R enas Kopf fühlte sich an, als sei er mit Watte gefüllt, doch sie hatte keine Schmerzen. Sie lag auf dem Bauch, und ihre Nase war nur eine halbe Fingerlänge von einer zerschlissenen Grasmatte entfernt, die genauso muffig roch wie das Sumpfwasser. Um sie herum Dunkelheit, stickige Hitze.
Rena spannte vorsichtig die Halsmuskeln an, hob den Kopf und sah sich um. Obwohl sie es diesmal von innen sah, erkannte sie das Holzgebäude sofort wieder, das sie bei ihrer Ankunft im Dorf gesehen hatte. Entlang der Innenwand waren Ringe aus Metall angebracht, und in den Ecken standen Töpfe, aus denen es nach Unrat stank. Ein paar Armlängen entfernt lag eine gesprungene Wasserschale. Das war alles, was das Haus an Einrichtung zu bieten hatte, wenn man die von vielen Füßen abgenutzten Grasmatten außer Acht ließ. Es war nicht schwer zu raten, dass hier gewöhnlich Menschen gefangen gehalten wurden, auch wenn Rena im Moment das einzige Lebewesen darin war.
Ihr wurde fast übel, als ihr klar wurde, wohin sie geraten war und dass auch sie nie an ihrem eigentlichen Ziel ankommen würde. Raubtier? Es gab keins. Es war ihre eigene Art, die diese Gegend so gefährlich machte. Menschenhändler! Das war das dunkle Geheimnis des Grasmeeres.
Klebrige Niedergeschlagenheit breitete sich in ihr aus. Alix kann mir hier nicht raushelfen – niemand wird mir helfen, dachte sie. Wieso passiert gerade mir das?
Als sie sich aufsetzte, wurde ihr schwarz vor Augen, und sie musste den Kopf auf die Knie legen, bis sie sich besser fühlte. Um ihr Handgelenk lag ein grobes Lederband, das mit einer stabilen Kette an der Hüttenwand festgeschmiedet war. Die Kette war ziemlich lang, sie konnte die entgegengesetzten Wände erreichen, aber es war unmöglich, das Lederband abzustreifen.
Nur ganz gedämpft drangen die Stimmen des Dorfes herüber, das Schnurren der Windräder, die vergnügten Schreie der Kinder und der Klang eines Steinhammers. Lange Zeit blieb Rena so sitzen, lauschte und dachte nach. Allmählich wurde ihr Kopf klarer, und das Denken fiel ihr leichter. Sie sah sich noch einmal um, konnte ihre Tasche aber nirgendwo entdecken. Auch das Messer war weg, Alix’ Geschenk an sie, mit dem alles angefangen hatte.
Rena zuckte zusammen, als sie Schritte näherkommen hörte. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, dann fiel ein breites Lichtband ins Innere des Langhauses. Die Silhouette eines Mannes hob sich gegen das helle Viereck der offenen Tür ab. Noch bevor sie ihn erkannte, ahnte Rena, dass es der gut aussehende Händler war, der ihr gestern – war es gestern gewesen? – den Becher mit dem Betäubungsmittel gegeben hatte.
»Hallo«, sagte der Händler. Seine Stimme klang genauso wie am Lagerfeuer, obwohl seine Gesprächspartnerin diesmal in einem Sklavenhaus in einer verdreckten Ecke kauerte. »Ausgeschlafen?«
Wortlos funkelte Rena ihn an.
»Ich werde dir nichts tun«, sagte der Mann der Luftgilde nüchtern. »Aber du brauchst dir gar keine Illusionen zu machen, du kommst hier nicht heraus. Morgen geht ein Transport nach Nehiri, da wird sich zeigen, wer eine Dienerin wie dich gebrauchen kann.«
»Das war nicht fair, das mit dem Getränk!«, brüllte Rena ihn an.
»Du wirst schnell herausfinden, dass das Leben selten fair ist«, sagte der Händler. »Und wenn Methari dich nicht hergebracht hätte, wärst du ohne Wasser in ein paar Tagen tot gewesen. Das ist im Grasmeer schon vielen Fremden passiert, das kannst du mir glauben. Findest du nicht, dass diese Rettung ein paar Winter deines Lebens wert ist?«
Rena schwieg verzweifelt. Sie wusste, dass Nehiri im Norden lag, weit weg von Eolus. Selbst wenn sie von dort fliehen konnte, würde sie ohne Hilfe nie nach Eolus finden.
Wieder knarrte die Tür, und ein weiterer Mann betrat den Raum. »Na, Moog, wieder einen guten Fang gemacht?«
»Ja, eine kleine Blattfresserin.«
Die Stimme des Neuankömmlings kam Rena irgendwie vertraut vor. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie ins Gegenlicht und sah eine große, schlanke Gestalt. Sie erkannte den Mann erst, als er näherkam und sie sein verstrubbeltes hellblondes Haar, sein schmales kantiges Gesicht und den weißen Vogel auf seiner Schulter sehen konnte. Es war der junge Händler der Luftgilde, mit dem sie damals am Feuer gesessen hatten, kurz vor Alix’ Prügelei mit seinen Reisegefährten! Rowan.
Mit einem Schlag schöpfte Rena wieder Hoffnung. Er war nicht so gewesen wie die anderen, er hatte sich aus dem Kampf herausgehalten und sogar entschuldigt. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass er etwas Besonderes war, und jedes Wort, das sie gewechselt hatten, jeden Blick, den er ihr zugeworfen hatte, tief in sich aufbewahrt. Lass dich nicht unterkriegen , hatte er zu ihr gesagt. Vielleicht würde er ihr jetzt helfen!
Noch während sie das dachte, kamen ihr Zweifel. War er wirklich so nett? Man lernte einen Menschen nicht wirklich kennen, wenn man einen halben Abend lang mit ihm redete. Außerdem gehörte er einer anderen Gilde an, und das in einer Zeit, in der überall in Daresh Fehden aufflammten. Konnte sie wirklich erwarten, dass er ihr gegen seine Gildenbrüder half? Vielleicht war er damals einfach nur freundlich gewesen, weil er ein Feuer und Gastfreundschaft für die Nacht gesucht hatte.
Als Rena merkte, dass Rowan sie nicht zu erkennen schien, verlor sie den Mut wieder. Er hatte sie längst vergessen. Kein Wunder, schließlich hatte er hauptsächlich mit Alix gesprochen. Wie bitter. Aber sie durfte noch nicht aufgeben!
Rena stand auf und versuchte, auf die beiden Männer zuzugehen, soweit die Kette reichte. »Friede den Gilden!«, sagte sie höflich. »Erinnert Ihr Euch nicht an mich?«
Der junge blonde Händler wandte nur kurz den Kopf, runzelte die Stirn und beachtete sie dann nicht mehr. »Na, Moog, auf was für einen Transportpreis hast du dich mit Ellroi geeinigt? Er will seiner Geliebten ein neues Haus bauen, weißt du?«
»Ist ja nicht mein Problem, wofür er spart«, sagte Renas Gefängniswärter. »Er soll mir anständige Transportpreise bieten, sonst war ich die längste Zeit bei ihm Kunde.«
»Wisst Ihr nicht mehr, der Kampf im Wald?«, rief Rena verzweifelt und erntete dafür von dem Händler namens Moog einen Stoß, der sie ins Stroh zurückstolpern ließ. Instinktiv versuchte Rena zurückzuschlagen, aber Moog konnte ausweichen.
»Miststück!«, brummte Moog. »Wer die mal kauft, wird einen Haufen Ärger haben. Weißt du, wovon die redet?«
Rowan lachte, kraulte den weißen Vogel auf seiner Schulter und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich Grasfieber.«
Dann gingen die beiden Männer hinaus, ohne Rena noch weiter zu beachten. Mit einem knirschenden Geräusch wurde von draußen ein schwerer Riegel vorgeschoben.
»Verfluchte Blattfäule!«, stieß Rena hervor. Kaum waren die Schritte außer Hörweite, sprang sie auf und begann die Tür und die Wände zu untersuchen, die sie am Ende der Kette erreichen konnte. Doch sie merkte schnell, dass das Haus bedrückend solide gebaut war. Sie konnte sich vorstellen, dass allein der Aufenthalt in einem solchen festen Haus für einen Menschen der Luftgilde Folter bedeutete. Und hier auszubrechen war schwer, wenn nicht unmöglich. Deshalb also das Holz! Warum war sie nicht früher misstrauisch geworden?
Nachdem Rena viele hundert Atemzüge lang hartnäckig und vergeblich versucht hatte, eins der Wandbretter zu lockern, gab sie auf. Ihre Finger waren zerschrammt und blutig, mit verzogenem Gesicht klaubte sie sich die Splitter aus der Haut. Das hatte keinen Sinn, sie kam hier nicht raus. Also blieb ihr nur noch die Möglichkeit, auf dem Transport oder in Nehiri selbst zu fliehen.
Völlig erschöpft rollte sich Rena in einer Ecke zusammen und schlief ein.
Sie wachte auf, als die Tür sich knarrend öffnete. Es geht los, dachte Rena, und ihr Puls raste. Der Transport.
Doch warum sagte der Neuankömmling nichts, und warum kam er so leise und vorsichtig herein? Es war dunkel draußen, der zweite Mond war untergegangen, doch er zündete kein Licht an. Und was war dieses Ding da auf seiner Schulter?
Dann drehte sich der Mann um. Rena erkannte ihn, und wunderte sich nicht mehr. Es war Rowan. Der kleine Vogel krallte sich mit großen verängstigten Augen auf seiner Schulter fest und suchte verzweifelt seine Balance zu halten, um nicht abzustürzen. Über Rowans Rücken hingen an einem Lederriemen eine Armbrust, ein Köcher mit Pfeilen und eine große Lederflasche.
»Ich bin’s«, flüsterte der junge blonde Händler. »Leise!«
Rena bekam kaum Luft vor Aufregung. »Also hast du mich doch erkannt!«
»Ja, natürlich. Aber ich konnte mir nichts anmerken lassen. Moog lässt sich ungern seine Beute wegschnappen. Beinahe hättest du alles verdorben, als du mich auf dich aufmerksam machen wolltest. Warte, ich mache die Kette los.«
Sie spürte seinen Atem neben sich in der Dunkelheit, die Berührung langer sensibler Finger am Handgelenk. Geschickt untersuchten sie das Lederband, dann hörte Rena das schleifende Geräusch eines Messers und spürte, wie es sich durch das Band hindurch fraß. Als Rowan es fast durchschnitten hatte, zog er es mit einer letzten Kraftanstrengung auseinander. Mit einem leisen Klirren fiel die Kette auf die Strohmatten.
Rena fühlte seine Hand auf ihrem Arm. »Bist du in Ordnung?«
»Ja!«
»Dann los.«
Rena sprang auf und ihre bloßen Füße schabten über die Grasmatten, als sie zur offenen Tür stürzte.
»Leise, beim Nordwind!«
Sie schlichen schweigend durch das dunkle Dorf. Nur das nie verstummende Surren der Windräder begleitete sie. Es war eine kleine Siedlung, in ein paar Atemzügen waren sie am Rand angelangt. Schaudernd grub Rena die Zehen in den sandigen Boden, als sie vor dem Weg standen, der ins Labyrinth des Grasmeeres hinausführte. Der Gedanke, wieder von diesen blauen Wänden eingeschlossen zu sein, war grässlich. Jetzt, im Mondlicht, waren sie nicht blau, sondern grauschwarz, und der Pfad war nur ein schmaler Einschnitt zwischen den hohen, trügerisch weichen Wänden der Halme.
»Komm«, sagte Rowan schlicht und wandte sich ihr zu, winkte ihr, ihm zu folgen. Er sagte nicht, dass sie ihm vertrauen sollte, und gerade deswegen vertraute sie ihm. Noch immer konnte Rena kaum fassen, dass sie sich wiederbegegnet waren. Sie fühlte sich hellwach, rasch kreiste das Blut durch ihre Adern. Angst? Ja, sie hatte Angst, aber es war auch wilde Freude, die ihr Herz so schnell schlagen ließ.
Rena blickte sich um. »Wird uns die Katzenfrau nicht aufspüren?«
»Methari? Nein, sie arbeitet auf der anderen Seite des Dorfes. Der Katzenmensch, der diese Seite überwacht, ist ein Freund von mir. Wo willst du hin, Rena?«
Er hatte sich also ihren Namen gemerkt. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
»Nach Eolus«, sagte sie.
Seine Stimme war leise und weich. »Ich begleite dich das erste Stück, dann gebe ich dir meinen Pfadfinder mit.« Er kraulte dem weißen Vogel das Bauchgefieder. »Ach ja, bevor ich’s vergesse, hier sind Proviant und ein paar deiner Sachen, den Rest hatte Moog leider schon verteilt.«
Renas Hand schloss sich um den Griff ihres Messers, dann ließ sie die Finger über die kühle glatte Klinge des Schwerts gleiten, das Alix ihr geschmiedet hatte. Wenigstens diese beiden Dinge hatte sie wieder! Das andere Zeug war nicht so wichtig, das konnte man ersetzen. Die Provianttasche hängte sie sich über die Schulter.
»Danke … Rowan. Für alles.« Es fühlte sich irgendwie gewagt an, seinen Namen auszusprechen. »Kommst du in Schwierigkeiten, weil du mir geholfen hast?«
»Kann sein«, sagte er nur. Dann ging er voraus, und Rena folgte ihm auf dem Pfad in die Freiheit. Sie blickte nicht zurück, und schon nach ein paar Baumlängen verschluckte der Gesang der Gräser alle Geräusche. Es war, als hätte es Dar Bredin nie gegeben.
Während Rena die hochgewachsene Gestalt vor sich beobachtete, dachte sie darüber nach, wie Rowans Stimme geklungen hatte und wie es sich angefühlt hatte, als seine Hand sich in der Dunkelheit auf ihren Arm gelegt hatte. Sie konnte sich kaum erinnern, je etwas so intensiv gespürt zu haben wie diese Berührung.
»Was ist eigentlich aus deiner streitbaren Freundin geworden?«, fragte Rowan. »Reist ihr nicht mehr zusammen?« Er sagte es so laut, dass Rena zusammenzuckte. Doch dann merkte sie, dass das Rauschen ihre Stimmen verschluckte, und entspannte sich wieder. Niemand würde sie hören.
Rena erzählte, wie Alix und sie sich verloren hatten, und Rowan nickte. »Selbst unseren Leuten passiert das manchmal noch. Aber natürlich nicht so oft wie Fremden.«
»Hoffentlich verdurstet sie nicht!«
»Ich glaube, sie kann ganz gut auf sich aufpassen. Aber du solltest nicht länger als eine Woche in Eolus auf sie warten. Wenn sie bis dahin noch nicht eingetroffen ist, kommt sie nicht mehr.«
Rena wollte sich nicht vorstellen, was das bedeutete. Stattdessen beobachtete sie Rowan. Obwohl er so groß und schlaksig war, hatten seine Bewegungen nichts Ungelenkes, er ging schnell und doch so präzise, dass es nie wie Zufall wirkte, wo sein Fuß den Pfad berührte. Manchmal wandte er den Kopf, um Ausschau zu halten oder zu lauschen, und Rena sah sein klares, scharf geschnittenes Profil, das sie an einen Raubvogel erinnerte. Der Wind zerzauste sein hellblondes Haar.
In Rena klumpten sich die Fragen zusammen und versuchten, alle gleichzeitig ihre Zunge zu erreichen. Die, die sie am meisten interessierte, drängte sich nach vorn. »Wird niemandem auffallen, dass du weg bist?« Sie wagte nicht danach zu fragen, ob er eine Freundin hatte, die ihn heute Nacht vermissen würde.
»Meine Eltern sind gewohnt, dass ich meine eigenen Wege gehe. Sorgen machen sie sich sowieso ständig um mich. Kann ich nicht verhindern. Meine Schwester ist schon lange ausgezogen, sie lebt weiter im Norden.«
Kein Hinweis auf eine Freundin, das war doch schon mal was. »Und die anderen – können sie nicht irgendwie erraten, dass du mich befreit hast?«
»Wenn ich Pech habe. Moog ist kein Dummkopf, und er weiß, dass ich mich immer aus dieser Art von Handel herausgehalten habe. Aber er wird mir nicht beweisen können, dass ich etwas mit deiner Flucht zu tun habe.«
»Vielleicht hätten wir eine falsche Spur legen sollen.«
»Zu spät. Sag mal, was zum Nordwind habt ihr – diese Alix und du – eigentlich im Grasmeer gemacht? Ihr gehört nicht hierher.«
»Wir sind auf dem Weg zum Gildenrat«, berichtete Rena mit einem Anflug von Stolz – ihm vertraute sie, vor ihm wollte sie das nicht geheim halten.
»Dann ist Eolus aber genau die falsche Richtung. Zum Rat deiner Gilde, nach Alaak, musst du nach Westen.«
»Klar, weiß ich. Wir wollen ja auch zum Rat der Luftgilde.«
Mit einem Ruck wandte sich Rowan um. Sein Mund war hart und seine Augen kälter, als sie sie bisher gesehen hatten. »Das habe ich nicht nötig, mir solchen Mist erzählen zu lassen, den nicht mal ein Dhatla glauben würde! Was soll das?«
»Ich sage die Wahrheit!«
»Das kann nicht sein, und ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand mich anlügt.«
Rena spürte, dass auch sie wütend wurde. »Ich lüge nicht!«, wiederholte sie, ohne zu wissen, wie sie ihn davon überzeugen konnte.
»Darin, meine Reisegefährten auszuwählen, war ich schon immer mies«, knurrte Rowan. »Ist vielleicht besser, wenn ich zurückgehe. Du schaffst das schon, dich hier durchzuschlagen.« Er ging auf sie zu, drängte sich an ihr vorbei, marschierte weiter, zurück in Richtung Dar Bredin.
»Lass mich es dir doch erklären!« Sie musste schon rufen, mit jedem Schritt seiner langen Beine entfernte sich Rowan weiter von ihr. Gleich war sie wieder allein, hoffnungslos allein.
»Wir sind auf einer Friedensmission! Wir wollen alle Gilden an einen Tisch bringen, damit sie verhandeln und sich gegen die Regentin zusammenschließen. Warte, verdammt!«
Doch Rowan war schon um eine Biegung verschwunden. Rena blieb keuchend auf dem Weg stehen und sah ihm hinterher. Dann gaben die Beine unter ihr nach, und sie ließ sich ganz langsam auf den Pfad sinken. Sie hätte sich ja denken können, dass das, was sie und Alix taten und tun wollten, den meisten Menschen irrsinnig und bedrohlich erscheinen musste. Hatte überhaupt jemals ein Fremder vor dem Rat der Luftgilde gestanden? Wahrscheinlich nicht!
Die Freiheit war schon so nah gewesen, und sie hatte es verpatzt! Nun konnte sie nur noch einmal versuchen, Alix zu finden oder wenigsten ein anderes der wenigen Dörfer, die auf dem Weg lagen. Und wer wusste, was sie dort erwartete … Sie hatte nicht genug Proviant, um den Versuch zu wagen sich ganz bis nach Eolus durchzuschlagen. Sie konnte kaum fassen, dass Rowan verschwunden war, dass sie ihn schon wieder verloren hatte. Wieso hatte sie ihm ihren Plan nicht behutsamer erklärt, ihre Worte geschickter gewählt?
Zweimal zehn Atemzüge lang saß sie so da, als sie eine blonde Gestalt auf dem Weg auftauchen sah. Ungläubig richtete sich Rena auf.
Rowan kam näher, bis er wieder vor ihr stand. Er überragte sie um einen ganzen Kopf. »Das, was du eben gesagt hast. Kannst du das noch mal wiederholen?«
Rena schwieg einen Moment lang und sah ihn einfach nur an. Sein Mund hatte den harten Zug verloren, doch seine Augen musterten sie skeptisch. Sein Pfadfinder hatte sich zu einer weißen Federkugel aufgeplustert und glotzte Rena erschrocken an.
»Wir reisen zu den Gildenräten …«, begann sie langsam.
»Stopp. Wer ist wir ?«
»Ich und Alix – die Frau von der Feuergilde«, sagte Rena und erklärte ihm, wie sie Daresh Frieden bringen wollten. Als sie geendet hatte, sah sie nur noch Verblüffung in seinem Gesicht.
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Doch. Ich schwöre es beim Erdgeist.«
Er stieß die Luft aus und schüttelte den Kopf. »Dann bist du entweder sehr mutig oder sehr dumm, Rena. Sie werden dich nie zum Rat meiner Gilde vorlassen, um dein Anliegen vorzubringen.«
Doch Rena hörte ihm nicht wirklich zu – sie beobachtete sein Gesicht. Und stellte dann die Frage, von der so viel abhing. »Warum bist du zurückgekommen?«
Rowan zuckte die Schultern. Er sah sie nicht mehr an. »Los, gehen wir.«
Von einem Moment auf den anderen wusste Rena, dass Alix und sie ihn brauchten. Sie wollte, dass er, er und kein anderer, mitkam auf ihre Reise zu den Gildenräten. Er hatte recht – so wie sie es geplant hatten, war es verrückt. Sie mussten zu viert sein, ein Mensch von jeder Gilde. Außer Rowan kannte sie niemanden von der Luftgilde, der auch nur annähernd offen genug war, um der dritte im Bunde zu werden. Rena ahnte, dass es nicht leicht werden würde, ihn zu überreden. Doch sie musste es versuchen. Nicht nur wegen Daresh. Wenn sie es nicht tat, würden sie sich in ein paar hundert Atemzügen an irgendeiner Weggabelung trennen und sehr wahrscheinlich nie mehr wiedersehen.
»Vielleicht bist du zurückgekommen, weil du selbst schon an so eine Reise gedacht hast«, sagte Rena, die sich an seine Worte am Lagerfeuer erinnerte. Er wollte, dass die Gilden sich versöhnten, so wie sie. »Wieso kommst du nicht mit uns?«
Zögernd schüttelte er den Kopf. »Mein Leben ist hier, im Gras.«
Rena versuchte in Worte zu fassen, was sie gespürt hatte. »Du bist anders als die anderen.« Sie musste gegen seinen Rücken ansprechen. Hörte er ihr überhaupt zu? »Du passt nicht hierher.«
»Ich bin zufrieden hier.«
»Handeln, Tauschen, Feilschen, zurück in dieses Dorf mitten im Nichts und dann alles wieder von vorne …«
»Na und? Was ist daran so schlimm?« Seine Stimme war schärfer geworden – anscheinend hatte sie einen wunden Punkt getroffen. »So lebt nun einmal die Luftgilde.«
Sie bewegt sich auf gefährlichem Terrain, das wusste Rena, aber sie ließ nicht locker. »Gibt es hier jemanden, der dir etwas bedeutet? Bedeutet dir deine Arbeit etwas?«
»Ja«, knurrte er. »Ja! Und was geht dich das eigentlich …«
Er unterbrach sich, blieb stehen und hob ruckartig den Kopf, wie um zu lauschen. Sein Pfadfinder hätte beinahe den Halt verloren. »Verdammt. Ich glaube, es ist jemand in der Nähe.«
Rena verkrampfte sich. »Hörst du etwas?«
»Hören kann man hier nichts. Aber der Wind hat gedreht, er trägt es heran.«
»Kommt jemand aus dem Dorf?«
Rowan antwortete nicht. Langsam ging er weiter, setzte einen Fuß vor den anderen. Vor ihnen machte der Pfad eine Biegung und wand sich weiter gen Osten. Sie bogen um die Kurve …
Moog, der Händler, dessen Gefangene Rena gewesen war, hatte sich breitbeinig auf dem Pfad aufgepflanzt, in der perfekten Balance des Kämpfers. Seine schussbereite Armbrust hielt er locker und entspannt in Hüfthöhe. Der Wind wehte ihm die goldenen Haare ins Gesicht, und er strich sie mit einer lässigen Handbewegung zurück.
»Hallo, Storchenbrut. Hab mich schon gefragt, wieso ihr so lange gebraucht habt«, sagte er.