Vertrauen

„Du spinnst ja wohl komplett“, erklärte Frau Hoffmann, Hannahs Mutter. „Dreimal die Woche Reittraining, da kannst du das Schuljahr ja gleich freiwillig wiederholen. Das kommt überhaupt nicht infrage.“

„Ich wüsste auch gar nicht, wer das bezahlen soll“, sagte ihr Vater. „Ich nämlich bestimmt nicht. Die ganze Reiterei ist ohnehin schon viel zu teuer.“

„Wenn Hannah dreimal die Woche zum Reiten darf, krieg ich aber die coolen Sportschuhe, die wir in der Stadt gesehen haben“, fing Hannahs kleine Schwester Mara sofort zu nörgeln an.

„Und bei mir steht mal wieder eine Taschengelderhöhung an“, warf ihr älterer Bruder Max ein. „Ich hab im Internet nachgesehen. Fünfzehnjährige sollten 25 Euro im Monat bekommen.“

„Wer sagt das?“, fragte Herr Hoffmann.

„Das Familienministerium“, behauptete Max.

„Warum redest du dann mit mir? Geh doch nach Berlin und frag die nach dem Geld“, meinte sein Vater.

„Ihr könnt immer nur fordern, fordern, fordern“, seufzte Frau Hoffmann. „Den Tisch kann ich bestimmt gleich wieder alleine abräumen …“

„Herr Förster ist ein berühmter Turnierreiter“, versuchte Hannah es noch einmal. „Er hat alle vorreiten lassen und dann hat er mich ausgewählt …“

„Haha. Ein berühmter Turnierreiter, der ausgerechnet auf die Sunshine Ranch kommt, um dich zu unterrichten. Klar doch“, spottete Max. „Fürs Taschengeld sind natürlich die Eltern zuständig“, fuhr er dann übergangslos fort. „Das Ministerium setzt nur die Richtlinien fest.“

„Dann solltest du deine Eltern verklagen“, riet ihm sein Vater. „Das Ministerium stellt dir bestimmt einen Anwalt.“

„Bitte, Papa!“, jammerte Hannah. „Das ist total wichtig für mich.“

„Ich weiß, Hannah“, sagte ihr Vater ernst. „Aber was nicht geht, geht eben nicht.“

Hannah starrte ihn wütend an. Statt sich gemeinsam mit ihr zu freuen und zu überlegen, wie man das Geld für den Reitunterricht vielleicht irgendwie aufbringen konnte, zogen ihre Eltern kurz und erbarmungslos einen Schlussstrich! Was nicht geht, geht eben nicht. Das war das Killerargument, das jede Diskussion beendete und sämtliche Hoffnungen zunichtemachte.

Mara fing jetzt wieder von ihren dämlichen Sportschuhen an. Hannah stand abrupt auf.

„Bist du schon fertig?“, fragte ihre Mutter. „Bleib doch wenigstens so lange sitzen, bis wir alle aufgegessen haben.“

Hannah setzte sich wieder hin. Sie saß ganz still und starrte auf die Brotkrümel auf ihrem Teller. Aber in ihr tobte und wütete ein Sturm.

Obwohl sie nur lächerliche zehn Reitstunden im Jahr nahm, war sie besser geritten als Tori, Sina und alle anderen Pferdemädchen. Sie hatte es geschafft. Einmal, ein einziges Mal, hatte sie vor allen anderen gestanden und nicht wie sonst am Ende der Schlange. Es war ein kurzer, wunderschöner Traum. Aber nun war sie aufgewacht und fand sich wieder ganz hinten auf dem letzten Platz.

„Es geht nicht“, erklärte Hannah Sue am nächsten Tag. „Meine Eltern können die zusätzlichen Reitstunden nicht bezahlen.“

Sie war direkt nach der Schule auf die Sunshine Ranch gefahren und in Sues Büro gestürmt, weil sie das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte.

„Kannst du es Herrn Förster sagen, damit er sich eine andere aussucht?“, fügte sie noch hinzu.

„Bezahlen?“, fragte Sue. „I don’t get it. Hast du mit Uwe schon über die Kosten gesprochen?“

„Noch nicht. Aber selbst wenn er mir einen Sonderpreis macht, ist es unmöglich. Meine Eltern wollen kein Geld dafür ausgeben. Und sie möchten auch nicht, dass ich so viel Zeit mit dem Reiten verbringe. Wegen der Schule.“

„Hast du ihnen erklärt, worum es geht? Dass die Zukunft der Ranch auf dem Spiel steht?“, fragte Sue.

„Die Ranch ist denen doch vollkommen egal“, stieß Hannah wütend hervor. Dann begann sie zu weinen.

Sie hasste sich selbst dafür, dass sie in Tränen ausbrach. Aber nachdem sie einmal damit angefangen hatte, konnte sie nicht wieder aufhören.

Sue stand auf und legte ihren Arm um sie. „Come on. It’s okay“, murmelte sie. „Also, über die Kosten brauchen sich deine Eltern überhaupt keine Gedanken zu machen. Ich bezahle Uwe.“

Hannah hob ihr nasses Gesicht und sah Sue ungläubig an. „Ist das dein Ernst?“

„Die andere Sache“, fuhr Sue fort, als ob Hannah überhaupt nichts gesagt hätte, „ist komplizierter. Das viele Training in der Woche kostet natürlich eine Menge Zeit.“ Sie runzelte die Stirn. „Soll ich deine Eltern anrufen und mit ihnen reden? Vielleicht kann ich sie ja überzeugen. Was meinst du?“

Hannah schniefte. Sie suchte in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch und fand keines.

„Aber warum? Warum willst du das für mich tun?“

„Na hör mal.“ Sue reichte ihr ein Taschentuch. „Schließlich geht es hier um meine Ranch.“

„Aber was ist … wenn Herr Förster sich in mir getäuscht hat?“, fragte Hannah, nachdem sie ihre Nase geputzt hatte. „Wenn ich seine Erwartungen nicht erfülle? Ich meine, du und ich, wir wissen doch beide, dass ich keine tolle Reiterin bin.“

Sue lachte. „Ich war schon immer der Meinung, dass eine ganze Menge in dir steckt. Du hast nur so wenige Reitstunden genommen, dass ich keine Chance hatte, es aus dir rauszuholen. Ich finde es super, dass Uwe das sofort erkannt hat. Er glaubt an dich – and so do I.“ Sie lächelte Hannah so liebevoll an, dass diese gleich noch mal eine Träne aus ihren Augen wischen musste.

„Ich rede mit deinen Eltern“, sagte Sue. „Wir kriegen das schon hin, Hannah.“

„Wahrscheinlich wirst du heute ziemlich enttäuscht sein“, sagte Förster. Er saß bereits auf der Abtrennung des Roundpens, als Hannah mit Acapulco zum Reitplatz kam.

„Warum?“, stammelte Hannah.

Hatte Förster etwa noch vor der ersten Reitstunde schlechte Nachrichten für sie? Jetzt, nachdem Sue es tatsächlich geschafft hatte, ihre Eltern davon zu überzeugen, dass Hannah das Training bei Förster machen durfte?

„Wirst du schon sehen.“ Förster grinste. „Also, dann mal los.“

Er schickte sie auf die eine Seite des Roundpens, während Acapulco auf der anderen Seite stehen blieb.

„Und nun hol ihn zu dir.“

Hannah wollte auf ihr Pferd zugehen, aber Förster hielt sie zurück.

„Beweg dich nicht. Er soll zu dir kommen.“

Sie blickte ihn verunsichert an. Wenn sie Acapulco auf der Weide zu sich rufen wollte, lockte sie ihn mit einer Möhre oder einem Stück Brot. Aber jetzt hatte sie weder das eine noch das andere in der Tasche.

Sie schnalzte mit der Zunge, streckte ihre Hand aus und hoffte, dass Acapulco neugierig genug war, sich trotzdem zu ihr zu bewegen. Aber der Wallach dachte gar nicht daran. Er senkte den Kopf und betrachtete interessiert seine Vorderhufe.

Hannah sah Hilfe suchend zu Förster. Förster lächelte. Sie begann zu schwitzen. Du liebe Zeit, so eine einfache Übung und sie versagte direkt!

„Acapulco!“ Sie versuchte, Strenge und Autorität in ihre Stimme zu legen. Aber Acapulco war vollkommen unbeeindruckt. Er war schließlich kein Hund.

Wieder ein Blick zu Förster. Sein Lächeln hatte jetzt etwas Mitleidiges. Oder war es eher verächtlich?

Nun sprang er vom Gatter und stand ebenfalls im Roundpen. Er verharrte einen Moment vollkommen bewegungslos mit halb geschlossenen Augen. Dann schnalzte er leise mit der Zunge. Acapulco hob sofort den Kopf. Förster streckte seinen rechten Arm aus. Daraufhin setzte der Wallach sich in Bewegung, Schritt für Schritt ging er langsam auf den Reitlehrer zu, so als würde er von einer unsichtbaren Schnur angezogen.

Jetzt hatte Acapulco Förster erreicht. Die weichen, schwarz gesprenkelten Nüstern des Appaloosas berührten sanft seine Hand. Förster klopfte den Hals des Pferdes und streichelte es dann zwischen den Ohren. „Feiner Bursche, gut gemacht“, hörte Hannah ihn murmeln.

Feiner Bursche. Hannah hätte schreien können. Noch nie zuvor war sie so sauer auf Acapulco gewesen.

„Warum kommt er zu mir, anstatt zu dir?“ Förster sprach aus, was Hannah dachte.

Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

Förster kam zu ihr herüber.

„Wie geht es dir?“, fragte er, als er neben ihr stand.

„Mir?“ Was war das denn für eine Frage? „Gut“, sagte sie.

„Wirklich? Schließ mal deine Augen.“

„Was?“ Was sollte das denn jetzt? Was um alles in der Welt hatte Förster mit ihr vor?

„Vertrau mir“, sagte er ruhig. „Mach die Augen zu.“

Also gut. Sie schloss die Augen. Die Frühlingssonne schien rötlich durch ihre Lider.

„Und jetzt atme tief ein und aus. Und überleg dir dabei, wie es dir wirklich geht.“

Hä? Wozu sollte dieser Hokuspokus denn gut sein? Egal, er war der Trainer. Wenn sie Erfolg haben wollte, musste sie sich auf ihn einlassen, sonst konnte sie gleich aufgeben.

Eine Weile lang atmete sie einfach nur ein und aus. Dann begann sie, in sich hineinzuhorchen.

„Wie geht es dir?“, fragte Förster, als sie nach einer Weile die Augen wieder aufschlug.

„Ich bin nervös und aufgeregt“, antwortete Hannah wahrheitsgemäß. „Ich hab tierische Angst, dass ich das Training gleich beim ersten Mal vermassele und Sie mich fallen lassen. Und ich bin sauer auf Acapulco, weil er nicht zu mir gekommen ist.“

„Sehr gut“, sagte Förster zufrieden.

Hannah fühlte eine große Erleichterung. Den ersten Test hatte sie anscheinend bestanden, auch wenn sie nicht genau wusste, worin sie überhaupt geprüft worden war.

„Es ist der erste Schritt“, erklärte Förster. „Du musst dir darüber im Klaren sein, was du empfindest. Ob du wütend, traurig, überglücklich oder enttäuscht bist.“

„Warum ist das so wichtig?“

„Weil dein Pferd dasselbe spürt. Acapulco merkt sofort, wie du dich fühlst. Und er bezieht deine Unzufriedenheit, Wut oder Freude immer auf sich. Als du heute mit ihm in den Roundpen gekommen bist, wollte er weg von dir. Weil er gemerkt hat, wie nervös du warst. Das hat ihn zutiefst verunsichert. Deshalb ist er nicht zu dir gekommen, als du gerufen hast.“

„Aha“, meinte Hannah. „Aber was soll ich dagegen tun?“

„Wogegen?“

„Ich kann meine Gefühle doch nicht abstellen. Wenn ich nervös bin, bin ich nervös.“

„Du sollst nichts abstellen. Du sollst deine Empfindungen nur bewusst zur Kenntnis nehmen. Und wenn du nun auf Acapulco zugehst“, Förster ergriff Hannahs Hand und führte sie langsam zu ihrem Pferd, „sagst du ihm: Ich bin nervös und unsicher. Aber das liegt an diesem Idioten neben mir und hat nichts mit dir zu tun.“

Jetzt ließ Förster Hannahs Hand wieder los. Sie zögerte einen Moment lang, dann ging sie allein weiter. Ich bin nervös und aufgeregt, dachte sie, während sie Acapulco fest in die Augen blickte. Aber nicht wegen dir. Wir beide kennen uns schon lange und du bist mir so vertraut wie kein anderer auf der Welt.

Ein paar Meter vor ihm blieb sie stehen. Sie streckte ihre Hand aus. „Komm, Acapulco“, murmelte sie. „Komm zu mir.“

Da hob er den Kopf und kam langsam, ganz langsam näher.

Ihr Fahrrad schwebte förmlich über die Straße, als sie nach Hause radelte. „Ich bin sehr zufrieden mit dir“, hatte Förster am Ende der Stunde zu ihr gesagt. „Ich habe bisher selten erlebt, dass eine Schülerin meine Anleitungen so schnell umsetzen konnte.“

„Aber warum haben Sie vorhin gemeint, dass ich enttäuscht sein werde?“, wollte Hannah wissen.

„Weil es fast allen meinen Schülern so geht. Sie wollen direkt losgaloppieren, Spins und Sliding Stops und Rückwärtsrichten und weiß der Teufel was. Und dann beginnt das Training so langsam und unspektakulär. Das nervt die meisten.“

„Mich nicht“, sagte Hannah. „Ich bin kein bisschen enttäuscht. Im Gegenteil.“

Förster lächelte. „Ich weiß. Du bist eben anders als die anderen.“ Er streckte ihr seine Hand hin. „Ich bin übrigens Uwe. Wir können gerne Du zueinander sagen.“

Ich hab es gut gemacht!, dachte Hannah, während ihr Fahrrad über den Radweg schwebte. Dass sie anders war als die anderen, wusste sie schon lange. Aber dass das einer gut fand, das war neu.