Myriam ist sauer
Tori blickte in die Runde. „Ich treff mich nachher mit Jonas. Wie wär’s vorher noch mit einem kleinen Ausritt?“
Hannah schielte auf ihre Armbanduhr. Gleich halb vier. Eigentlich hatte sie vorgehabt, früh nach Hause zu gehen, um Französisch zu lernen. Ayla und Juliana hatten sich schon verabschiedet, weil sie büffeln wollten. Für morgen war nämlich ein Test angekündigt. Im letzten Halbjahr war Hannah von einer guten Drei auf eine schlechte Vier gerutscht und ihre Eltern hatten nicht ganz Unrecht, wenn sie ihre schlechten Noten auf die Ranch schoben. „Du verbringst einfach zu viel Zeit mit der Reiterei“, schimpfte ihr Vater immer.
Ach was, ein kurzer Ausritt konnte nicht schaden.
„Ich komm mit“, sagte Hannah.
Sina schloss sich ihnen an. Als sie zur Koppel gingen, um ihre Pferde zu holen, kam ihnen Myriam mit der Fuchsstute Camilla entgegen.
„Wir machen einen Ausritt“, erklärte Tori ihr. „Kannst gerne mitkommen, wenn du Lust hast.“
„Ich hab doch gesagt, dass ich gleich Reitunterricht habe.“
„Ich mein ja bloß“, sagte Tori. „Kann ja sein, dass die Stunde ausfällt. Sue ist gerade ziemlich durcheinander.“
„Das würde ich ihr aber nicht empfehlen“, meinte Myriam kühl und führte Camilla in Richtung Roundpen.
„Meine Fresse, wie ist die denn drauf?“, murmelte Tori.
Das fragte Hannah sich allerdings schon länger. Myriam war ihre beste Freundin, aber in letzter Zeit war sie wirklich anstrengend. Vor zwei Wochen war sie fast in Tränen ausgebrochen, weil sie in Mathe statt ihrer üblichen Eins eine Zwei plus geschrieben hatte. „Das macht mir doch den Schnitt total kaputt“, hatte sie gejammert. „Ich will dieses Jahr unbedingt eine 1,0 schaffen.“
„Warum?“, hatte Hannah voller Verwunderung gefragt. „Was für einen Unterschied macht es, ob du einen Durchschnitt von 1,0 hast oder 1,5? Ich bin froh, wenn ich überhaupt versetzt werde.“
„Ich hab mir halt vorgenommen, dass ich dieses Jahr nur Einsen im Zeugnis habe“, hatte Myriam erklärt.
Aber das stimmte nicht, dachte Hannah jetzt. Sie war überzeugt davon, dass es nicht Myriams Ziel war, das beste Zeugnis aller Zeiten zu schaffen. Es war das Ziel ihres Vaters. Herr Frey war ein erfolgreicher Unternehmensberater. „Und die gleiche Zielstrebigkeit erwarte ich auch von meinen Kindern“, hatte er Hannahs Mutter einmal erklärt. „Ich möchte, dass Myriam es in ihrem Leben zu etwas bringt.“
Unter Zielstrebigkeit verstand er beispielsweise, dass Myriam jedes Jahr Klassenbeste wurde. Und Myriam erfüllte seine Erwartungen. Nicht indem sie verbissen büffelte und Tag und Nacht lernte. Das Lernen fiel ihr einfach unglaublich leicht. Sie musste die Französischvokabeln nur einmal kurz durchlesen und beherrschte sie danach im Schlaf. Sie verstand die Matheaufgaben, bevor ihr Lehrer auch nur damit begonnen hatte, sie zu erklären. Sie merkte sich Jahreszahlen und Chemieformeln, Gedichte und Grammatikregeln im Handumdrehen. Sie lief im Sportunterricht Bestzeit, sprang weiter und höher als die anderen und malte im Kunstunterricht die schönsten Bilder.
Zu allem Überfluss war sie auch noch hübsch. Leute, die sie beide nicht kannten, hielten die große, schlanke Myriam immer für Hannahs ältere Schwester. Sie hatten die gleichen dunkelbraunen Haare, aber Myriam wirkte so viel reifer und erwachsener als Hannah mit ihrem runden Gesicht, ihren roten Wangen und der braven Ponyfrisur.
Myriam war schön und klug und ehrgeizig, aber sie war keine Streberin. Oder vielmehr: Bisher war sie keine Streberin gewesen. In den letzten Wochen hatte sich irgendetwas verändert.
„Sie ist ganz versessen darauf, bei diesem großen Westernturnier in Aachen mitzureiten“, erzählte Sina, während sie den Stall betraten. „Die Qualifizierung ist in fünf Wochen. Myriam hat Angst, dass sie sie nicht schafft, wenn ständig die Stunden ausfallen.“
„Natürlich qualifiziert sie sich“, meinte Tori verständnislos. „Die reitet doch supergut. Sie soll zwischendurch lieber mal ein bisschen chillen.“
„Wenn die Stunden ausfallen, bleibt mehr Zeit für Geländeritte. Das ist doch ohnehin viel schöner“, hatte auch Hannah kürzlich zu Myriam gesagt.
„Auf den Ausritten lerne ich aber nichts“, hatte Myriam entgegnet. „Und ich will langsam mal weiterkommen beim Reiten. Es ist schon über ein Jahr her, dass ich mein letztes Turnier geritten bin.“
„Stefan will Sue vorschlagen, dass sie so schnell wie möglich einen Reitlehrer einstellt“, berichtete Sina jetzt. „Das hat er mir gestern erzählt.“
„Hoffentlich ist Sue einverstanden“, meinte Tori. „Sonst wechselt Myriam nämlich nächste Woche zu Kingsize. Wo ihr Vater doch so begeistert von dem Unternehmenskonzept ist.“
Die anderen kicherten, nur Hannah konnte nicht so richtig mitlachen. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Kannte sie ihre beste Freundin überhaupt noch?
Die Mädchen führten die Pferde zum Platz vor dem Stall und holten das Zaumzeug aus der Sattelkammer. Hannahs Pflegepferd Acapulco scharrte freudig mit dem Vorderhuf, als Hannah ihm die Satteldecke überwarf. Acapulco war ein Appaloosa-Wallach, den Sue vor drei Jahren aus einem Frankreichurlaub mit nach Hause gebracht hatte. Sie hatte das Westernpferd auf einem völlig verwahrlosten Bauernhof entdeckt und ihm das Leben gerettet, indem sie ihn seinem Besitzer abgekauft hatte. Hannah erinnerte sich mit Gruseln daran, wie Acapulco damals ausgesehen hatte. Er war so mager gewesen, dass sich sein schwarz gesprenkeltes Fell wie der Bezug eines Regenschirms über die Rippen gespannt hatte. Über ein halbes Jahr hatte Hannah ihn gepflegt, bis er stark genug war, dass sie ihn zum ersten Mal reiten konnte.
Heute sah man dem prachtvollen Wallach nicht mehr an, dass er so lange zwischen Leben und Tod geschwebt hatte. Hannah zog den Sattelgurt fest und klopfte ihm den Hals. „Ich hol noch rasch meinen Helm, dann kann’s losgehen.“
Sie waren gerade aufgestiegen, als Myriam mit Camilla wieder vom Roundpen zurückkam.
„Sue hat dich versetzt“, meinte Tori sofort, als sie ihr Gesicht sah.
„Ich hab so was von genug!“, schimpfte Myriam. „Jetzt fällt der Unterricht zum dritten Mal in Folge aus. Und Sue hält es nicht mal für nötig, mir Bescheid zu geben, dass sie nicht kommt. Was glaubt die eigentlich, wer sie ist?“
„Das ist echt unmöglich“, gab Sina zu. „Aber wart’s ab, in ein paar Wochen ist sie wieder ganz die Alte. Wenn sie erst den Ärger mit Robert überwunden hat …“
„In ein paar Wochen ist es aber zu spät für mein Turnier“, zischte Myriam. „Und ich hab wirklich keine Lust, mir wegen Sues Liebeskummer alle Chancen zu vermasseln.“
„Willst du nicht mit uns ausreiten?“, versuchte Hannah das Thema zu wechseln. „Camilla ist doch schon gesattelt …“
„Nee, danke! Mir ist die Lust vergangen!“
Myriam zerrte Camilla in den Stall, um sie abzusatteln. Die Stute wieherte kläglich. Sie hätte die anderen nur zu gerne begleitet, aber nach ihrer Meinung fragte ja keiner.
Als Hannah, Tori und Sina über eine Stunde später wieder auf den Hof trabten, waren die drei Pferde schweißbedeckt.
„Herrlich“, sagte Sina. „Es geht doch nichts über einen schönen Ausritt. Das hebt die Stimmung.“ Sie verzog das Gesicht. „Da fällt mir ein – ich hab Sue versprochen, heute bei den Hängebauchschweinen auszumisten.“
„Igitt“, meinte Tori.
„Das kannst du laut sagen.“
„Wenn du willst, kann ich Janko für dich fertig machen“, bot Tori an. „Ich hab noch eine halbe Stunde, bis ich mich mit Jonas treffe.“
„Das wär super!“
Hannah schluckte. Wie gut sich Tori und Sina jetzt wieder verstanden, nachdem sie sich fast ein Jahr lang nur noch angegiftet hatten. Vielleicht sollte sie sich mit Myriam auch einmal richtig aussprechen, so wie Tori und Sina das getan hatten.
Als sie die Pferde in ihre Boxen im Stall führten, hievte Myriam gerade den Sattel von Camillas Rücken.
„Was machst du denn noch hier?“, erkundigte sich Hannah überrascht. „Hat Sue dich doch trainiert?“
„Ach die!“ Myriam winkte verächtlich ab. „Nee, Hannes war mit mir im Roundpen.“
„Echt?“ Hannes war Stefan Müllers Sohn, der seit Kurzem ebenfalls auf der Sunshine Ranch ritt. Er ging in die Parallelklasse der Pferdemädchen. Früher hatte Hannah ihn immer übersehen, weil er recht klein und still war. Aber inzwischen hatte sie herausgefunden, dass er total nett war.
„Hannes ist früher Westernturniere geritten, wusstest du das nicht?“, fragte Myriam. „Er war schon beim German-Reining-Turnier dabei und hat den zweiten Platz gemacht.“
„Wow!“ Hannah war beeindruckt. „Davon hat er mir nie was erzählt.“ Natürlich nicht. Hannes war nicht der Typ, der mit seinen Leistungen prahlte. „Aber Reining ist doch gar nicht deine Disziplin.“
Myriam trainierte seit Monaten für den Trail, weil das auch Sues Spezialdisziplin war. Im Gegensatz zum Reining, bei dem es auf spektakuläre Übungen wie Sliding Stops und Spins ankam, ging es beim Trail hauptsächlich um Geschicklichkeitsübungen. Wie die echten Cowboys mussten die Reiter aus dem Sattel heraus Tore öffnen oder ihr Pferd über Holzbrücken und andere Hindernisse bewegen.
„Jetzt schon“, meinte Myriam. „Also zumindest will ich damit anfangen. Es ist gar nicht so schwer zu lernen, sagt Hannes.“
„Trainierst du nun immer mit ihm?“
„Quatsch.“ Myriam schüttelte den Kopf. „Hannes ist doch kein Reitlehrer. Aber er ist auf jeden Fall der Meinung, dass ich Talent habe.“
Sie versetzte Camilla einen zärtlichen Klaps auf die Hinterhand. „So, ich muss los. Wir schreiben schließlich morgen Französisch. Ich sollte noch ein bisschen was dafür tun.“
„Danke, dass du mich daran erinnerst“, stöhnte Hannah. Sie hob den Sattel von Acapulcos Rücken und wuchtete ihn auf die Abtrennung zwischen den Boxen. „Ich hab noch nicht mal angefangen zu lernen.“
„Meld dich, wenn du Hilfe brauchst.“ Myriam war schon in der Stallgasse. „Bis morgen!“
Reiten war schön. Aber das Absatteln, Abzäumen und Trockenreiben der Pferde war nervig. Vor allem, wenn man es so eilig hatte wie Hannah. Inzwischen war es fast fünf. Wenn sie nicht schnellstens nach Hause kam, würden ihre Eltern vor Wut rotieren.
Den Sattel über dem einen Arm, den Korb mit dem Putzzeug im anderen hastete sie aus dem Stall. Am Ausgang wäre sie um ein Haar mit Washington zusammengestoßen, der plötzlich wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte. „Verdammt!“ Hannah ließ den Korb fallen und sprang im letzten Moment zur Seite. Der schwarze Neufundländer wedelte begeistert. Verdammt. Weil er ständig irgendwo im Weg herumstand, hörte er diesen Aufruf so häufig, dass er ihn inzwischen schon für seinen zweiten Vornamen hielt.
„Blöder Köter.“ Hannah legte den Sattel über die Abtrennung neben sich und bückte sich, um die Bürsten, Striegel und Hufkratzer wieder einzusammeln, die sich über den ganzen Boden verteilt hatten.
„Das ist aber nicht sehr nett“, sagte eine vertraute Stimme direkt über ihr.
Hannah fuhr erschrocken hoch und prallte nun wirklich mit Washington zusammen. Sie rutschte aus, hielt sich im letzten Moment an Washingtons buschigem Schwanz. Aber der Hund wich jaulend aus und brachte sie dadurch vollends zu Fall.
„Scheiße“, sagte Hannah und traf den Nagel damit auf den Kopf. Sie saß tatsächlich auf einem frischen Pferdeapfel.
„Sorry“, meinte Hannes betroffen. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Schon gut.“ Sie rappelte sich mühsam hoch. Während Hannes das verstreute Putzzeug wieder in den Korb sammelte, versuchte sie, den Dreck an ihrem Hosenboden an einer Boxenwand abzustreifen. Aber vergeblich, dadurch verteilte sie ihn nur noch besser.
So ein Mist! Warum passierten ihr solche Dinge immer, wenn Hannes in der Nähe war? Als sie ihn neulich auf dem Schulhof getroffen hatte, war sie gerade in einen Kaugummi getreten. Und als sie in Albertos Eisdiele die Cola über ihre Jeans geschüttet hatte, wer war da zufälligerweise am Nachbartisch gesessen? Bingo! Hannes.
Sie griff nach dem Sattel, wobei ihr Washington zum dritten Mal in die Quere kam.
„Jetzt hau endlich ab!“, fuhr sie ihn an. „Du hast schließlich schon genug angerichtet.“
Beleidigt klemmte er seinen Schwanz zwischen die Beine und zog Leine.
„Tut mir echt leid“, sagte Hannes zerknirscht. „Lass mal, ich bring den Sattel weg.“
„Ist schon gut.“ Sie bewegte sich rückwärts aus dem Stall, damit er ihr dreckiges Hinterteil nicht sah. „Ich muss jetzt los.“ Hoffentlich lauerte hinter ihr nicht schon wieder Washington, um sie erneut zu Fall zu bringen.
„Ach so. Dabei wollte ich dich fragen …“, begann Hannes. „Aber ist ja auch egal“, unterbrach er sich dann.
„Frag ruhig.“
„Nee. Ist nicht so wichtig.“
Was? Was hatte Hannes sie fragen wollen? Ob sie auch mit ihm für das Reining-Turnier trainieren wollte? Ob er sie zum Eis einladen konnte? Ob sie mit ihm ausreiten wollte?
„Also dann …“ Hannah machte eine kleine Pause, in der Hoffnung, dass er vielleicht doch noch mit seiner Frage rausrückte. Aber er lächelte nur ein bisschen unsicher.
„Tschüss“, sagte Hannah.