Chance gegen dich“, erklärte Tori.
Alle waren schadenfroh. Nur Hannah konnte sich nicht richtig über Myriams miesen Auftritt freuen. Wie schlecht Myriam ausgesehen hatte. Und dieser verkniffene Gesichtsausdruck! Nach ihrem Auftritt hatten Petersen und ihr Vater sie am Ausgang des Reitplatzes empfangen. Myriams Vater hatte den Arm um ihre Schultern gelegt. Immerhin hatte er seiner Tochter keine Vorwürfe gemacht. Vielleicht verstand er aber auch einfach zu wenig vom Reiten, um zu erkennen, was für eine mäßige Leistung sie erbracht hatte.
„Vielleicht sollten wir sie anrufen“, sagte Hannah jetzt laut.
„Wen?“, fragte Tori überrascht. „Myriam?“
„Wenn wir ihr anbieten, dass sie wieder zurückkommt …“
„No way“, sagte Sue sofort. „Wenn sie wieder auf der Sunshine Ranch reiten will, freue ich mich. Aber ich werde ihr nicht hinterherrennen. Ich bin nicht nachtragend. Trotzdem habe ich auch meinen Stolz.“
Hannah nickte geknickt. Vermutlich hatte es ohnehin keinen Sinn, mit Myriam zu reden. Selbst wenn sie inzwischen gemerkt hatte, dass sie einen Fehler gemacht hatte, würde sie ihn niemals eingestehen. Dazu war sie viel zu eigensinnig.
Und außerdem … Die verächtlichen Worte ihrer Freundin hallten immer noch in ihren Ohren. Da hat sie sich ja die Richtige ausgesucht. Vielleicht musste Myriam wirklich erst mal von ihrem hohen Ross runterfallen, um zu merken, wie bescheuert sie sich benahm.
„Manchmal kommt mir das alles wie ein Traum vor“, sagte Hannah. Gleich nach dem Mittagessen hatten sie und Hannes sich auf der Ranch getroffen. Sie hatten Acapulco und Camilla gesattelt und waren losgeritten. Über den Pfad durch die Wiesen und dann durch den Wald. Nach einem schnellen Galopp waren sie auf der kleinen Lichtung angekommen, die über und über von leuchtend gelben Löwenzahnblüten bedeckt war. Hier stiegen sie ab und ließen die Pferde grasen.
„Dass du die Vorausscheidung geschafft hast?“, fragte Hannes.
„Alles. Dass ausgerechnet ich ausgewählt wurde. Und dann diese ganze Geschichte mit Myriam. Wenn mir das einer vor ein paar Wochen erzählt hätte, hätte ich ihn für vollkommen verrückt erklärt.“
„Förster weiß schon, was er tut“, meinte Hannes. „Er hat erkannt, welches Talent in dir steckt. Und er hat es verstanden, es aus dir rauszuholen.“
„Er ist großartig.“
Hannes zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe nur, dass du dich nicht zu sehr veränderst.“
„Inwiefern?“
„Na, dass du jetzt genauso verkrampft und verbissen wirst wie Myriam. Dann könnte ich nämlich nicht mehr mit dir befreundet sein.“
„Das wäre aber furchtbar schade“, meinte Hannah mit gespielter Bestürzung, aber dann wurde sie ernst. „Mach dir keine Sorgen, Hannes. Ich schwöre dir, dass ich mich nicht in ein ehrgeiziges Monster verwandeln werde.“ Sie runzelte die Stirn. „Myriam war ja nicht immer so. Jedenfalls war sie früher nicht so extrem. Ich frage mich wirklich, was in letzter Zeit in sie gefahren ist.“
„Kingsize ist in sie gefahren“, sagte Hannes. „Die sind total durchgedreht da. Petersen war schon immer absolut erfolgsbesessen. Seine Reiter waren entweder spitze oder sind an seinem Leistungsdruck zerbrochen, ein normales Mittelmaß gab’s bei ihm nicht. Und bei deiner Freundin sieht es leider so aus, als würde sie daran kaputtgehen.“
„Täusch dich mal bloß nicht. Myriam ist hart im Nehmen. So schnell zerbricht die nicht.“
„Die Petersens haben schon ganz andere Kaliber geschafft.“
„Das kann ich mir aber überhaupt nicht vorstellen“, meinte Hannah. „Herrn Petersen hab ich ja nur kurz kennengelernt. Aber seine Frau wirkt total nett.“
„Heike“, sagte Hannes. „Ich kenn sie auch nicht näher. Aber man munkelt, dass sie die Schlimmere von den beiden ist. Außen weich, innen stahlhart.“
„Ich weiß nicht. Vielleicht sind die Leute, die das behaupten, ja auch einfach neidisch auf ihren Erfolg“, gab Hannah zu bedenken.
„Kann sein.“ Hannes zuckte mit den Schulten. Dann wies er mit dem Kopf zu den Pferden. „Ich glaube, wir sollten mal langsam weiter. Die beiden haben inzwischen so viel Löwenzahn intus, die verfärben sich gleich gelb.“
Vor der Sunshine Ranch standen die Fischers, das Rentnerpaar von nebenan. Hannah seufzte. Die beiden waren eine echte Zumutung. Mit ihrer Pedanterie und Spießigkeit gingen sie Sue und den Pferdemädchen fürchterlich auf die Nerven.
„Sag Frau Mirador, dass wir uns das nicht gefallen lassen“, keuchte Frau Fischer aufgeregt, als sie Hannah sah.
„Was ist denn los?“, fragte Hannah, während sie aus Acapulcos Sattel sprang.
Jetzt erst fiel ihr der große Transporter auf, der in der Einfahrt zur Ranch parkte. CENTER TV stand in Großbuchstaben auf der Heckklappe.
„Diese Reporter haben unsere Radieschen gefilmt“, erklärte Herr Fischer. „Und wir haben ein Recht zu erfahren, was mit den Aufnahmen passiert.“
„Man sieht bestimmt auch das Haus auf dem Film“, fügte seine Frau hinzu. „Und wenn das Ganze im Fernsehen kommt, zieht das Einbrecher und Ganoven an. Man kennt diese Geschichten ja.“
„Warum sagen Sie uns das?“, fragte Hannah. „Sprechen Sie doch selbst mit den Reportern.“
Herr Fischer warf sich in die Brust. „Das tun wir auch!“, verkündete er finster.
Mit energischen Schritten stampfte er an dem Wagen vorbei auf den Hof. Seine Frau plusterte sich ebenfalls auf und folgte ihm.
„Weißt du, was die Reporter hier wollen?“, fragte Hannes, als sie ihre Pferde an dem Fernsehwagen vorbeiführten.
„Vielleicht haben sie die Radieschen der Fischers mit Ufos verwechselt“, mutmaßte Hannah. „Oder Washington hat einen Schönheitswettbewerb für Schafe gewonnen.“
„Da seid ihr ja endlich“, rief Juliana und rannte über den Hof auf sie zu. „Wir haben schon versucht, euch anzurufen, aber ihr geht ja nicht ans Handy.“
„Was gibt’s denn so Dringendes?“, fragte Hannah.
„Die sind wegen dir hier“, flüsterte Juliana mit einem aufgeregten Blick auf die beiden Männer, die gerade von den Fischers belagert wurden.
„Unsere Radieschen sind Privatsache“, verkündete Frau Fischer soeben mit schriller Stimme.
„Die Radieschen lassen wir weg“, versuchte einer der Reporter sie zu beschwichtigen. „Genau wie Ihr Haus. Machen Sie sich keine Sorgen. Das sind Nebensachen, die brauchen wir gar nicht.“
„Na, hören Sie mal …“ Es gefiel den Fischers auch wieder nicht, dass man ihr Haus als Nebensache bezeichnete. Und dass sie nun gar nicht ins Fernsehen kommen sollten. Aber inzwischen hatten die Kameraleute Hannah entdeckt und ließen das Rentnerpaar einfach stehen.
„Center TV“, rief ein Reporter, wobei er über Washington stolperte, der wieder einmal wie aus dem Nichts aufgetaucht war. „Bist du bereit für ein kurzes Gespräch?“, keuchte der Mann, nachdem er sich aufgerappelt hatte. „Wir bräuchten ein paar O-Töne für unsere News vom Sport.“
Hannah blickte Hannes an. Er sah genauso ratlos aus, wie sie sich fühlte.
„Es hat sich ziemlich schnell rumgesprochen, wie gut du gestern geritten bist“, bemerkte Sue, die inzwischen ebenfalls dazugekommen war. „Du giltst offenbar als der Newcomer des Jahres.“
„Was? Aber ich bin doch noch kein einziges Turnier geritten.“
„Die Juroren geben nach der Qualifikation immer eine Empfehlungsliste ab“, erklärte Sue. „Die Top Five der Vorausscheidung, sozusagen. Und in den letzten Jahren waren die Teilnehmer, die es auf diese Liste geschafft hatten, eben meistens auch die Gewinner des Turniers.“
„Und … ich bin auf dieser Liste?“, fragte Hannah.
Sue nickte strahlend. „Du bist nicht nur auf der Liste. Sondern auch noch auf Platz 1.“
Das Interview wurde fürchterlich. Hannah stammelte und stotterte und verhaspelte sich in einer Tour.
„Das macht überhaupt nichts“, sagte der Reporter, nachdem er seine Kamera wieder ausgeschaltet hatte. „Das schneiden wir zusammen, dann klingt es perfekt. Wir brauchen nur drei Minuten. Und nun noch ein paar Bilder von dir auf dem Pferd, wenn’s geht.“
Hannah führte Acapulco zum Reitplatz, wo sie den beiden Journalisten einen Slalom um vier Hütchen vorführte. Erst vorwärts, dann rückwärts.
„Und jetzt noch einen Sprung über ein Hindernis?“, schlug der Mann mit der Kamera vor.
„Wir machen hier Westernreiten, da wird nicht gesprungen“, protestierte Sue empört.
„Nein?“ Die beiden Männer wechselten einen enttäuschten Blick. „Na, dann vielleicht … ein kleiner Galopp? Oder macht man das beim Westernreiten auch nicht?“
Also galoppierte Hannah um den Roundpen, bis der Kameramann die Hand hob. „Super, danke!“, rief er. „Ich denke, wir haben alles im Kasten.“
„Hast du die angerufen?“, fragte Hannah Sue, als die Reporter wieder abgefahren waren.
„Quatsch. Du weißt doch, dass ich es nicht so mit der Presse habe.“ Seit sie ihre Karriere als Filmschauspielerin aufgegeben hatte, mied Sue die Öffentlichkeit, so gut es ging. „Aber in diesem Fall bin ich natürlich sehr glücklich über die kostenlose Werbung. Ich hab nämlich schon zu viele Reiter an diese bescheuerte Kingsize Ranch verloren.“
„Hallo, neuer Star der Westernszene!“, rief Tori, die gerade Arm in Arm mit Jonas auf den Hof kam. „Hast du die Reporter gefragt, wann der Beitrag gesendet wird?“
„Ich glaube, heute Abend schon“, sagte Hannah. Du liebe Zeit, was würden ihre Eltern dazu sagen, wenn sie erfuhren, dass sie im Fernsehen war? „Ich geh besser mal nach Hause“, erklärte sie. „Ich hab noch keine Hausaufgaben gemacht. Und wenn meine Schulnoten schlechter werden, ist es aus und vorbei mit der Reiterei, da ist mein Vater steinhart.“
„Na, dann nichts wie weg!“ Sue wedelte mit den Händen, als verscheuchte sie ein Huhn. „Wir brauchen dich nämlich noch, falls dir das entgangen sein sollte.“
„Meine kleine, große Hannah“, sagte ihre Mutter stolz, als Hannah von links nach rechts über den Bildschirm galoppierte. Aus dem Off hörte man gleichzeitig Hannahs aufgeregte Stimme.
„Ich trete für die Sunshine Ranch an und habe mir fest vorgenommen, mein Bestes zu geben.“
Dann sprach der Kommentator. „Für einen absoluten Newcomer wie die dreizehnjährige Hannah Hoffmann ist das renommierte Aachener Westernturnier eine große Herausforderung. Das nötige Können hat die junge Reiterin ganz bestimmt, aber ob ihre Nerven stark genug sind? Wir drücken ihr auf jeden Fall alle verfügbaren Daumen.“
„Wow“, meinte Max spöttisch. „Der ist ja total verknallt in dich.“
„Ich will auch Reiten lernen“, rief Mara. „Mama, darf ich Reitstunden nehmen?“
„Das besprechen wir bestimmt nicht jetzt“, meinte Frau Hoffmann. „Hannah, ich bin so stolz auf dich!“
Hannah kaute an ihrem Zeigefingernagel.
„Ach übrigens. Vorher hat hier so ein Zeitungsschnösel angerufen“, fiel Max ein. „Der will was über dich wissen oder so. Du sollst dich morgen nach der Schule bei denen melden.“
„Hast du die Nummer notiert?“, fragte Herr Hoffmann aufgeregt.
„Klar. Ich bin doch nicht blöd.“
Hannah nickte. Ihr Mund war auf einmal ganz trocken. Sie war nervös, noch viel nervöser als vor ihrem Auftritt bei der Vorausscheidung. Ob ihre Nerven stark genug waren, hatte der Reporter gerade gefragt. Hannah hatte plötzlich mächtige Zweifel daran.
„Was ist denn, wenn ich komplett versage?“, flüsterte sie. „Wenn ich bei dem Turnier auf einem der hinteren Plätze lande?“
Aber Max hatte inzwischen den Sender gewechselt. Ein wilder Schusswechsel peitschte durch das Wohnzimmer und zwischen den Schüssen jammerte Mara, dass sie gleich mit dem Reitunterricht beginnen wollte. Über dem ganzen Lärm hörte keiner Hannahs Frage.
Sie wiederholte sie auch nicht, als es endlich wieder leise wurde. Sie wusste ja ohnehin, was ihre Eltern ihr geantwortet hätten. Und wenn du auch die Allerletzte wirst, dann lieben wir dich ganz genauso. Sie freuten sich, wenn Hannah erfolgreich war. Aber im Grunde war ihnen der Ausgang des Turniers egal. Genau wie Hannes.
Aber Hannah war es nicht egal.
Wenn sie das Turnier nicht gewann, dann würde alles wieder so werden, wie es früher gewesen war. Dann wäre sie wieder die langweilige, pausbäckige, harmlose Hannah, die keiner ernst nahm. Kein Fernsehsender würde sie filmen wollen, kein Reporter würde sie anrufen. Keine ihrer Freundinnen würde sie bewundern, und auch Sue und Stefan wären nicht mehr stolz auf sie.
Ich muss das Turnier gewinnen, dachte Hannah. Unbedingt.