Aus und vorbei
„It’s over!“
Hannah duckte sich gerade noch rechtzeitig. Aus dem Wohnhaus der Sunshine Ranch flog ein Schuh. Er sauste haarscharf an ihrer Schulter vorbei und fiel einen halben Meter neben ihr zu Boden.
„Get your stuff and go!“
Der Hof war übersät mit Hosen, Socken, Hemden, T-Shirts und Unterhosen. Jetzt rannte Robert Hansen aus dem Haus. Ohne Hannah zu beachten, stürzte er sich auf die verstreuten Gegenstände und begann sie aufzusammeln. Gleich darauf warf er alles wieder zu Boden.
„Hol’s der Teufel!“, hörte Hannah ihn schimpfen. Er kickte einen Schuh ein paar Meter weiter, sodass die Perlhühner, die nach Körnern pickten, mit entsetztem Gackern auseinanderstoben. Dann stürmte er zu seinem Auto und brauste vom Hof.
„Is he gone?“ Sue Mirador streckte den Kopf aus der Tür. Die rotblonden Locken der Ranchbesitzerin loderten um ihren Kopf wie Feuer, ihre Augen sprühten Funken. Als Hannah nickte, schleuderte sie wütend einen Rasierapparat auf den Hof. Das Plastikgehäuse zersplitterte. „That’s it“, sagte sie. „Das war’s.“
Hannah schluckte. „Was ist denn los?“, fragte sie unsicher. Wenn Sue so wütend war wie jetzt, ließ man sie besser in Ruhe, das wusste sie so gut wie die anderen Pferdemädchen. Aber sie konnte ja nicht so tun, als ob nichts gewesen wäre.
„Nothing!“, schrie Sue. „Überhaupt nichts!“ Damit rannte sie zurück ins Haus und knallte die Tür hinter sich zu. Die Perlhühner, die gerade wieder angefangen hatten zu picken, gackerten empört und suchten das Weite.
„Wer macht denn hier einen solchen Radau?“ Tori und Sina streckten den Kopf aus dem Stall.
„Boah!“, machte Tori, als sie das Durcheinander auf dem Hof sah. „Was ist denn hier los? Warst du das?“
„Quatsch.“ Hannah deutete zum Haus. „Sue ist ein bisschen … ausgerastet. Mannomann! Dass die Erwachsenen sich auch immer wie kleine Kinder aufführen müssen.“
„Aber das sind nicht Sues Klamotten.“ Zum Beweis hob Tori ein Paar blau gestreifte Boxershorts auf.
„Nee. Ich glaube, die gehören Robert.“
„Hat sie ihn rausgeworfen?“, fragte Sina.
„Sieht so aus.“ Hannah zuckte mit den Schultern. „Schrecklich, oder?“
„Na, wenn du mich fragst, war das überfällig“, meinte Tori.
Das war gemein, fand Hannah. Das Verhältnis zwischen Robert und Sue war niemals einfach gewesen, das wusste jeder, der die beiden kannte. Sie waren viel zu unterschiedlich. Die Ranchbesitzerin Sue war Amerikanerin, eine ehemalige Hollywood-Schauspielerin, groß, gut aussehend und sehr temperamentvoll. Der ruhige, kleine und eher unscheinbare Robert war der Grund gewesen, warum sie ihre Filmkarriere an den Nagel gehängt hatte und nach Deutschland gezogen war. Nach einer Weile hatte Sue aber die Scheidung eingereicht. Der Grund dafür waren Roberts ständige Eifersuchtsanfälle. Er konnte es einfach nicht ertragen, wenn Sue sich mit anderen Männern auch nur unterhielt.
Als Sue Robert vor einem halben Jahr eine zweite Chance gegeben hatte und die beiden wieder zusammengekommen waren, hatten sich Hannah und ihre Freundinnen zunächst sehr gefreut. Weil sie den lustigen, netten Robert nämlich alle mochten. Aber in letzter Zeit hatten sich die beiden nur noch gezofft. Nun hatte Sue Robert endgültig den Laufpass gegeben. Er hatte seine Bewährungszeit nicht bestanden.
„Also, ich kann Sue total gut verstehen“, sagte Sina. „Ich würde ausrasten, wenn mir Viktor ständig grundlos irgendwelche Szenen machen würde.“
„Und ich würd mir überlegen, ob ich ihm nicht mal einen echten Grund zur Eifersucht gebe“, murmelte Tori.
Hannah schwieg. Seit Sina und Tori beide einen Freund hatten, wussten sie scheinbar alles über Beziehungsfragen. Hannah fand das längst nicht so klar und einfach. Aber sie hatte ja auch keine Erfahrung auf diesem Gebiet.
Soeben war ein staubiger Mercedes auf den Hof gefahren. Stefan Müller, der neue Verwalter der Sunshine Ranch, schob seinen langen Körper aus dem Wagen. Als er den Kofferraum öffnete, sprang sein zotteliger Mischlingshund Heinrich heraus, schüttelte sich ausgiebig und machte sich dann auf die Suche nach Washington, dem Ranchhund.
„Vor allem, wenn ich einen schnuckeligen Verwalter hätte wie Stefan“, fügte Tori noch hinzu.
„Meinst du, da ist etwas zwischen den beiden?“, fragte Hannah aufgeregt.
„Schsch!“, machten die beiden anderen.
Denn Stefan kam jetzt direkt auf sie zu.
„Hallo, zusammen! Alles okay?“
„Tach!“ Tori versuchte, die Männerunterhose, die sie immer noch in den Händen hielt, möglichst diskret hinter ihrem Rücken verschwinden zu lassen.
„Was ist denn hier los?“ Stefans Blick wanderte überrascht über die im Hof verstreuten Kleidungsstücke. „Große Wäsche?“
„So was Ähnliches“, sagte Sina. „Da würd ich jetzt nicht reingehen“, fügte sie hastig hinzu, als sie sah, dass Stefan auf Sues Haus zusteuerte.
Er hielt verdutzt inne. Man konnte fast dabei zusehen, wie die Gedanken in seinem Kopf ratterten. „Okay“, nickte er dann und ging stattdessen zum Stall.
„Meinst du wirklich, Sue steht auf Stefan?“, griff Hannah den Gesprächsfaden wieder auf, als der Verwalter im Stall verschwunden war. Nachvollziehbar wäre es ja. Stefan arbeitete erst seit ein paar Wochen auf der Ranch, aber bereits jetzt konnte sich keiner mehr vorstellen, wie es jemals ohne ihn gegangen war. Er kümmerte sich um die Buchhaltung, die Bestellungen und die Einkäufe, um die Organisation der Reitstunden und um die Tierarztrechnungen. Er brachte die Pferde zur Weide und bewegte sie, wenn Sue oder die Pferdemädchen keine Zeit dafür hatten, und er versorgte auch die anderen Tiere. Denn auf der Sunshine Ranch gab es nicht nur zehn Pferde und ein kleines Fohlen, sondern auch einen Esel, die Hängebauchschweine Horst und Klothilde, die Ziege Ilka und eine Unmenge an Gänsen, Enten und Hühnern. Und natürlich Washington, den riesigen Neufundländer, der allerdings meistens schlief und mit Vorliebe den Menschen im Weg herumlag.
Tori lachte. „Keine Ahnung. Geh doch rein und frag sie.“
„Lieber nicht.“ Hannah seufzte. „Der arme Robert.“
„Ach was“, meinte Sina mitleidslos. „Er hatte seine Chance. Du hättest mal miterleben sollen, wie er neulich ausgerastet ist, nur weil Sue dem Futtermittelvertreter einen Kaffee angeboten hat. Und der Typ war um die sechzig und total fett. Ein Wunder, dass Sue das Spiel so lange mitgemacht hat.“
Hannah seufzte dennoch noch einmal. „Kommt, wir räumen ein bisschen auf“, schlug sie dann vor. „Das sieht ja schlimm aus.“
Sie hatten die Kleider gerade in einen Wäschekorb verfrachtet, als die anderen Pferdemädchen auf den Hof radelten. Ayla, Juliana und Myriam besuchten zusammen mit Hannah, Tori und Sina die Klasse 7a des Friederike-Fliedner-Gymnasiums. Vormittags büffelten sie gemeinsam Mathe, Englisch und Deutsch, nachmittags trafen sie sich auf der Sunshine Ranch. Jede von ihnen hatte ein Pflegepferd, für das sie allein verantwortlich war, das sie ausritt, fütterte und pflegte.
„Eigentlich war es ja abzusehen“, sagte Ayla, nachdem Tori ihnen erzählt hatte, was geschehen war. „Und vielleicht ist es sogar besser so.“
„Das ist nicht wahr“, widersprach Hannah empört. „Die beiden sind wie füreinander gemacht. Und Robert liebt Sue wirklich.“
„Aber seine Eifersuchtsszenen wurden immer schlimmer“, bestätigte Juliana. „Dieses Gebrüll und der ständige Streit zwischen ihnen waren ja nicht mehr auszuhalten. Also, ich bin froh, dass die Geschichte endlich vorbei ist.“
„Komm schon, Hannah.“ Ayla legte Hannah tröstend den Arm um die Schulter, als wäre sie die Verlassene und nicht Robert. „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Vielleicht lernt Robert aus der Sache und wird endlich ein bisschen cooler. Oder er findet irgendwann eine Frau, die auf solche Szenen steht.“
„Ehrlich gesagt ist mir das ziemlich egal“, meinte Myriam. „Hauptsache, das Liebesdrama ist endlich beendet. Sue war völlig durch den Wind in der letzten Zeit. Hoffentlich kriegt sie sich langsam wieder ein.“
„Das hoffe ich auch“, stimmte Juliana ihr zu. „So geht’s nämlich nicht mehr weiter. Gestern war eine Mutter mit ihrer Tochter hier, sie hatten eigentlich eine Schnupper-Reitstunde vereinbart. Sue hat sie eine geschlagene Stunde lang warten lassen, weil sie den Termin vergessen hat. Als sie dann endlich aufkreuzte, ist die Frau wütend wieder abgedampft.“
„Das ist echt blöd“, meinte Sina.
„Das ist nicht nur blöd, das ist eine Katastrophe“, prophezeite Myriam düster. „Wenn Sue nicht aufpasst, kann sie die Sunshine Ranch in ein paar Wochen dichtmachen.“
„Na, das ist ein bisschen übertrieben“, sagte Tori.
„Meinst du?“ Jetzt zog Myriam ein Zeitungsblatt aus der Tasche und faltete es auf. „Von euch liest wohl keiner die Lokalnachrichten. Mir ist heute Morgen fast der Müslilöffel aus der Hand gefallen, als ich das entdeckt habe.“ Sie hielt den Artikel hoch, sodass ihre Freundinnen ihn sehen konnten.
„Kingsize-Vergnügen“, las Sina vor. „Westernreiten für Groß und Klein.“
„Nächste Woche eröffnet an der Alten Landstraße hinter dem großen Neubaugebiet eine Super-Pferderanch“, erklärte Myriam. „Kingsize Ranch, der Name sagt ja wohl alles.“
„Ach, das ist doch ein alter Hut.“ Sina winkte ab. „Das hatten wir schon mal. Dieser Rudolf und seine McHopp-Reiterranch, wisst ihr noch? Da waren wir auch ganz durch den Wind, weil wir uns solche Sorgen um die Sunshine Ranch gemacht haben. Und dann war das Ganze nichts als heiße Luft. Nach drei Tagen wurde McHopp wieder geschlossen.“
„Das ist überhaupt nicht vergleichbar“, widersprach Myriam. „Dieser McHopp-Typ war ein Hochstapler, ein Betrüger. Wie der mit seinen Pferden umgegangen ist – und überhaupt. Aber bei dieser Kingsize Ranch sehen die Dinge ganz anders aus. Die wird superprofessionell aufgezogen.“
Hannah schluckte. Superprofessionell – das klang nicht gut. Sue liebte ihre Sunshine Ranch aus ganzem Herzen. Aber strategische Planung, Organisation und Verwaltung waren nun wirklich nicht ihre Stärken. Myriam hatte Recht: Das Durcheinander auf der Ranch ging vielen Reitschülern mächtig auf die Nerven.
„Ach was“, meinte Tori abfällig. „Ich würd nicht so viel auf den Artikel geben. Jonas sagt immer, dass die Journalisten gar nicht richtig recherchieren. Die schreiben immer genau das, was ihnen die Geschäftsleute vorgeben. Und hinterher ist alles nur halb so groß und schön und toll, wie sie es dargestellt haben.“ Weil der Vater ihres Freundes Jonas Journalist war, hielt Tori sich neuerdings für eine Expertin in allen Pressefragen.
Aber so leicht war Myriam nicht zu überzeugen. „Es ist ja nicht nur der Zeitungsartikel“, gab sie zu bedenken. „Andreas Petersen, der Besitzer der Kingsize Ranch, ist im gleichen Tennisclub wie mein Vater. Und mein Vater ist ziemlich angetan von ihm. Er findet das Unternehmenskonzept der Kingsize Ranch total faszinierend. Wenn Sue nicht aufpasst, meint er, dann macht Petersen die Sunshine Ranch im Handumdrehen platt.“
„Dein Vater“, sagte Tori gedehnt und verdrehte die Augen.
„Was soll das denn heißen?“, fragte Myriam gereizt.
„Ich will dir ja nicht zu nahetreten. Aber dein Vater hat vielleicht Ahnung von Banken und Versicherungen, doch nicht von Reiterhöfen. Die Sunshine Ranch gibt es schon seit vier Jahren. Und dieser blöde Kingsize-Hof hat noch nicht mal aufgemacht.“
Damit hatte nun wiederum Tori Recht, fand Hannah. „Das klingt vernünftig“, sagte sie. „Warten wir doch erst mal ab.“
Myriam zuckte mit den Schultern. „Na ja“, sagte sie spitz. „Ein bisschen Konkurrenz tut Sue auf jeden Fall ganz gut.“
Dann warf sie den Kopf in den Nacken und ließ die anderen einfach stehen.
„Wo willst du denn hin?“, rief Hannah ihr nach.
„Ich muss Camilla satteln!“, gab Myriam über die Schulter zurück. „Ich hab gleich Reitstunde.“
„Na, hoffentlich denkt Sue dran“, murmelte Tori.