Hannes rastet aus
Als sie den Entschluss einmal gefasst hatte, war es eine große Erleichterung. Sie würde beim Turnier in Aachen nicht scheitern. Weil sie gar nicht erst antreten würde.
Ihre Eltern machten ihr bestimmt keine Vorwürfe. Im Gegenteil, wahrscheinlich wären sie erleichtert, dass Hannah endlich wieder zur Vernunft kam. Sue würde Hannah ebenfalls verstehen. Auch wenn es für sie natürlich bitter war. Sie hatte ja am meisten in Hannah investiert.
Und die anderen Pferdemädchen wären am Anfang schockiert, dann sauer und später würden sie Hannahs Gründe akzeptieren. Oder eben nicht.
Egal wie, Hannah hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie würde nicht antreten.
Uwes Gesicht war ganz starr, als sie ihm ihren Entschluss nach der Reitstunde mitteilte.
„Ich weiß, dass das eine große Enttäuschung für dich ist, weil du dir so viel Mühe mit mir gegeben hast“, sagte Hannah. „Aber es hilft alles nichts.“
Seine Unterkiefer mahlten lautlos, als kaute er auf ihrer Antwort herum. Dann nickte er, ohne die Miene zu verziehen.
„Das ist wirklich eine Enttäuschung“, sagte er leise. „Aber du musst wissen, was du willst. Ich kann das Turnier nicht für dich reiten. Und wenn der Kampfgeist, der Wille zum Sieg, nicht stark genug ist, dann hilft alles nichts.“
Der Wille zum Sieg. Der fehlte ihr, da hatte Uwe Recht.
Hannah versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen, als sie Acapulco zurück zum Stall führte. So wie Uwe es ihr am Anfang ihrer Reitstunden beigebracht hatte. Atme deine Unsicherheit einfach weg, hatte er gesagt. Aber die Erinnerung daran, wie zuversichtlich sie damals gewesen war, brachte sie wieder zum Heulen. Verdammt.
Acapulco spürte ihre Trauer. Sein Kopf hing so tief nach unten, als ob er ebenfalls weinte.
Am Eingang zum Stall lehnte Hannes.
Weil ihre Augen voller Tränen standen, erkannte Hannah ihn erst, als sie ihn fast erreicht hatte. Und nun geschah endlich das, worauf sie heute Mittag schon gewartet hatte: Ihre Verzweiflung schlug in wilde Wut um.
Das war ja wohl das Allerletzte! Wie konnte Hannes es wagen, hier aufzukreuzen! Wahrscheinlich fand er es lustig, ihr verheultes, verschwollenes Gesicht zu sehen. Dabei war er doch an allem schuld. Wenn Hannes ihr nichts vorgemacht hätte, wenn er sie nicht mit Myriam betrogen hätte, dann hätte sie ihren Mut nicht verloren. Er war der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.
Jetzt stieß er sich von der Stallwand ab und kam auch noch auf sie zu. Hannah ließ Acapulcos Zügel los. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Na warte!
Aber Hannes beachtete sie gar nicht. Er ging mit großen, festen Schritten an ihr vorbei und lief quer über den Hof auf Uwe zu, der gerade seinen Wagen aufschloss.
Überrascht blickte Uwe auf und lächelte ihn an. Aber dann machte er ein verblüfftes Gesicht, weil Hannes nämlich genau das tat, was Hannah mit ihm hatte machen wollen. Er warf sich mit ausgestreckten Armen und voller Wucht gegen Uwes Brust.
Uwe taumelte. Hannes war viel kleiner als er und um einiges schmächtiger. Aber der Angriff kam für Uwe vollkommen unerwartet. Er fiel fast um, erst im letzten Moment fing er sich wieder.
„He!“, rief er. „Was soll das denn?“
Wamm! Noch ein Stoß. Diesmal war Uwe vorbereitet, dennoch stolperte er ein Stück nach hinten.
„Du linke Ratte!“, schrie Hannes. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist!“
Uwe wischte sich den Staub von den Ärmeln. „Du hast sie wohl nicht mehr alle!“
„Du willst Hannah fertigmachen“, rief Hannes.
„Bitte?“
„Sag mal, spinnst du, Hannes?“, schrie Hannah und rannte über den Hof zu den beiden. „Du wolltest mich fertigmachen und du hast es auch geschafft. Und jetzt willst du die Schuld dafür Uwe in die Schuhe schieben. Wahrscheinlich hast du Angst, dass dein Vater ausrastet, wenn er erfährt, was du hier abgezogen hast.“
„Ich bin auf deiner Seite“, sagte Hannes, ohne den Blick von Uwe zu wenden. „Aber die wollen uns auseinanderbringen.“
„Ach.“ Uwe hatte sich wieder gefangen. „Kannst du das mal erklären? Wer sind denn die?“
„Ich hab dich mit Heike Petersen gesehen“, erwiderte Hannes.
Uwe zuckte die Achseln. „Na und? Ich kenn die Petersens aus meiner Zeit in Kanada. Das wussten dein Vater und Sue aber schon, bevor sie mich als Trainer für Sunshine engagiert haben. Sie hatten kein Problem damit. Warum auch?“
Diese Antwort brachte Hannes aus dem Konzept. Ratlos sah er Hannah an, als erwartete er ausgerechnet von ihr Hilfe.
„Ich hab überhaupt keine Ahnung, was das hier soll“, sagte sie kühl. „Ich weiß nur, dass ich keinen Bock darauf habe. Hau endlich ab und lass mich in Ruhe.“
„Hannah …“, begann Hannes, aber nun unterbrach ihn Uwe. „Worauf wartest du noch? Deutlicher kann man es nicht mehr sagen. Es reicht, Hannes. Ich würde vorschlagen, du verschwindest und wir vergessen den ganzen Vorfall.“
Hannes beachtete ihn gar nicht. Er starrte die ganze Zeit Hannah an. Sie hielt seinem Blick stand, bis er als Erster die Augen senkte.
„Du machst einen Riesenfehler“, murmelte er. Dann drehte er sich wortlos um und marschierte zu seinem Rad. Uwe sah ihm kopfschüttelnd nach, bis er vom Hof gefahren war.
„Hannah, du hast meine Handynummer“, meinte er dann. „Wenn du deine Meinung änderst, gib mir sofort Bescheid. Noch ist es nicht zu spät. Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass du es wenigstens versuchen solltest. Aber wenn ich bis morgen Mittag nichts von dir höre, dann ziehe ich deine Anmeldung zurück.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nee, meine Entscheidung steht. Ich steig aus.“
Zu Hannahs Erleichterung waren ihre Eltern nicht zu Hause. Wir sind mit Max in der Stadt und kommen um ca. 19 Uhr zurück, hatte ihre Mutter auf einen Zettel geschrieben, der auf dem Küchentisch lag.
Hannah nahm sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank und begann ihn vor dem Fernseher zu essen. Aber nach ein paar Löffeln stellte sie den Becher wieder weg. Kein Appetit.
Sie war einfach viel zu nervös. Dabei müsste sie sich doch erleichtert und befreit fühlen, nachdem sie sich endlich entschlossen hatte, das Turnier abzusagen.
Du machst einen Riesenfehler, hatte Hannes gesagt. Aber was er damit meinte, hatte er ihr nicht erklärt.
Wie er sie vorhin angesehen hatte, als sie ihn weggeschickt hatte! Wenn sie nicht genau gewusst hätte, dass er sie mit Myriam hinterging, wäre sie sich sicher gewesen, dass er sie selbst ziemlich gut fand.
Unsinn. Das war Wunschdenken, das bildete sie sich nur ein. Sie hatte seinen Liebesbrief an Myriam doch mit eigenen Augen gelesen.
Der Liebesbrief. Eigentlich seltsam, dass Hannes Myriam einen Brief geschrieben hatte. Und keine SMS oder eine Mail. Und dann hatte Myriam den Umschlag auch noch so in ihr Mäppchen gesteckt, dass Hannah ihn hatte sehen müssen.
Kannst du meine Tasche mit ins Klassenzimmer nehmen? In den letzten Wochen hatte Myriam kaum ein Wort mit Hannah gewechselt, sie hätte sie niemals um einen Gefallen gebeten und wäre er auch noch so klein gewesen.
Myriam wollte, dass ich den Brief finde, erkannte Hannah plötzlich. Und sie wollte auch, dass ich ihn lese. Deshalb hat sie mir ihren Rucksack mitgegeben.
Es war alles ein abgekartetes Spiel.
Aber warum? Warum tat Myriam so etwas?
Die wollen uns auseinanderbringen, hatte Hannes vorhin gesagt.
Aber offensichtlich hatte er selbst nicht richtig gewusst, wen er mit die meinte. Und ob es wirklich nur um dieses Turnier am Sonntag ging oder um mehr.
Kingsize, dachte Hannah. Alle diese Fragen hingen mit der Kingsize Ranch zusammen. Und die Antworten dazu würde sie auch nur auf der Ranch finden.
Doch Kingsize war für Hannah tabu, sie hatte dort Hausverbot. Andererseits … was konnte schon passieren, selbst wenn man sie erwischte? Nachdem sie sich ohnehin dazu entschlossen hatte, das Turnier nicht mitzureiten?
Hannah griff zur Fernbedienung, schaltete den Fernseher aus und stand auf. Sie würde ein für alle Mal Klarheit in die ganze Angelegenheit bringen.
Hannah wartete so lange vor der Ranch, bis sich eine Gruppe Mädchen auf Fahrrädern näherte. Fünftklässlerinnen, die meisten von ihnen kannte Hannah vom Sehen. Schnatternd und gackernd radelten sie auf den Hof und merkten nicht einmal, dass Hannah sich ihnen angeschlossen hatte.
Während die Mädchen sich über das Reiten unterhielten, sah Hannah sich verstohlen um. Nirgendwo eine Spur von Petersen oder seiner Frau. Oder von Myriam. Wahrscheinlich trainierte sie in einem der Roundpens, die hinter der Reithalle lagen.
Hannah löste sich aus dem Pulk der Mädchen und machte sich mit klopfendem Herzen auf den Weg. Die vier Reitplätze lagen hintereinander, das wusste sie noch von ihrem Besuch am Flatrate-Day. Auf der ersten Fläche trainierte eine junge Frau Reining. Mit spitzen Schreien trieb sie ihr Quarterhorse zu einem Spin auf der Hinterhand. Das Pferd sah nicht aus, als ob ihm die Sache großes Vergnügen bereitete. Armes Tier.
In den Roundpens zwei und drei zogen zwei kleine Mädchen auf Ponys ihre Runden. Die Reitlehrer, die die Pferde an der Longe laufen ließen, waren Hannah beide unbekannt.
Im letzten Reitplatz stand Petersen. Hannahs Herz machte fast einen Salto, als sie ihn erkannte. Sie wich einen Schritt zurück und verbarg sich hinter einem Baumstamm am Rand des Weges. Aber das Mädchen, das mit Petersen trainierte, war leider nicht Myriam.
Was für eine bescheuerte Idee hierherzukommen, dachte Hannah plötzlich. Was hatte sie eigentlich erwartet? Selbst wenn sie Myriam irgendwo entdeckte, würde sie das nicht weiterbringen. Ob sie wieder nach Hause sollte?
Aber gerade kam eine der Fünftklässlerinnen von vorhin auf sie zu. Sie führte eine kleine Haflingerstute am Halfter neben sich her.
„Kennst du dich hier aus?“, fragte Hannah sie. „Ich wollte mich in der Reithalle mit Heike Petersen treffen. Ich soll den Nebeneingang nehmen, hat sie gesagt.“
Hoffentlich gab es in der Halle überhaupt einen Nebeneingang. Zu ihrer Erleichterung nickte die Kleine jedoch sofort.
„Der Nebeneingang ist da vorn.“ Sie deutete auf die Seite der Halle, die an den Stall anschloss. „Rechts geht’s in den Stall, der linke Gang führt in die Halle.“