A ls die Sonne aufging, wusch sich Rena die Tränenspuren aus dem Gesicht, schlich aus der Grashütte der Geschichtenerzähler und machte sich auf den Weg zur Residenz des Gildenrats. Die Bettlerin saß schon an ihrem Platz und hielt die Hände auf, als sie Rena vorbeigehen sah. Geistesabwesend kippte ihr Rena aus ihrer Feldflasche ein paar Schluck Wasser in die Handflächen und ging weiter.
Rena war noch nie in einer so großen Stadt wie Eolus gewesen, hier gab es sicher dreißigtausend Vollmenschen und zwei oder drei Storchenmensch-Kolonien. Die Straßen waren nicht sehr belebt, erst in Richtung des Hauptplatzes begann es von Händlern zu wimmeln. Auf einigen Schultern sah sie die zierlichen Körper von Pfadfinder-Vögeln; in allen Farben und Formen schien es sie zu geben, sand- und zimtfarben, schwarz und rötlichbraun. Nur den einen weißen, nach dem sie Ausschau hielt, sah sie nicht.
Neugierig schob sich Rena durch die Menge. Sie konnte sich auf dem Weg zur Residenz gar nicht verirren – sie brauchte nur den Kopf zu heben, und da war die Burg aus Gras und Sand, sie schien über den Dächern von Eolus zu thronen. Am Fuß des Hügels, am äußeren Tor, standen bewaffnete Wachen.
Einen Versuch ist es wert, dachte Rena und ging direkt auf das Tor zu. Auf den wenigen Armlängen Weg, die blieben, versuchte sie ihre ganze Würde zu sammeln und wie eine schimmernde Rüstung um sich zu legen. Ich bin kein Niemand, sprach sie sich lautlos immer wieder vor. Ich habe eine wichtige Mission. Wenn sie wenigstens ein offizielles Schriftstück hätte, irgendeines, das sie vorweisen könnte! Doch nicht einmal Alix hatte so etwas mitbekommen.
Rena ging auf das Tor zu, das kunstvoll aus Gras geflochten war wie der ganze Palast. Eine Hand und ein Flügel, die Zeichen der Luftgilde, waren hineingewoben.
»Na, junge Dame? Was wollt Ihr?«, fragte der eine Wachmann und sah auf sie herab. Er hatte ein schmales, von Runzeln durchfurchtes Gesicht und tiefliegende, blassblaue Augen. Auf seiner Uniform waren drei Federn eingraviert, sicher das Zeichen für einen Offiziersrang. Auf seinem Namensschild stand Okam. Er ging gebeugt, seine Jugend lag schon lange hinter ihm, aber er strahlte Autorität aus.
»Wie stellt man es an, eine Audienz beim Rat zu bekommen?«, fragte Rena.
»In wessen Namen verlangt Ihr Einlass?«
»Meine Reisegefährtin ist im offiziellen Auftrag der Feuergilde hier. Unsere Mission ist, den Frieden zu verhandeln.«
»Euer Name?«
»Rena ke Alaak und Alix ke Tassos.«
»Ich glaube kaum, dass der Rat Euch sehen möchte«, sagte der Offizier, und einen Moment lang lag etwas Spöttisches in seinen melancholischen blauen Augen. »Müsst Ihr nicht zu Eurem Meister zurück, junge Dame?«
Rena antwortete mit einem steinernen Blick. War sie dafür die vielen Tagesreisen gekommen? Das fing ja katastrophal an!
Ach was, das ist sowieso nur ein erster Versuch gewesen, tröstete sie sich, als sie sich umdrehte und ging. Wenn sie mit Alix wiederkam, würde sie mehr Glück haben – wenn Alix noch lebte und es nach Eolus schaffte!
Rena suchte sich einen Punkt ein Stück vom Palasteingang entfernt, wo sie die Wachen nicht sehen konnten, und setzte sich mit gekreuzten Beinen in den Sand. Geduldig beobachtete sie, was die Wachen den ganzen Tag taten, wie oft sie um den Palast patrouillierten und wann sie abgelöst wurden. Doch neue Pläne wollten ihr nicht einfallen, ihr Kopf schien wie ausgetrocknet von dem Sand und dem Wind, er wollte keine brauchbare Idee hervorbringen, wie sie in diesen Palast hineinkommen sollte. Wie sollte das klappen, wenn ihr nicht einmal jemand zuhörte? Vielleicht sollten sie eine schriftliche Botschaft schicken und abwarten, ob einer der Räte anbiss und Interesse zeigte? Nein, das würde nicht gelingen. Sie musste es mit einem Trick versuchen. Aber sie durfte sich auch nicht einfach so in die Residenz hineinschmuggeln – wer verhandelte schon mit einer Einbrecherin?
Gedankenversunken wanderte sie schließlich zwischen den Grashütten zurück. In der Mittagshitze war kaum noch jemand auf den Straßen. Abwesend bemerkte sie, dass sie schon wieder bei der Bettlerin angekommen war, die immer noch an der gleichen Stelle saß. Rena wollte an ihr vorbeigehen, doch da schoss ein schlankes gebräuntes Bein unter der Kutte hervor. Ehe Rena es sich versah, lag sie mit dem Gesicht im Staub, einem hellen, pudrigen Staub, der ihr die Nasenflügel verklebte und ihr die Luft nahm.
»Wurzelfäule und Blattfraß!«, schrie Rena und sprang wieder auf die Füße.
Die Gestalt kicherte. »Ich wusste gar nicht, dass du so gut fluchen kannst. Nur die Ruhe. Ich bin’s.«
Renas Wut verflog, und eine wilde Freude stieg in ihr auf. Wie war es möglich, dass sie die ganze Zeit an Alix vorbeigelaufen war, ohne etwas zu ahnen? Sie hätte es spüren müssen, dass die Schmiedin in der Nähe war! Doch das braune Tuch verbarg Gesicht und Haare fast völlig, und sie saß so zusammengesunken da, dass man nicht erkennen konnte, wie groß ihr Körper eigentlich war. »Du bist also nicht im Sumpf versunken! Beim Erdgeist, ich habe mir schon Sorg…«
»Nicht so laut, es muss nicht jeder wissen, dass ich hier bin«, sagte Alix’ vertraute Stimme. »Sie mögen das Feuer nicht in dieser Gegend. Geh jetzt weiter, schnell, bevor jemand kommt. Wir treffen uns bei dir.«
»Weißt du, wo ich …?«
»Natürlich.«
Als Rena im Haus der Geschichtenerzähler angekommen war, schaute sie als erstes in die Ecke des Zimmers, wo Rowan seinen sandfarbenen Umhang gelassen hatte, als er hinausgerannt war. Das Ding lag genauso da wie zuvor. Rena atmete leichter. Einen Moment lang hatte sie Angst gehabt, dass Rowan ohne Abschied weitergezogen war. Doch er schien noch in der Stadt zu sein. Würde er zurückkommen, um seinen Umhang zu holen?
Sie setzte sich auf die Grasmatten und wartete auf Alix. Es dauerte keine zehn Atemzüge, bis sie Schritte hörte, dann schlurfte die Bettlerin hinein. Sobald sie die Schwelle des Zimmers überschritten hatte, veränderte sich ihr Gang, wurde wieder der einer Schwertkämpferin, und als sie die Kapuze zurückwarf, quoll Alix’ kupferfarbenes Haar darunter hervor, etwas stumpf vom Staub der Siedlung.
»Ich habe gedacht, ich würde dich nie wiedersehen«, sagte Rena und war auf einmal wieder den Tränen nahe.
»So leicht wirst du mich nicht los«, erwiderte Alix mit ihrem alten Draufgängergrinsen, und sie umarmten sich. Es ist das erste Mal, dass wir das tun, fiel es Rena auf. Anscheinend muss immer erst eine größere Katastrophe eintreten, um uns in unserer Freundschaft einen Schritt weiterzubringen!
Alix ließ sie los und setzte sich auf den Boden. »Ich habe mich irgendwie durchgeschlagen, frag mich nicht, wie. Drei Tage lang musste ich ohne Wasser auskommen. Bin froh, dass du’s auch geschafft hast. Wo warst du denn plötzlich, verdammt? Ich habe mir Sorgen gemacht!«
Nachdem sie sich erzählt hatten, was sie auf dem Weg nach Eolus erlebt hatten, richtete Alix ihren Blick auf die Ecke des Zimmers und den Umhang, der dort lag. »Wo ist eigentlich der Windhund geblieben, der Kerl, mit dem du durch die Gassen gezogen bist?«
Sofort sank Renas Stimmung wieder. »Erinnerst du dich an ihn – den Blonden damals bei deinem Kampf mit den Händlern?«
Alix nickte, ihre Miene war undurchdringlich. »Ich habe ihn erkannt. Er hat nicht gegen uns gekämpft damals.«
»Wir brauchen ihn. Wir brauchen jemanden von der Luftgilde, und am besten noch jemanden von den Wasserleuten. Nur wenn wir gemeinsam auftreten, haben wir bei den Räten eine Chance.«
»Uargh«, sagte Alix. »Das ist nicht dein Ernst. Feuer und Wasser. Das ist eine Zumutung!«
»Du vermutest immer gleich das Schlimmste. Rowan ist zwar von der Luftgilde, aber er ist auch sehr nett.«
»Das glaube ich dir. Verliebt?«
Rena nickte schweigend, und Alix lächelte. Wahrscheinlich ahnte sie, was zwischen Rowan und Rena geschehen war in dieser letzten Woche.
»Na gut, von mir aus kann er mit«, sagte Alix. »Aber wird er überhaupt mit uns kommen wollen – vor allem auch mit mir?«
»Ich muss ihn noch überreden, und das wird nicht leicht«, gestand Rena. »Aber unsere Aufgabe ist erst einmal, in den Palast hineinzukommen. Wenn die Feuergilde hier wirklich nicht beliebt ist, dann steht es in den Sternen, ob wir das selbst mit deinem offiziellen Auftrag schaffen. Hast du schon eine Idee?«
Die roten Strähnen ihrer Haare ringelten sich über Alix’ Schultern und tanzten im Luftzug, der durch die grobporigen Wände drang. »Wir könnten die Wachen ablenken, indem wir im Palast ein wenig zündeln.« Alix’ schräge grüne Augen blickten nachdenklich. »Ich glaube nicht, dass die hier wirklich dagegen gerüstet sind. Aber wir würden eine Menge riskieren. Ich kann Feuer zwar kontrollieren, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Je größer die Flamme ist, desto mächtiger ist ihr Wille zu fressen, zu verzehren, und dann kann ich auch nichts mehr ausrichten. Wir könnten es höchstens mit Kaltem Feuer versuchen.«
»Der Gedanke gefällt mir nicht«, sagte Rena beunruhigt. »Wir sind keine Krieger mehr. Wenn wir Gewalt anwenden, verlieren wir jede Glaubwürdigkeit. Nein, wir müssen einen Weg finden, den Rat so neugierig auf uns zu machen, dass er uns von selbst einlädt.«
Alix hob warnend eine Hand. Ihr Gesicht spannte sich. Sie deutete auf ihre Ohren, dann auf die Wände der Hütte. Jemand belauschte sie!
Sie wussten beide, was das bedeutete. Wenn jemand Alix’ Worte gehört hatte und sie weitergab, dann wartete eine furchtbare Strafe auf sie.
Ein, zwei Atemzüge lang saßen sie sich gegenüber und sahen sich einfach nur an, jeden Muskel angespannt, dann sprang Alix auf, das Schwert in der Hand. Rena blieb, wo sie war, sie konnte sich nicht bewegen. Ihr Magen war nur noch ein schwerer Klumpen in ihrem Inneren. Der Gedanke, wieder in die Falle gegangen zu sein, war schwer zu ertragen.
Es gab ein kurzes reißendes Geräusch, und sie sahen Klingen, die die Graswände blitzschnell von oben bis unten aufschlitzten. Halme und Grasfetzen flogen durch die Luft, und Rena kauerte sich erschrocken in der Mitte der Hütte zusammen. Schon drängten sich uniformierte Körper durch die Öffnungen, und in wenigen Momenten waren sie von einem Dutzend Soldaten mit den Insignien der Luftgilde umringt. Von dem Graszimmer war nicht mehr viel übrig als ein paar zerfetzte Halme.
Alix hatte wohl erkannt, dass jede Verteidigung aussichtslos war, denn sie versuchte nicht, sich zu wehren. Mit einem schnellen Ruck rammte sie ihr Schwert in den Boden und hob die Hände. »Nur ruhig, Jungs. Wir haben nichts getan.«
Eine Stimme hinter Rena sagte: »Ah, die junge Dame.« Als sie sich umdrehte, erkannte sie den Offizier mit dem zerfurchten Gesicht und den blassblauen Augen, der sie am Tor des Palasts abgewiesen hatte. Er blickte sie nachdenklich an. »Bitte entschuldigt die Unannehmlichkeiten. Aber es ist nie verkehrt, solchen Dingen auf den Grund zu gehen.«
Alix hob fragend die Brauen, aber in Renas Kopf jagten sich beunruhigende Gedanken. Wie viel von dem, was Alix und sie gerade besprochen hatten, hatte er gehört? Rena versuchte, in den Augen des Offiziers zu lesen, doch sie gaben nichts preis. Sie entschied sich, auf Nummer sicher zu gehen und erst einmal Protest einzulegen. »Behandelt Ihr Durchreisende immer so?«
»Nur, wenn sie düstere Pläne haben«, erwiderte Okam. »Der Rat mag Spitzel nicht.«
»Wir sind keine Spitzel«, widersprach Rena heftig.
»Mag sein. Echte Agenten sind nicht so unvorsichtig. Aber das könnt ihr in den Kerkern des Palasts beweisen.«
Alix begann plötzlich zu grinsen. Ungläubig sah Rena sie an, doch dann begriff sie. Es sah fast so aus, als hätten sie ihr erstes Ziel erreicht. Sie hatten es nicht mehr nötig, in den Palast einzudringen – man brachte sie hinein.
Jetzt konnte sie nur hoffen, dass sie das auch überlebten.
Es war vollkommen dunkel in der kleinen Zelle. Rena machte das nicht viel aus, ihre Augen passten sich an. Sie tastete die Wände ab und versuchte festzustellen, woraus sie bestanden. Eine Wand war eine Gittertür, die anderen waren aus einer Schicht aus geflochtenem Gras angefertigt. Als sie den Finger hindurchsteckte, rieselte ihr Sand entgegen. »Wir sind im Sandfundament des Palasts, glaube ich.«
»Mach kein zu großes Loch, sonst werden wir verschüttet«, warnte Alix. »Es bringt nichts, da kannst du dich nicht durchgraben. Da ist ein Caradiumgitter dahinter, ich kann seine Aura spüren.«
Rena nickte und setzte sich wieder in eine Ecke der Zelle. »Sie werden bald kommen, um uns …«
»Glaubst du, dass der Storch uns verraten hat?« Ein leiser, dunkler Ton schwang in Alix’ Stimme mit. »Falls er es getan hat, dann bringe ich ihn um, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.«
»Nein, Rowan hat nichts getan«, erwiderte Rena hitzig und starrte in die Dunkelheit.
Halb hoffte sie, dass er schon aus der Stadt verschwunden war, denn sonst konnte es sein, dass der Rat auch ihn verhaften ließ. Aber wenn er Eolus verließ, dann würde sie ihn wahrscheinlich nie wiedersehen. Der Gedanke war schrecklich, dass sie sich im Streit getrennt und keine Chance mehr hatten, sich zu versöhnen. Das war fast noch schlimmer als der Abschied selbst. So würde er sie im Gedächtnis behalten.
»Bist du sicher, dass er nicht geredet hat?«, fragte Alix. »Rostfraß und Asche, schließlich habt ihr euch gestritten. Die meisten Männer, die ich kenne, wären danach direkt in die Schänke und hätten sich eine Handvoll Beljas reingeschoben. Vielleicht hat er danach geplaudert.«
»Vielleicht kennst du keine Männer wie ihn.«
»Ich kann dir versichern, dass ich eine ganze Menge Männer kenne, darunter auch einige von seiner Sorte – empfindsam, intelligent, unberechenbar.«
Rena war erstaunt. »Du hast ihn doch nur ein paar Atemzüge lang gesehen, damals am Feuer!«
»Stimmt es oder nicht?«
»Doch, genau so ist er«, gab Rena zu. Ja, unberechenbar war er – konnte diese dumme Bemerkung, die er über die Erdgilde gemacht hatte, ein Warnsignal gewesen sein? Aber so leicht war ihr Vertrauen nicht zu erschüttern. »Selbst wenn er geplaudert hätte, einen Unterschied hätte das nicht gemacht. Der Offizier wusste ja schon von mir selbst, was wir wollen.«
»Oder er kann zum Rat gelaufen sein und …«
»Alix, bitte hör auf.«
Sie schwiegen wieder, aber schon nach wenigen Atemzügen schreckten sie hoch. Jemand kam den Gang entlang in ihre Richtung. Es waren drei bewaffnete Wachen, die Fackeln hielten. Das zuckende Licht erleuchtete den Gang.
Alix bewegte sich zu der Gittertür. »Was wollt ihr?«
»Die Kleine da soll mitkommen«, forderte einer der Männer. »So lautet der Befehl.«
Mit weichen Knien ging Rena zur Tür. Sie spürte Alix’ Hand auf der Schulter. »Viel Glück. Denk daran: Ein Mensch der Feuergilde würde unter der Folter eher sterben als auch nur ein Wort sagen.«
»Leider gehöre ich noch nicht zur Feuergilde«, sagte Rena. »Aber ich habe ja auch nichts zu verbergen.« Ihre Stimme klang im unterirdischen Sandtunnel dünn und kindlich, ihre Worte versickerten ohne Echo.
Hinter sich hörte sie: »Und jetzt du, Feuerfrau«, und den Strom von Flüchen, den Alix von sich gab, als die Wachen auch sie aus der Zelle holten. Aber sie führten die Schmiedin in eine andere Richtung, die Stimmen verklangen schon.
Eine der Wachen ging voran, die anderen nahmen Rena in die Mitte, die Armbrüste geschultert. Sie marschierten über Sandstufen nach oben, zurück zu Licht und Luft. Je höher sie kamen, desto lauter wurde das Heulen des Windes. Das muss der Eolan sein, der den Palast bewacht, dachte Rena, als sie den Kopf hob, um zu lauschen. Er klang nicht wie ein normaler Wind, er fauchte und schrie. Dennoch prasselte kein einziges Sandkorn an die Graswände.
Schließlich standen sie in einem hohen, vollständig leeren Saal, in dessen Wände überall kunstvoll das Flügelmuster geflochten war. Die Wachen zogen sich an die Eingangstüren zurück und ließen sie mitten im Raum stehen. Rena wandte sich um, als sie Schritte näherkommen hörte. Sie erkannte den Offizier Okam. Er lächelte. So schlimm kann es nicht um uns stehen, dachte Rena erleichtert.
Aber als sie näher kam, sah sie, dass Okam nicht wirklich lächelte. Es sah nur so aus, weil seine Züge wie im Krampf verzerrt waren. Rena erschrak über die tiefe Trauer, die sie sah. Einen Augenblick lang vergaß sie, dass sie eine Gefangene und er ihr Wärter war. »Alles in Ordnung mit Euch?«
»Mir kann niemand helfen«, sagte Okam so leise, dass sie sich erst gar nicht sicher war, ob er wirklich gesprochen hatte oder ob sie es sich nur eingebildet hatte. Dann wandte er ihr sein zerfurchtes Gesicht zu, und er war wieder der Mann, der Alix und sie gefangengenommen hatte. Er blickte sie so aufmerksam an, als wolle er in sie hinein lauschen, während er näher an sie herantrat. Sein Gesicht war nur eine Handlänge von Renas entfernt. »Wer möchte, dass Ihr in die Residenz der Gilde gelangt?«
»Es war alles meine Idee.« Rena erzählte kurz von ihrem Plan, die vier Gilden an einen Tisch zu bringen, und von ihrem offiziellen Auftrag. Doch noch während sie sprach, merkte sie, dass es vergeblich war. Okam hörte ihr zu, doch die Worte prallten ab, ohne zu wirken.
»Es gibt einen einfachen Grund, warum ich dir das alles nicht glaube«, sagte der Offizier schließlich und beobachtete sie aufmerksam. Er gab seinen Soldaten ein Zeichen, und sie hoben wachsam ihre Waffen. Ruhig streckte er die Hand aus. Rena erkannte den kleinen Gegenstand in der Handfläche des Offiziers und zuckte zusammen. Sie wusste, dass das dunkle Etwas, das Alix schon so lange auf den Fersen war, sie eingeholt hatte. In Okams Handteller lag ein Amulett. Ein kleines, rundes Stück dunkles Metall, in dem ein Auge eingraviert war. In der Mitte glühte ein roter Edelstein.
»Du kennst es«, sagte der Offizier. Es war keine Frage.
Rena nickte. Sie konnte kaum sprechen, ihr Mund war zu trocken. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie Alix ihr das Amulett gezeigt hatte. Aber das war vor der Audienz beim Rat der Feuergilde gewesen. Dort hatten sie das Ding ausgehändigt. Es musste ein anderes Exemplar sein – ein echtes. Oder Alix hatte noch eins von den Dingern nachgeschmiedet. »Woher habt Ihr das?«
»Das müsstest du doch am besten wissen.«
»Ich schwöre beim Erdgeist, dass ich es nicht weiß!«
»Dein Erdgeist hat hier keine Macht. Du hast es schon einmal gesehen, das leugnest du nicht.«
»Ja, aber ich weiß nicht, was es bedeutet. Wo habt Ihr es her?«
Die tiefliegenden blassblauen Augen schienen sich in Renas Kopf zu bohren. Rena konnte nur versuchen, diesem Blick standzuhalten. »Die Frau des Feuers, die dich begleitet, hat es getragen.«
»Es gehört ihr nicht«, sagte Rena, aber im gleichen Moment kamen ihr Zweifel. Woher hatte Alix das Amulett? Konnte sie es von ihrem Gildenrat zurückbekommen haben? Oder hatte sie sie die ganze Zeit über schrecklich belogen und gehörte sie selbst zu diesem verräterischen Geheimbund? Beim Erdgeist, nein. Einen solchen Verrat traute sie Alix nicht zu. Außerdem gäbe es dann keine Erklärung für diesen Überfall, bei dem sie fast getötet worden wäre.
Okam schnalzte mit der Zunge. »Wieso hast du Angst? Du hast Angst, weil du weißt, dass es ein gefährliches Zeichen ist. Dass diejenigen, die es tragen, einen finsteren Dienst leisten.«
»Was für einen finsteren Dienst?« Rena war aufgeregt. Okam war der erste Mensch, der ihr begegnete, der etwas über das Amulett wusste. »Was wisst ihr über diese Leute? Wir versuchen, mehr über sie herauszufinden, um sie aufzuhalten.«
»Wann haben sie dich angeworben?«
»Niemand hat mich angeworben!«
Rena ahnte nicht, dass das nur der Anfang war. Einen ganzen Sonnenumlauf lang stellte Okam Fragen über Fragen, und Rena konnte nur wenige davon beantworten. Bald fühlte sie sich so erschöpft wie nach einem tagelangen Marsch durch das Grasmeer, aber sie hörte genau zu und merkte sich die Fragen. Mit ihnen verriet der Offizier der Luftgilde mehr, als er eigentlich wollte. Rena reimte sich zusammen, dass die Leute, die das rote Amulett trugen, eine Art Geheimbund waren, der für die Regentin die Gilden auskundschaftete. Doch was dieser Bund genau tat, das schien Okam auch nicht zu wissen. Spione waren die Mitglieder, ja, aber was spionierten sie aus? Waren sie Träger von Nachrichten? Waren sie Attentäter?
Als Okam schließlich seine letzte Frage gestellt hatte, war es sehr still, viel zu still, und Rena ahnte, dass es nicht gut aussah für sie und Alix. »Du wirst dir bald wünschen, du hättest dieses rote Auge nie gesehen«, sagte der Offizier langsam. Einen Moment lang meinte sie, einen Anflug von Mitleid in seinem Gesicht zu sehen. »Das Amulett ist Beweis genug, um euch beide in den Sand einzukerkern – so lange, bis diese Gildenfehden Vergangenheit sind. Wir können kein Risiko eingehen, so lautet meine Anweisung.«
Rena spürte, dass er es ernst meinte. Ihr war schwindelig, und ihr Atem kam in kurzen Stößen, als hätte sie einen Lauf hinter sich. Konnte das sein? Konnte das wirklich sein, dass diese Leute einfach auf Verdacht jemanden lebenslänglich einsperrten? Ja, in Zeiten des Krieges konnte das sehr wohl sein.
»Es hätte schlimmer sein können«, meinte Okam, und Rena ahnte, dass er sie trösten wollte. »Vor nicht allzu vielen Wintern, als der Vater von Avius den Rat führte, wurden Leute wie ihr ohne Wasser im Gras ausgesetzt oder dem Eolan übergeben.«
»Ich möchte einen guten Freund von mir wiedersehen, bevor ihr uns einsperrt«, krächzte Rena. »Bitte.«
»Jemand, der zur Erdgilde gehört? Ich glaube nicht, dass das gehen wird.«
»Nein, er ist einer von euch.«
Okam schien interessiert. »Ihr habt jemand, der für Euch bürgen kann? Jemanden, der zur Luftgilde gehört?«
Rena schöpfte wieder Hoffnung. »Ja, er ist ein Meister ersten Grades. Er heißt …« Sie verstummte. Konnte sie das tun? Woher sollte sie wissen, dass sie Rowan damit nicht in Gefahr brachte?
»Du weißt nicht einmal, wie er heißt?«, sagte Okam ironisch. »Das kann kein besonders guter Freund sein.«
Rena kämpfte mit sich. Sie würde seinen Namen nie preisgeben, wenn sie ihm dadurch schadete. Aber schließlich war dies hier seine Gilde. Es kam darauf an, ob sie von den Kämpfen mit Moog wussten, ob seine Verwandtschaft hier Einfluss hatte. »Woher soll ich wissen, dass ihr ihn nicht verhaftet?«
»Ich garantiere freies Geleit für ihn, im Namen des Rates und der Ehre meiner Gilde. Bist du sicher, dass er für dich aussagen wird?«
»Ja, ich bin sicher«, sagte Rena und hoffte, dass das stimmte. Sie flüsterte die Worte wie eine Zauberformel, denn es war ein Name, der sie eigenartig bewegte, wenn sie ihn aussprach. »Rowan ke Nerada. Er heißt Rowan.«
Okam nickte. »Wenn er in der Stadt ist, werden meine Leute ihn finden. Wenn du ihn nicht nur erfunden hast, um deine Haut zu retten und die der Feuerfrau.«
Plötzlich war Rena beinahe fröhlich. Ihre Zeit in diesem Sandloch war gezählt, dieser Okam würde schon bald erkennen müssen, dass er einen Fehler gemacht hatte! Rowan würde sie nicht im Stich lassen, da war sie sich ganz sicher.
Okam stellte noch ein paar Fragen, aber seine Stimme war beiläufig, beinahe uninteressiert. Rena blieb auf der Hut, hinter jedem Absinken ihrer Konzentration lauerte eine falsche Antwort. Gleichzeitig musste sie sich beherrschen, um nicht zwanghaft mit der Fußspitze im Sandboden herumzuwühlen. Schon bald wusste sie nicht mehr, ob ein halber Sonnenumlauf vergangen war oder nur ein paar Atemzüge.
Endlich kamen die Soldaten zurück, die Okam ausgeschickt hatte. Ihre Gesichter waren von Wind und Sonne zerklüftet, und auf ihren Schultern hockten Pfadfinder mit Gefieder in verschiedenen Brauntönen. Doch Renas Augen suchten in ihrem Trupp vergeblich nach einer großen schlanken Gestalt mit hellblondem Haar, nach einem weißen Pfadfinder. Was war geschehen? Wo war Rowan?
Ungeduldig wandte sich der Offizier ihnen zu. »Habt ihr diesen Rowan gefunden?«
Einer der Soldaten trat vor und verbeugte sich kurz vor Okam. »Meister, niemand dieses Namens befindet sich in Eolus. Er ist durchgereist, einige Leute haben ihn gesehen und erkannt, aber nun ist er verschwunden.«
Rena starrte ihn an. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff. »Bestimmt ist er noch nicht weit weg, er könnte Richtung Süden reisen!«, schrie sie. »Er muss noch im Grasmeer sein. Könnt ihr nicht ein paar Leute über die Pfade schicken und nach ihm suchen?«
Okam seufzte. »Du weißt nicht viel über das Gras, junge Dame. Um es zu durchkämmen, selbst wenn es nur im Umkreis der Stadt wäre, müsste man eine Hundertschaft von Leuten ausrücken lassen.«
»Was ist mit den Storchenmenschen, seid ihr nicht mit denen verbündet? Wenn sie über das Grasmeer fliegen, müssten sie ihn doch schnell entdecken!«
»Bringt sie in den Kerker zurück«, befahl Okam den Wachen, ohne Rena anzusehen oder ihren Einwand zu beachten. Er hatte sich abgewandt, und sein Rücken war gebeugt wie der eines viel älteren Mannes. »Dort wird sie bleiben, bis wieder Frieden herrscht.«
Hände packten Rena dicht über den Ellenbogen und versuchten, sie zum Ausgang zu zwingen, doch sie stemmte die Füße in den Sandboden. »Ihr verspielt die einzige Chance, die wir auf Frieden haben! Wisst Ihr wirklich, was Ihr …«
Die Tür öffnete sich mit einem schleifenden Geräusch, und ein Bote spähte herein und grüßte. »Meister, der Rat möchte die Gefangene sehen.«
Okam runzelte die Stirn. »Warum das? Wann?«
»Jetzt gleich. Der Befehl kommt von Avius!«
»Seid vorsichtig, junge Dame«, sagte Okam, bevor er sie zum Rat führte. Seine Augen maßen sie nachdenklich. »Setahaya spürt jede Lüge, sie wird wissen, ob du die Wahrheit sprichst oder nicht.«
»Dann habe ich nichts zu fürchten«, sagte Rena und begegnete seinem Blick offen und gerade.