Eolus

» Hast du eine große, rothaarige Frau der Feuergilde gesehen, tanu ?«, fragte Rowan. »Draußen im Gras, oder hier in der Stadt?«

Der fremde Händler, einer von vielen in Eolus, spuckte auf den Boden und betrachtete Rena an Rowans Seite misstrauisch. »Eine verdammte Brandstifterin suchst du? Warum suchst du so eine verdammte Brandstifterin?«

»Äh, sie … schuldet mir Geld«, sagte Rowan.

»Ach so! Nein, so eine Hexe habe ich nicht gesehen. Ich glaube nicht, dass sie in Eolus ist, ich hätte bestimmt davon gehört. Das Gras wird sie gefressen haben. Kannste abschreiben, das Geld.«

Als der Händler zwischen den Hütten verschwunden war, lehnte sich Rena niedergeschlagen an die Stützen eines Windrads und ließ den Kopf hängen. »Das ist jetzt schon der zehnte Kerl, den wir gefragt haben, und niemand hat sie gesehen, niemand weiß etwas von ihr.«

»In Eolus ist sie jedenfalls nicht, das hätte sich herumgesprochen«, meinte Rowan. »Vielleicht ist sie in irgendeiner anderen Stadt oder einem Dorf angekommen. Der Weg hierher ist nicht leicht zu finden.«

Rena wusste, dass Rowan sie trösten wollte, und versuchte zu lächeln. »Sie wird herkommen. Ich weiß es. Wir haben Eolus als Treffpunkt ausgemacht, und sie wird alles versuchen, um herzukommen.«

»Ewig kannst du nicht auf sie warten«, wandte Rowan ein. »Eine Woche sollten wir ihr geben, aber nicht mehr. Ich kann nicht hierbleiben, schließlich muss ich mir einen neuen Lebensunterhalt suchen. Vielleicht schließe ich mich einer Handelsexpedition an, mal sehen.«

Anscheinend hatte er noch immer nicht vor, sie auf ihrer Reise zu begleiten. Aber warum sollte er auch, wenn er nicht daran glaubte?

»Ich werde heute noch versuchen, eine Audienz beim Gildenrat zu bekommen. Danach sehen wir weiter.« Rena wollte ihm nicht sagen, dass sie auf jeden Fall auf Alix warten würde, auch wenn es länger als eine Woche dauern mochte, bis sie in Eolus auftauchte. Irgendwie musste sie Rowan daran hindern, schon vorher allein weiterzureisen. Sie wollte ihn auf ihrer Friedensmission dabei haben, ihn und niemand anders!

Als sie nach einer Woche der Flucht erschöpft und übernächtigt in Eolus eingetroffen waren, hatte ein trockener, heißer Wind die Halme des Grasmeers gebogen. Auch jetzt blies dieser Wind, und Renas Mund fühlte sich völlig ausgedörrt an. Ihre Wasserreserve war knapp geworden, da Rowan ja nicht damit gerechnet hatte, dass sie zu zweit reisen würden. Trotz der einen oder anderen halbvollen Kannenpflanze, die sie anzapfen konnten, hatten sie einen Tag lang fast ohne Flüssigkeit auskommen müssen. Hier in Eolus mussten sie dringend frisches Wasser kaufen. Trotzdem waren es glückliche Tage gewesen, Tage voller Zärtlichkeit.

Am Ortseingang saß eine alte Bettlerin, in eine staubige Kutte gehüllt, und bat die Vorbeigehenden um Wasser. Rowan drehte entschuldigend seine leere Lederflasche um, und die Alte nickte. Rena gönnte der Bettlerin keinen Blick, denn gerade in diesem Moment bog eine Abteilung von etwa zwanzig Soldaten in der schwarz-silbernen Uniform der Regentin in die Straße ein und bewegte sich in Keilformation vorwärts. Rena packte ihren Freund am Arm und zog ihn in eine Seitengasse.

»Hier ist’s also auch nicht besser als in Alaak. Kann sie denn niemand aufhalten?«, knurrte Rowan, als sie davon hasteten. »So, jetzt werde ich mal bei meinen Gildenbrüdern um Quartier bitten.«

»Leben hier auch Leute meiner Gilde?«, fragte Rena eingeschüchtert, doch sie wusste schon, wie die Antwort lauten würde. Man konnte sich hier nicht eingraben – schon in wenigen Fingerlängen Tiefe sickerte einem Sumpfwasser entgegen – und es gab keine Bäume mit essbaren Blättern. Sie seufzte. »Na ja, dann werde ich auf einem der Sackgassenpfade im Grasmeer schlafen müssen. Mein Geld ist weg, alles in Dar Bredin geblieben, ein Gasthaus kommt also nicht in Frage.«

»Blödsinn, du kommst mit«, sagte Rowan. »Wenn du dein Amulett wegsteckst, sieht dir keiner an, dass du zu den lichtscheuen Gesellen gehörst.«

Lichtscheue Gesellen? Rena war verblüfft. Meinte er damit etwa die Erdgilde?

Es klappte so, wie Rowan es geplant hatte, und nachdem sie frisches Wasser gekauft und sich sattgetrunken hatten, nahmen sie Quartier in einer Hütte, in der ein älteres Luftgildenpaar wohnte. Geschichtenerzähler, die sich zur Ruhe gesetzt hatten. Rowans Pfadfinder machte es sich auf dem Dach bequem, einem rohgeflochtenen Gitter, das Sonne und Luft durchließ, Rena und Rowan bekamen Räume im Inneren.

Zum ersten Mal seit zwei Wochen konnte Rena wieder in einen Spiegel schauen – auch wenn die Geschichtenerzähler nur ein poliertes Stück Metall hatten. Fast wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Ihr Haar stand in allen Richtungen zu Berge und sah aus wie altes Stroh, ihre Haut war verbrannt und dreckverkrustet. Außerdem hatte sie den Verdacht, dass sie fürchterlich roch. So hatte Rowan sie also die meiste Zeit über erlebt! Rena stöhnte, wusch sich so gut es ging mit dem wenigen Wasser, das sie bekam – immerhin, sie schaffte es, sich die Haare durchzuspülen! –, und lieh sich eine gute Tunika von ihren Gastgebern.

Als sie in den frischen Sachen in den Hauptraum kam, musterte Rowan, der nun nach Harz und Kräutern duftete, sie von oben bis unten. »Du bist wirklich hübsch, ich hoffe, das weißt du?«

»Äh, danke.« Rena war so verlegen, dass sie ihm kaum in die Augen sehen konnte. »In der letzten Woche war ich das ganz bestimmt nicht. Dieser Matsch bei euch … und zwei Wochen fast ohne Waschwasser …«

Rowan lachte. »Ich sah nicht viel besser aus. Und?«

Da sie bemerkten, dass die Bewohner der Hütte sie neugierig beobachteten, zogen Rowan und sie sich in einen der anderen Räume zurück, um ungestört reden zu können, soweit das bei den dünnen Wänden aus Gras überhaupt ging. Doch Reden war nicht wirklich das erste, das ihnen einfiel. Kaum waren sie allein, versanken sie in einem Kuss, den keiner von ihnen wieder beenden wollte. Rowan zog sie so fest an sich, als wolle er sie nie wieder loslassen. Vielleicht wollte auch er nicht wahrhaben, dass sich ihre Wege schon bald trennen würden. Doch die Tatsachen schienen groß und kantig über ihnen aufzuragen, bereit, beim ersten falschen Wort, bei der ersten falschen Bewegung auf sie herabzustürzen.

»Wann gehst du zum Rat?«, flüsterte Rowan.

»Ich muss auf Alix warten, sie hat den offiziellen Auftrag der Feuergilde«, erklärte Rena. »Und selbst damit ist es ja noch nicht sicher, ob wir überhaupt hineinkommen. Aber ich werde mir die Residenz gleich morgen, wenn der Mond Ellowen aufgegangen ist, mal anschauen gehen. Kommst du mit?«

Rowan schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist deine Reise. Erzähl mir später, was du erreicht hast.«

Enttäuscht sah Rena weg. Ich darf nicht zu viel von ihm erwarten, dachte sie. Er hat keinen Grund, vermitteln zu gehen, ebenso wenig wie Alix. Ihn verfolgt nicht die Erinnerung an ein zerstörtes Dorf, an niedergetrampelte Pflanzen und verzweifelte Menschen. Hatte er sie gern genug, um ihretwegen mitzureisen? Das würde sie ihn niemals fragen, so viel war ihr klar.

»Aber ich werde dir alles sagen, was ich über den Rat weiß«, sagte Rowan. Er ließ sich im Schneidersitz auf den kratzigen Grasmatten nieder, den langen sehnigen Körper zusammengefaltet, und stützte das Kinn auf die Hände. »Vielleicht hilft es dir irgendwie weiter. Wie bist du denn überhaupt bei den Brandstiftern reingekommen?«

»Durch Alix, sie ist eine Meisterin vierten Grades. Sie hat selbst gefragt.«

»So etwas kann ich dir sowieso nicht bieten. Ich bin gerade erst Meister geworden und nur ein kleiner Windhauch in meiner Gilde …«

Rena nickte und setzte sich ihm gegenüber. Er sah sie nicht an, sondern zog eine Grasmatte aus dem Weg und begann, in den Sand darunter Linien zu zeichnen. Abwesend strich er sich mit der anderen Hand durch seine frisch gewaschenen hellblonden Haare, auf denen Sonnenflecken tanzten. »Hier ist die Residenz des Gildenrats, in der Mitte von Eolus. Es ist der höchste Punkt des ganzen Grasmeers, sie haben den Sand von weither gebracht und aufgeschüttet.«

Sollte nicht allzu schwer sein, sich da durchzugraben, dachte Rena und stellte es sich vor: Plötzlich fängt es unter dem Boden des Gildensaals an zu rumoren, eine der Bodenplatten bewegt sich, und unter den großen Augen des Rats steigt ein Mädchen heraus, klopft sich betont locker die Sandkörner ab und sagt: »Seid gegrüßt, Freunde.«

»Von unten kommt man nicht rein, sie haben schwere Gitter in den Boden eingezogen«, sagte Rowan, als habe er ihre Gedanken erahnt. »Von oben geht’s auch schlecht, dafür sorgt der zahme Eolan. Und siehst du, überall sind bewaffnete Wachen postiert, hier und hier und hier. Es gibt zwei Eingangstore, im Westen und Osten. Der Eolan wacht außerdem rund um die Residenz.«

»Ein Eolan? Ist das ein Tier? Gefährlich?«

»Gefährlich, ja. Aber kein Tier, sondern eine Art Wind.«

Rena starrte ihn an. »Wie kann denn ein Wind zahm sein?«

»Eigentlich ist er nicht besonders zahm. Sie können ihn mit den Geheimformeln kontrollieren. Sonst würde er den Palast in einem Atemzug in Stücke reißen, der besteht ja auch nur aus geflochtenem Gras«, erklärte Rowan. »So begnügt er sich damit, ungebetene Besucher ins Grasmeer hinauszuschleudern, damit sie dort versinken.«

»Oh«, sagte Rena betroffen. »Das habe ich nicht gewusst.«

Er winkte ab. »Wie solltest du auch, du bist ja keine von uns.« In Gedanken versunken griff er nach dem Lederschlauch, trank noch ein paar Schlucke. »Der eigentliche Rat besteht aus den drei Meistern fünften Grades. Ich habe sie natürlich nie gesehen, aber man redet über sie. Eigentlich sollten sie alle den gleichen Rang haben, aber Setahaya genießt den größten Respekt. Sie ist schon sehr alt, hundertzwanzig Winter, und man sagt, dass sie schon halb in einer anderen Wirklichkeit ist.«

»Und die beiden anderen?«

»Avius versucht seit langem, sie zum Abdanken zu bringen«, berichtete Rowan und zeichnete abwesend die weitere Umgebung des Palasts in den Sand. »Aber sie ist zu beliebt bei den Leuten, und sein Ehrgeiz macht vielen Angst. Ich glaube, er würde sogar seinen Pfadfinder verkaufen, wenn der Preis stimmt.« Auf dem Dach über ihnen raschelte es, anscheinend hüpfte Rowans Pfadfinder empört auf und ab. Kurz blickte Rowan hoch, dann fuhr er fort: »Eigentlich braucht er ihn ja auch nicht mehr, er geht sicher nicht mehr allzu oft raus ins Gras. Na ja, egal. Jedenfalls hat er die beiden anderen dazu gebracht, vor der Regentin zu kuschen. Der dritte, Terek, hat noch nicht viel Einfluss im Rat. Er ist ziemlich neu, aber angeblich sehr intelligent.«

»Gibt es eine ständige Garnison der Regentin hier?« Rena wusste, dass jedes Detail wichtig sein würde.

»Normalerweise sind keine Truppen hier stationiert, nur einige Abgesandte der Regentin, ihre Diener und ihre Leibgarde. Aber was wir heute gesehen haben …« Er hob den Kopf und sah sie an. Wieder dieser Blick, so wie damals am Lagerfeuer. Dir darf nichts passieren. Die Muskeln seines Gesichts waren angespannt. »Sei bloß vorsichtig bei dieser ganzen Angelegenheit. Mit dem Rat ist nicht zu spaßen, besonders nicht mit Avius, und wie die Regentin mit Feinden umgeht, weißt du selber.« Er nahm ihre Hand, verwob seine Finger mit ihren, hielt sie fest.

Rena lächelte ihn an und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. »Ich werde vorsichtig sein. Und was hast du vor?«

»Wahrscheinlich werde ich versuchen, mich einem Händlertrupp anzuschließen, der nach Süden zieht, so weit weg wie es geht. Vielleicht nehme ich Toleno als neue Basis, das ist eine schöne Stadt.«

Weit weg im Süden. Das tat weh. »Als was, als Händler?«, fragte Rena gepresst.

»Als was sonst?« Rowan hob die Hände. »Ich kann nichts anderes.«

Plötzlich hatte Rena genug. Sie sprang auf und stellte sich vor ihn. »Jetzt hast du die Chance auf einen neuen Anfang. Du kannst sein, was und wer du willst! Oder hast du etwa Angst davor?«

An seinen zusammengekniffenen Lippen merkte sie, wie das bei ihm ankam. »Ich habe keine Angst vor Neuem. Im Gegenteil. Es gibt reichlich Leute, die mich mögen, und jede Menge andere, die mich schwierig nennen. Einen Rebellen.«

»Das mag ja sein«, sagte Rena. »Aber gegen deine Vorurteile hast du noch nicht rebelliert.«

Ein bitterer Geschmack schien auf ihrer Zunge zu liegen. Die Kehle wurde ihr eng, wenn sie daran dachte, dass sie vielleicht beide verlieren würde – vielleicht schon verloren hatte: Alix und Rowan. Wieder spürte sie ihre Augen feucht werden und ärgerte sich darüber. Doch in ihr hatten sich die Tränen aufgestaut, die Tränen, die sie zurückgehalten hatte, weil sie genug mit Überleben zu tun gehabt hatte. Jetzt waren ihre Nerven so dünn wie abgenagte Zweige. Sie konnte nicht mehr.

Rowan schien etwas sagen zu wollen, doch dann sah er ihr Gesicht. Betroffen blickte er sie an. Er hob die Hand und legte sie langsam auf ihre Wange. Seine Berührung war so leicht, als sei es die weiche weiße Schwinge des Pfadfinders, die nach ihr tastete. Was die Gefahr und das Unglück nicht geschafft hatte – sie zum Weinen zu bringen – das schaffte Rowan durch die einfache Geste. Rena ließ den Kopf sinken und spürte die Tränen über ihr Gesicht rinnen. Seine Arme schlossen sich fest um sie.

»Du hast eine Menge mitgemacht auf dieser Reise, was?«, sagte Rowan leise.

»Eigentlich war nichts davon wirklich schlimm, aber alles zusammen …«, gab Rena zu. »Ich weiß nicht, wie Alix das immer schafft.«

»Diese Alix«, sagte Rowan. Plötzlich hörte sie wieder die Anspannung in seiner Stimme wie das Vibrieren eines gespannten Drahtes. Rena erschrak. Was suchte dieser Klang in diesem Moment? »Alix hier, Alix da. Vielleicht musst du dich erst von ihr lösen, um wirklich erwachsen zu werden.«

»Du kennst sie doch gar nicht«, sagte Rena. Sie spürte, wie die Wut in ihr aufstieg, halb Zorn, halb Enttäuschung. »Mich kennst du auch nicht – nicht wirklich. Wie kannst du das sagen? Sie hat mich doch erst zu einer Erwachsenen gemacht.«

Seine Hände wurden schlaff und leblos und glitten von ihr ab.

»Da hast du sicher recht«, sagte Rowan steif. »Ich kenne dich nicht wirklich. Aber eins weiß ich: Du hast auch Angst davor, die zu sein, die du sein willst. Also wirf mir nicht vor, dass ich aus meiner Haut nicht herauskann.«

Er ließ sie los und ging mit schnellen Schritten hinaus. Kurz hörte sie noch das Schaben seiner bloßen Füße auf den Grasmatten, dann wurde es überlagert vom immerwährenden Surren der Windräder und dem leisen Gemurmel der beiden alten Geschichtenerzähler im anderen Raum.