Der Liebesbrief

Obwohl sie kaum geschlafen hatte, fühlte sich Hannah beim Frühstück so frisch und ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Morgen wird alles gut, hatte Hannes ihr versprochen. „Und morgen ist heute“, murmelte sie, bevor sie an ihrem Kakao nippte.

„Wie bitte?“, fragte ihr Vater und senkte seine Zeitung ein Stück.

„Nichts“, entgegnete Hannah.

„Bist du schon aufgeregt wegen Sonntag?“, fragte Herr Hoffmann.

„Es geht“, meinte Hannah. Und es stimmte, es ging wirklich. Die schreckliche Nervosität, die sie in den letzten Tagen fast rund um die Uhr begleitet hatte, schien sich gelegt zu haben. Sie fühlte sich sehr viel gelassener.

„Hast du was genommen?“, fragte Max. „Valium oder so?“

Hannah stand auf. „Ich muss los.“ Nein, auch Max konnte sie nicht aus der Ruhe bringen. Sein Spott lief einfach an ihr ab wie Öl.

Das Gefühl trug sie durch die ersten beiden Schulstunden. Mathe und Englisch. In beiden Fächern stand sie auf einer schlechten Vier. Wenn dieser bescheuerte Wettkampf vorbei ist, dann häng ich mich in der Schule wieder richtig ins Zeug, beschloss Hannah. Nie wieder ein Turnier, dieser Gedanke machte sie wirklich glücklich. Und die Erinnerung an Hannes’ ruhige, zuversichtliche Stimme.

Er glaubt an mich, dachte Hannah, als sie nach der großen Pause den Biosaal betrat.

Bio war das einzige Fach, in dem Myriam und sie noch nebeneinandersaßen. In allen anderen Stunden hatte Myriam sich in die erste Reihe gesetzt. Aber ihre Biolehrerin Frau Krauß konnte sich schlecht Gesichter merken und duldete es deshalb nicht, wenn Schüler während des Halbjahres ihre Plätze wechselten.

„Morgen.“ Myriam ließ sich neben Hannah auf ihren Stuhl plumpsen.

„Morgen“, gab Hannah zurück.

Morgen. Tschüss. Das waren so ziemlich die einzigen Worte, die sie noch miteinander wechselten. Sobald Hannah eine Unterhaltung anfing, ignorierte Myriam sie einfach. Inzwischen versuchte Hannah es allerdings auch gar nicht mehr.

Myriam trainierte bestimmt genauso viel wie Hannah, wahrscheinlich sogar mehr. Aber ihre Noten wurden trotzdem nicht schlechter. In Französisch hatte sie neulich eine Eins geschrieben, das hatte Hannah zufällig mitbekommen. Und in dem Biotest, den Hannah vollkommen verhauen hatte, hatte Myriam natürlich null Fehler gehabt.

Sie lernte so unglaublich mühelos. Was sie einmal im Unterricht gehört hatte, behielt sie, ohne dass sie es zu Hause sorgfältig wiederholen musste wie Hannah. Hannah hatte Myriam früher immer um diese Fähigkeit beneidet, aber nun hasste sie Myriam richtiggehend dafür, dass ihr alles so leichtfiel. Ich muss sie unbedingt besiegen, dachte Hannah. Ich ertrage es einfach nicht, wenn sie auch noch bei dem Turnier besser ist als ich.

Und dann erinnerte Hannah sich wieder daran, wie schlecht Myriams Auftritt bei der Vorausscheidung gewesen war, und lächelte triumphierend.

„Hannah?“ Frau Krauß stand plötzlich direkt vor ihr. „Du siehst so glücklich aus. Bestimmt möchtest du uns deine Hausaufgaben vorlesen.“

Aber das Bioheft lag zu Hause auf Hannahs Schreibtisch. Mist! Dabei hatte sie die Aufgaben gestern Abend sogar noch gemacht.

Myriam zog die Mundwinkel ein winziges Stück nach oben, während Frau Krauß ihr Notizbuch zückte und ein dickes Minus neben Hannahs Namen malte.

Warte nur ab!, dachte Hannah finster. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.

Sie entdeckte den Brief erst, als die Stunde fast zu Ende war. Er steckte in Myriams Mäppchen, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag. Eine Ecke des Umschlags lugte hervor. Und immer wenn Myriam einen Stift herauszog oder zurückschob, konnte man die unordentliche Jungenhandschrift auf dem Kuvert sehen. „Für Myriam“, las Hannah. Und links oben, da wo sich bei richtigen Briefen der Absender befand, stand nur ein einzelner Buchstabe. „H.“

H. H wie Hannes.

So ein Quatsch, dachte Hannah. Es gab Hunderte von Jungennamen, die mit einem H begannen. Heiner, Hilmar, Harald, Hugo. Nur dass Hannah niemanden kannte, der so hieß. Und Myriam wahrscheinlich auch nicht.

Vielleicht hatte ja auch ein Mädchen den Brief geschrieben. Helen. In letzter Zeit verstand sich Myriam doch so gut mit ihr.

Aber warum sollte Helen Myriam einen Brief schreiben, wenn sie ihr den Inhalt genauso gut erzählen konnte? Myriam und sie saßen doch sogar meistens nebeneinander.

Es war unerträglich. Hannah musste unbedingt wissen, wer diesen Brief geschrieben hatte. Sie musste ihn haben.

Doch während sie noch darüber nachdachte, wie sie den Umschlag an sich bringen konnte, schloss Myriam das Mäppchen und steckte es in ihren Rucksack. Hannah hatte ihre Chance verpasst. In den nächsten Stunden würden sie nicht mehr nebeneinandersitzen.

Zu dumm, dachte Hannah.

„Ich muss mal aufs Klo“, sagte Myriam. „Kannst du meine Tasche mit ins Klassenzimmer nehmen?“

Wow! Das waren mindestens zehn Worte gewesen, so viel hatten sie in den ganzen letzten Wochen nicht miteinander geredet. Und es war die perfekte Gelegenheit für Hannah, den Brief an sich zu bringen.

„Klar mach ich das“, sagte Hannah.

Myriam benutzte die Toilette im ersten Stock, gleich neben dem Biosaal, also ging Hannah nach unten ins Erdgeschoss.

Sie schloss sich in eine der Kabinen ein, zog das Mäppchen aus Myriams Rucksack und den Brief aus dem Kuvert und las:

„Liebe Myriam,
ich muss auch ständig an dich denken. Mach dir keine Sorgen wegen Sonntag! Wenn eine Reiterin den ersten Platz im Trail verdient hat, dann bist das du. Hannah hab ich öfter beim Training zugesehen, sie baut in letzter Zeit echt ab. Mit manchen Übungen hat sie große Schwierigkeiten und ihre Gesamthaltung ist so na ja. Aber wir wussten ja beide von Anfang an, dass sie keine echte Gefahr für dich ist. Du wirst es als Westernreiterin noch weit bringen, da bin ich mir ganz sicher.
Sehen wir uns heute Nachmittag wieder bei Alberto? Ich freu mich schon auf dich.
☺ Hannes.“

Das Blut rauschte in Hannahs Ohren, lauter als jede Toilettenspülung.

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie Hannes’ Brief einfach zusammenknüllen und ins Klo werfen sollte. Abziehen und weg damit.

Aber dann faltete sie das Blatt wieder zusammen, steckte es in den Umschlag und schob ihn zurück in Myriams Mäppchen. Myriam sollte nicht merken, dass Hannah den Brief gelesen hatte. Diesen Triumph würde sie ihr nicht gönnen.

Morgen wird alles gut, hatte Hannes gestern noch zu Hannah gesagt. Du musst an dich glauben, dann gewinnst du auch. Und nun das. Ein Liebesbrief an Myriam. Wie ein Dolch, den er Hannah von hinten in den Rücken rammte.

Warum hatte Hannes sie gestern angesimst? Warum bloß hatte er so getan, als ob er ihr helfen wollte?

Er will mich reinlegen, dachte Hannah bitter. Er wollte heute mit mir in den Roundpen, um mir falsche Tipps zu geben und mich vollkommen zu verunsichern. Damit sein Schatz Myriam gewinnt und ich verliere.

„Du wirst es als Westernreiterin noch weit bringen“, hatte er Myriam geschrieben. Und zu Hannah hatte er gesagt, dass er es grandios fände, wenn sie die Turnierreiterei an den Nagel hängen würde.

Das war so mies, so gemein, so scheußlich.

Hannah wartete darauf, dass sich die Trauer und die Verletztheit in Wut verwandelten, die sie stark machten. Sie musste Myriam zeigen, was in ihr steckte, und Hannes erst recht. Das war die einzig vernünftige Reaktion auf diesen Verrat.

Aber sie wurde nicht wütend.

Sie fühlte sich einfach nur elend.

Nach Schulschluss erwartete Hannes sie schon bei den Fahrradständern.

„Hi!“, begrüßte er Hannah freudig. „Und? Konntest du gestern noch einschlafen oder bist du die ganze Nacht wach geblieben?“

So ein Heuchler!

„Und du?“, gab sie genauso freundlich zurück.

„Ich hab prima geschlafen“, erklärte er.

„Und? Von wem hast du geträumt?“ Ihre Stimme klang total süßlich. Auch Hannes fiel jetzt auf, wie falsch ihr Ton war. Sein Lächeln flackerte wie eine Lampe mit Wackelkontakt.

„Von mir?“ Hannah strahlte ihn verliebt an. „Oder von Myriam?“

„W… w… was?“ Er riss verwirrt die Augen auf. „Was soll das denn jetzt?“

„Ich weiß, was du abziehst“, sagte Hannah kalt. „Ich verstehe zwar nicht genau, warum du das machst. Ich hab dir schließlich nichts getan. Aber vermutlich steckt Myriam dahinter. Ist ja auch egal. Auf jeden Fall musst du dir keine Mühe mehr geben. Ich lass mich von dir nicht verarschen!“

Sie riss ihr Fahrrad aus dem Ständer, schwang sich auf den Sattel und fuhr vom Schulhof, bevor er irgendetwas entgegnen konnte. Eigentlich war sie fest entschlossen, sich nicht mehr zu ihm umzudrehen. Aber bevor sie am Tor auf die Straße einbog, warf sie doch noch einen Blick über die Schulter. Und sah Myriam, die gerade auf Hannes zuging.

Das Lächeln in ihrem Gesicht tat so weh, dass Hannah die Tränen in die Augen schossen. Aber das konnte Hannes zum Glück nicht mehr sehen.

Die Reitstunde am Donnerstag war schlimm gewesen. Aber verglichen mit dem Training von heute war sie geradezu großartig verlaufen.

Nichts klappte. Beim Galopp nahm Acapulco die Stangen zwischen die Beine. Er weigerte sich, über die Brücke zu gehen. Die ersten beiden Pylone beim Slalom schaffte er noch, den dritten riss er um und dann brach er nach links aus.

Schluss, aus, Ende! Acapulco blieb einfach stehen und schnaubte frustriert. Er wollte sich nicht mehr quälen lassen.

Und Uwe ging es ähnlich.

„Hannah, um Himmels willen“, rief er und warf beide Hände in die Höhe. „Was ist denn bloß mit dir passiert? Ich erkenn dich ja nicht wieder!“

Sie erkannte sich selbst auch nicht wieder. Warum fing sie denn jetzt auch noch an zu heulen? Sie benahm sich ja wie eine Grundschülerin.

„Es geht nicht“, schluchzte sie.

„Das sehe ich“, sagte Uwe trocken. „Aber ich verstehe einfach nicht, wo dein Problem ist. Liegt es an mir, mach ich etwas falsch?“

„Nein.“ Sie fummelte ein Taschentuch aus der Tasche und schnäuzte sich. Aber es nützte nichts, es kamen ja ständig neue Tränen nach. „Es ist alles meine Schuld. Ich hätte von Anfang an wissen müssen, dass ich das nicht packe.“

„So ein Blödsinn. Bisher bist du doch super geritten. Aber wenn am Sonntag deine Nerven genauso blank liegen wie heute, dann hast du keine Chance.“

Da. Nun hatte er ausgesprochen, was Hannah die ganze Zeit schon dachte. Ihre Nerven waren einfach nicht stark genug. Und Uwe hatte von Anfang an gesagt, dass der Turniersieg vor allem eine Nervensache war.

„Willst du es noch einmal versuchen?“, fragte Uwe.

Sie schüttelte den Kopf. Sie würde es nicht schaffen. Hannah schnäuzte sich. Als sie das durchnässte Taschentuch zurück in die Tasche stopfte, sah sie, dass Uwe verstohlen auf seine Uhr blickte.

Ihre Zeit war abgelaufen.