Storchenbrut

» Hallo, Moog«, sagte Rowan ruhig. »Du hast also geahnt, dass ich es tun würde.«

»Klar habe ich das. Hab nur drauf gewartet, dass du’s mal versuchst. Du bist viel zu zartbesaitet, Storchenbrut. Das wusste ich schon immer, auch wenn du den harten Kerl gespielt und gegen alles rebelliert hast.«

Rena sah, dass Rowan vor Wut bebte.

»Versteh mich nicht falsch«, fuhr Moog fort. »Ich habe nichts gegen sensible Menschen. Hat Spaß gemacht, wie wir dich die Windräder raufgejagt haben, weißt du noch? Aber inzwischen bist du ein Risiko fürs Geschäft.«

»Euer Geschäft ist auf übelste Art kriminell – Menschen sind keine verdammte Ware!«

»Du bist zu leicht in Rage zu bringen«, sagte Moog. Seine Augen waren kühl, als er langsam die Armbrust hob und auf den jungen Händler anlegte. »Geh vor der Blattfresserin weg.«

Rowan starrte zurück. »Nein«, sagte er.

»Ach, sie bedeutet dir was? Klar, sie ist ein hübsches Ding, aber ist das wirklich ein Loch in deinem Gefieder wert, Stelzenbein?«

»Sie hat einen wichtigen Auftrag. Du darfst sie nicht aufhalten.«

»Red ruhig weiter. Hab lang nicht mehr so gelacht.«

Doch als Rowan sprach, waren seine Worte nicht mehr für den anderen Händler bestimmt. Er flüsterte eine Formel, woraufhin der weiße Vogel auf seiner Schulter abhob und mit vorgestrecktem Schnabel, wie ein Geschoss, auf Moogs Kopf zujagte. Fluchend musste der Händler eine Hand von der Waffe nehmen und damit seine Augen vor der Attacke schützen. In diesem Moment setzte sich Rowan in Bewegung. Rena hatte noch nie jemanden so laufen sehen. Seine langen Beine überwanden die Entfernung so schnell, dass es fast aussah, als flöge er. Er brauchte nur drei Schritte, bis er Moog erreicht hatte, dann schlossen sich seine Finger um die Kehle des Mannes. Die Armbrust fiel zu Boden und kippte in den klebrigen Matsch, wo sie versank.

Röchelnd und um sich schlagend versuchte Moog, sich aus dem Griff zu befreien, doch Rowan ließ nicht locker.

»Lass ihn laufen!«, rief Rena erschrocken. »Das reicht – nichts wie weg hier!«

Doch Rowan schien sie nicht zu hören. Besorgt musste Rena mit ansehen, wie Moogs Bewegungen immer schwächer wurden und sein Gesicht sich verfärbte, erst aschgrau wurde und dann bläulich. Das war keine Notwehr mehr! War das der einfühlsame, freundliche junge Mann, mit dem sie damals am Feuer gesessen hatten, dessen Finger so sanft gewesen waren, als er sie befreit hatte?

Ihre Hand fuhr an ihr Messer, doch sie konnte sich nicht dazu entschließen, es zu ziehen. Musste sie Rowan verletzen, damit er aufhörte? Nein! Das schaffte sie nicht! Aber was war, wenn er den anderen Händler wirklich umbrachte?

Staub wirbelte auf und nahm ihr die Sicht: Moog versuchte, um sich zu treten und seinen Gegner zu treffen. Doch seine Bewegungen waren schon zu ungeschickt geworden. Kurz darauf hörte er auf, sich zu wehren, und sackte zusammen. Seine Augen blickten starr.

Jetzt, dachte Rena, jetzt, sonst ist es zu spät!

Doch noch bevor sie ihr Messer ziehen konnte, riss Rowan die Hände zurück, als sei der Hals seines Gegners ein glühendes Stück Metall geworden. Hustend und nach Luft ringend krümmte sich Moog auf dem Pfad.

»Wir müssen weg hier«, zischte Rena und packte ihren Begleiter am Arm. »Los!«

Sie lief voran, ziellos hinein in das blaue Nichts des Grasmeeres, und zerrte Rowan hinter sich her. Erst als sie merkte, dass er ihr von selbst folgte, wagte sie es, ihn loszulassen. Etwas berührte ihre Haare, sie spürte winzige raue Krallen auf ihrer Kopfhaut. Rena schrak zusammen, ihre Hand zuckte hoch, um das Wesen von sich herunter zu wischen, doch dann merkte sie, dass es nur der Pfadfinder war. Er zeigte ihr den Weg, damit sie auf der Flucht nicht im Kreis liefen.

Nachdem sie mehr als zehnmal hundert keuchende Atemzüge lang gerannt waren, war Rena endgültig außer Puste. Sie hielt an und ließ sich auf den Pfad sinken, um zu verschnaufen. Rowan blieb stehen, die Arme abwehrend gekreuzt. Sein Gesicht war verschlossen. Er schwitzte nicht einmal.

Rena beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und überlegte, was sie sagen konnte. Wenn sie die Sätze in Gedanken ausprobierte, klangen sie plump und überflüssig. Schließlich war es Rowan, der als erster das Schweigen brach. »Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist … Ich … Einen Moment lang …«

Einen Moment lang wolltest du ihn töten, dachte Rena und sagte vorsichtig: »Auf jeden Fall ist das einer, der dich nie wieder Storchenbrut nennen wird.«

Mühsam, voller Anstrengung, formten seine Lippen ein kleines Lächeln. »Das stimmt wohl.«

»Aber dafür haben wir jetzt das halbe Dorf am Hals, oder?«

»Kann gut sein.« Auf einmal hatten Rowans Augen einen gefährlichen Glanz. »Wahrscheinlich wird Moog seine Kumpane gegen mich aufhetzen. Er ist der Sohn des Ortsvorstehers, meine Eltern sind ihm untergeben. Einfach scheußlich, wie unterwürfig sie gegenüber Moogs Familie sind, das habe ich nie ertragen.«

»Du hast rebelliert«, riet Rena.

Rowan nickte grimmig. »Dafür wollte Moog mich brechen, schon seit vielen Jahren. Leider stand es meistens fünf zu eins, wenn seine Freunde mich angegriffen haben.«

»Vielleicht ist es ihm jetzt peinlich, dass du ihn besiegt hast, ihn, den großen Helden, und er hält den Mund.« Rena blickte ihren Begleiter von der Seite an. »Tut mir leid, dass du wegen mir so viel Ärger hast. Wenn du nicht versucht hättest, mich zu befreien …«

»… dann würde ich jetzt in meiner Hütte sitzen und mir erbärmlich vorkommen. Nein, lass mal.« Rowan seufzte und setzte sich neben sie.

Hat er es für mich getan?, fragte sich Rena. Oder hat er mich nur herausgeschmuggelt, um seinem alten Feind eins auszuwischen?

Geh vor der Blattfresserin weg! – Nein. Sie spielte sich die Worte immer wieder aus dem Gedächtnis vor, kostete ihren Klang aus und die Gefühle, die sie in ihr hervorriefen. Feige war Rowan eindeutig nicht. Aber vielleicht musste man vor ihm Angst haben. Auf seine Art war er gefährlicher als Alix, denn sie kannte das Feuer der Wut in sich besser und wusste, wie sie damit umzugehen hatte.

»Willst du nicht doch mitkommen?«, fragte Rena und wunderte sich darüber, dass sie ihn dennoch nicht fürchtete. »Auf die Reise, meine ich?«

Rowan schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich werde dich bis Eolus begleiten. In Dar Bredin kann ich mich erstmal nicht mehr sehen lassen.« Er seufzte. »Seltsam, es macht mir wenig aus. Vielleicht hast du recht – ich passe nicht in dieses Dorf, vielleicht nicht einmal in diese Gilde. Ich habe es satt, so tun zu müssen, als würde ich dazugehören. Aber wie hast du das gemerkt?«

Verlegen knickte Rena einen Grashalm zwischen den Fingern und versuchte ihre Freude zu verbergen. »Ich glaube, weil ich das Gefühl kenne.«

Sie lächelten sich an, einen wunderbaren Atemzug lang, dann noch einen.

Dann stand Rowan abrupt auf. »Besser, wir machen uns wieder auf den Weg.«

* * *

Selten war Rena so rasch gewandert – Rowan machte sich offensichtlich Sorgen, dass die Sklavenhändler aus dem Dorf ihnen folgen würden. Doch zunächst sahen und hörten sie niemanden.

Am Nachmittag zogen dunkle Wolken auf. »Sieht nach Regen aus«, sagte Rena mit einem Blick zum Himmel. »Nicht gut. Wenn wir völlig durchweicht sind, wird es ein ungemütliches Nachtlager.«

»Stimmt, das muss nicht sein«, sagte Rowan, und erstaunt sah Rena, dass er lächelte. Dieses Lächeln veränderte sein ganzes Gesicht, gab ihm einen rauen Charme. Auf einmal fiel es ihr schwer, wegzusehen.

Ihr Begleiter blickte hoch und murmelte eine Formel, Rena merkte, dass er sich konzentrierte. Von einem Moment auf den anderen kam Wind auf. Staunend sah sie, wie die Wolken zur Seite wichen, nach rechts und links davonstrebten und blauem Himmel Platz machten – mindestens so blau wie Rowans Augen. Sonnenlicht überflutete Renas Gesicht, und sie genoss die Wärme auf ihrer Haut.

»Danke«, sagte sie und strahlte Rowan an. »Das ist toll. Ich habe mir zwar schon gedacht, dass eure Gilde so etwas kann, aber ich habe es noch nie erlebt.«

»Manchmal forme ich Wolken einfach zum Spaß, aber diesmal hatte ich auch keine Lust auf Regen«, meinte Rowan und zuckte die Schultern. Doch sie sah, dass es ihm gefiel, sie beeindruckt zu haben.

Was ihr Onkel wohl dazu gesagt hätte, dass sie allein mit einem jungen Mann reiste? Nichts Gutes wahrscheinlich. Rowan wird nicht versuchen, es auszunutzen, dass wir allein sind, sagte sich Rena und versuchte die winzigen, nagenden Zweifel beiseitezuschieben. Bei diesem Kampf mit seinen Reisegefährten war er auf unserer Seite, oder etwa nicht?

Die Sonne sank immer tiefer, und Rena spürte, dass sie nicht mehr viel weiter gehen konnte – nach dem, was an diesem Tag geschehen war, war sie völlig erschöpft. Aber sie mussten weiter, und Rena zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Ab und zu wandte sich Rowan, der vorausging, nach ihr um. Diesmal entschied er nach einem einzigen Blick: »Wir lagern.«

»Aber was ist, wenn wir verfolgt werden?«

»Wenn wir keine Rast machen und völlig übermüdet sind, erwischen Moogs Leute uns umso leichter.« Schon begann Rowan einen Ort für ihr Nachtlager auszukundschaften. Was er fand war ein Pfad, der in einer kleinen Lichtung endete, nur zehn Schritt im Durchmesser. Dort ließen sie sich nieder, und kramten Proviant heraus: Käse, Brot, getrocknete Pilze, Dörrfleisch. Rena musste sich zusammenreißen, um nicht gierig über das Essen herzufallen – außer über das Dörrfleisch natürlich.

»Ich weiß absolut nichts über dich«, sagte Rowan, während Rena sich Kräuter und Salz auf einen Pilz streute und ihn in einem Bissen verschlang. Sein Blick war neugierig, forschend. »Wer bist du? Erzähl.«

Verlegen schluckte Rena ihren zweiten Pilz hinunter und begann zu berichten – von ihrer Lehre zur Holzmeisterin, davon, was der Weiße Wald ihr bedeutete, von der Gildenfehde, in die sie hineingeraten war und wie sie und Alix sich zusammengeschlossen hatten. Nur den Zwischenfall mit der Felsenburg und der Quelle ließ sie aus – noch kannte sie ihn kaum, nicht einmal Alix hatte sie davon erzählt. Stattdessen blickte sie ihn herausfordernd an. »Und wer bist du , Rowan ke Nerada?«

»Das versuche ich immer noch herauszufinden«, sagte er. Dann versank er eine Weile in Gedanken, und Rena ahnte, dass er an sein altes Leben dachte. Bis auf seine Ausrüstung, seine Armbrust und den Pfadfinder hatte er nichts daraus in seine ungewisse Zukunft hinüberretten können.

Er saß keine Armlänge von ihr entfernt, sie konnte die feinen hellen Haare auf seinen Armen sehen. Sie stellte sich vor, wie es sich anfühlte, wenn man mit der Hand darüberfuhr. Ob sie so weich waren, wie sie aussahen?

Rowan sprach weiter. »Ich war mal in Versuchung, beim Sklavenhandel mitzumachen … einmal, als meine Familie kaum noch etwas zu essen hatte und wir den Ortsvorsteher darum bitten mussten …«

Sie redeten und diskutierten, bis der weiße Vogel aufgeplustert wie eine Federkugel auf Rowans Schulter einschlief. Bevor Rena es sich versah, stand der dritte Mond am Himmel und sie war kurz davor, es Rowans Pfadfinder nachzumachen, ihre Augenlider sanken mit unwiderstehlicher Macht nach unten.

»Du wirkst so energiegeladen wie ein Dhatla, das seit drei Tagen tot ist«, zog Rowan sie auf, kramte zwei dünne Decken aus seinem Gepäck und gab ihr eine davon.

»Danke, ich liebe solche Komplimente.« Rena nahm den Stoff, der sich seidig anfühlte, und breitete ihn am Rand der Lichtung aus.

»Ich habe ein Stück weiter eine Taufalle gesehen, eine dieser Kannenpflanzen, die mitten im Gras wachsen – vielleicht bekomme ich aus der ein bisschen Wasser raus«, meinte Rowan, nahm seine Trinkflasche und stand auf. »Bis gleich.«

Noch war Rena zu unruhig, um sich in ihre Decke zu rollen, stattdessen beobachtete sie zwei rot-schwarz gemusterte Käfer, die auf den Grashalmen herumkletterten. Die beiden waren immerhin so groß wie ihre Hand – hoffentlich würden diese beiden heute Nacht darauf verzichten, über ihr Gesicht zu krabbeln!

»Keine Sorge, die sind harmlos«, ertönte eine Stimme ganz nah hinter ihr, und Rena zuckte heftig zusammen. Lautlos war ihr junger Begleiter zurückgekommen. Betroffen darüber, dass sie sich so erschrocken hatte, ging er ein paar Schritte rückwärts.

»Tut mir leid«, sagte Rowan, und auf einmal klang seine Stimme förmlich. »Du … ich weiß, es ist nicht ganz leicht für dich, mit … Ach, verdammt.« Er blickte zur Seite. »Zweihundert Schritt weiter gibt’s noch einen toten Gang, ich übernachte dort. Du kannst den hier haben.« Schon hatte er seine Sachen zusammengerafft und ging los.

»Warte, es ist nicht …«, versuchte Rena zu sagen, doch er war schon weg.