Tribunal

A ls sie die inneren Räume der Residenz betraten, bemerkte Rena eine winzige Frau, die dort stand. Sie war ganz in ockerfarbene Gewänder gekleidet, ging Rena nicht einmal bis zur Schulter und war so knochig, dass ihre Finger dünn wie Zweige wirkten. Fasziniert und schockiert starrte Rena auf die kurzen Federkiele an den Seiten ihrer Hände, die abgeknickt und vom Alter vergilbt waren. Das musste Setahaya sein, von der Rowan ihr erzählt hatte! Sah fast so aus, als habe sie irgendwo in ihrer Ahnenreihe einen Storchenmenschen. Aber hier wagte sicher niemand, sie verächtlich »Storchenbrut« zu nennen, was auf den Gassen zu einem Schimpfwort für alle Gelegenheiten geworden war.

Einen Lidschlag lang betrachtete die alte Frau Rena mit schräggelegtem Kopf, dann schritt sie an ihr vorbei und steuerte den Offizier an. »Ich habe erfahren, was geschehen ist«, sagte sie, legte Okam die dünne Hand auf den Arm und blickte mitfühlend zu ihm auf. »Wir werden alles tun, mein Guter, das verspreche ich Euch.«

»Wisst ihr, wo sie ist?«

»Nein, noch nicht. Die Wächter der Wassergilde halten es geheim. Aber keine Sorge, wir finden Eure Frau.«

Rena ahnte nun, woher die Traurigkeit in Okams Augen kam. Einen Moment lang bekam sie Mitleid mit ihm.

»Ich glaube nicht, dass es so einfach wird. Eure Zuversicht kann ich leider nicht teilen, Setahaya«, drang es aus einer geflochtenen Glocke hervor, die mitten im Raum von der Wand hing. Ein großer Mann mit blondem Bart und eisblauen Augen erschien aus der Öffnung. Das musste Avius sein! »Bisher haben wir noch keinen einzigen Gefangenen lebend wiederbekommen, denkt daran.«

Aus einer anderen Glocke lugte ein jungenhaftes Gesicht hervor. Das war wohl Terek, das dritte Mitglied des Gildenrates. Zuerst wirkte er höchstens so alt wie Rowan, aber als Rena näher hinsah, entdeckte sie die Falten in seinem Gesicht. »Wir sollten es noch einmal mit einem Austausch versuchen.«

Beunruhigt befeuchtete Rena die Lippen mit der Zunge. Es war kein gutes Zeichen, dass diese Meister so offen vor ihr sprachen. Solche Informationen durften niemals nach außen dringen.

Okam ging zu einem der Hohen Meister hinüber und unterhielt sich leise mit ihm. Rena wusste, dass er ihm mitteilte, was er durch das Verhör erfahren hatte. Sie hätte zu gerne gewusst, was er sagte.

Ganz plötzlich wandte sich Avius ihr zu. »Wie ist dein Name, Blattfresserin?«

»Rena ke Alaak«, sagte Rena und schluckte ihren Ärger herunter. »Ich und meine Reisegefährtin sind in einer Friedensmission hier. Natürlich verstehe ich, dass Ihr uns zuerst für Spione gehalten habt, aber jetzt sollten wir verhandeln.«

Mit gerunzelter Stirn starrte der Hohe Meister sie an. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sprach. »Okam hat nichts davon gesagt, dass Ihr in offiziellem Auftrag kommt.«

Befriedigt stellte Rena fest, dass er sie nicht mehr duzte. »Der Hohe Rat der Feuergilde möchte, dass wir mit den Gilden Kontakt aufnehmen, damit Verhandlungen beginnen können.« Sie schilderte kurz noch einmal, was sie vorhatte. Avius nickte verblüfft.

»Meister, ich glaube nicht, dass sie zum Roten Auge gehört«, sagte Okam auf einmal. »Ich habe ein paar von denen gesehen … und sie sind anders.«

»Mag sein«, erwiderte Avius und winkte ab. Rena spürte, dass ihn das überhaupt nicht interessierte, und war erstaunt. Was ging hier vor?

Avius ging auf sie zu und legte ihr väterlich einen Arm um die Schultern. Rena konnte gerade so verhindern, dass sie zurückzuckte – die Berührung war ihr unangenehm. »Du hast die Geheimformeln deiner Gilde noch nicht erfahren?«, fragte er. Seine Stimme war freundlich, einschmeichelnd. »Du bist keine Meisterin, nicht wahr?«

Rena schüttelte den Kopf. Das muss ihn überzeugen, dachte sie. Eine Spionin, die keine Meisterin ist, was soll das für einen Sinn haben?

Doch Avius lächelte, als habe sie ihm einen Gefallen getan.

»Ich weiß, was du vorhast, Avius«, sagte Setahaya, und in ihrem Ton schwang Missbilligung mit. »Es ist ein Ritual, das besser vor langer Zeit vergessen worden wäre!«

»Mein Vater hat es nicht ohne Grund gepflegt«, gab Avius zurück. »Es ist damit viel leichter, den Eolan unter Kontrolle zu halten. Oder willst du, dass er sich gegen uns wendet und den Palast zerreißt?«

Rena ahnte endlich, worum es ging, und die Knie wurden ihr weich. Das alte Ritual, von dem Rowan einmal nebenbei erzählt hatte! Früher hatte der Rat dem Wind regelmäßig einen Menschen geopfert. Konnte das wirklich wahr sein, überlegten die Meister wirklich, ob sie das nun mit Alix und ihr tun sollten?

»Wir dürfen uns dem Eolan nicht unterwerfen«, sagte Setahaya scharf. »Er ist unser Werkzeug, nicht wir seins!«

»Auch ein Werkzeug muss man pflegen, wenn es von Nutzen sein soll, verehrte Setahaya. Sonst sind wir in diesen gefährlichen Zeiten irgendwann schutzlos.«

»Wollen wir es öffentlich tun?«, warf Terek munter ein. »Vielleicht ist das gut für die Moral unserer Leute. Es wird sie von ihren Sorgen ablenken.«

Avius nickte. »Das ist wahr. Aber das Ritual ist keine Volksbelustigung, Terek.«

»Unsere Gilden werden sich rächen!«, schleuderte Rena dazwischen. Selbst wenn die Erdgilde keine Rache nahm – wollten diese Dummköpfe wirklich riskieren, eine Frau der Feuergilde öffentlich hinzurichten? »Ihr Zorn wird auf euch herabfahren wie ein Blitz!«

»Lässt sich leicht vermeiden«, sagte Avius und lächelte sie an. »Wenn wir es nicht verkünden, wird nie jemand erfahren, dass wir Euch dem Eolus übergeben haben. Es sind schon so viele Leute im Grasmeer verschwunden, da kommt es auf zwei mehr auch nicht an.«

Mit einem Blick, der wortlos um Hilfe bat, wandte Rena sich Setahaya zu. Einen Moment lang ruhten die dunklen Vogelaugen der Ratsfrau auf ihr. Dann raschelten ihre Gewänder wie das Gras im Wind, als sie sich vor Avius aufrichtete. Es sah würdevoll, aber ein wenig lächerlich aus, wie ein Pfadfinder, der versucht, einem Dhatla zu trotzen. »Das werdet Ihr nicht tun, Avius, jedenfalls nicht, solange ich noch am Leben bin! Es wird Proteste geben, selbst wenn sie noch keine Meisterin ist. Unsere Handelswege könnten abgeschnitten werden, und damit versiegt das Blut in unseren Adern. Ihr tätet besser daran, wirklich um Frieden zu verhandeln!«

Alle Menschen im Raum waren sich dessen bewusst, dass Setahaya wohl kaum mehr lange zu leben hatte. Niemand sprach es aus.

»Verzeiht, Meister, aber es wäre vielleicht besser, sie noch einige Monde in der Residenz zu behalten«, sagte Okam ruhig und brach damit das Schweigen. »Vielleicht erfahren wir doch noch etwas von ihr oder der Feuerfrau.«

Sie kämpften beide für einen Aufschub. Aber was nützte Alix und Rena das, wenn sie doch sterben mussten, sobald Setahaya sie nicht mehr schützen konnte?

»Nein«, widersprach Avius. »Wenn wir es tun, dürfen wir nicht zu lange warten. Heute Nacht entscheidet es sich. Es gibt da etwas, Okam, von dem du nichts weißt.«

Okam hielt sich gerade, sein Gesicht war ausdruckslos.

»Einer der unsrigen hat am Tor nach ihr gefragt, und die Wache hat ihn hereingelassen. Ein junger Meister. Zum Glück hat die Wache ihm nicht gesagt, dass sie hier ist, aber es könnte sich herumsprechen.«

Rena wusste sofort, wer dieser junge Meister sein musste, und heiße Freude überschwemmte sie. Rowan! Er hatte die Stadt nicht verlassen, im Palast hatten Okams Leute ihn nur nicht vermutet. Sie würde ihn noch ein letztes Mal sehen, aber ob er etwas für sie ausrichten konnte?

»Was will er von ihr?«, fragte Terek erstaunt.

»Ich weiß es nicht«, sagte Avius. »Lassen wir ihn hereinrufen.«

Sie würden sich wiedersehen, so bald schon! Rena kam es so vor, als könne sie keinen Moment mehr warten. Doch dann gab Avius ein winziges Zeichen, und zwei Wachen packten sie an den Armen und zerrten sie hinaus. Überrascht und wütend sträubte sich Rena, doch bevor sie es sich versah, war sie vor dem großen Saal und wurde einen Gang entlang geschoben.

»Nein, wartet!«, schrie Rena.

»Was ist?«, grunzte eine der Wachen. Immerhin hatten sie angehalten und ihren Griff etwas gelockert.

»Lasst mich doch wenigstens draußen warten«, bettelte Rena. »Das würde doch nichts schaden, oder? Ich will nur seine Stimme hören.«

Die beiden Wachen tauschten Blicke.

»Diesen letzten Wunsch könnt ihr mir ja wohl erfüllen, wenn ich schon dem Eolan übergeben werde!«

»Na gut. Aber nur für ein paar Atemzüge. Und kein Wort!«

Rena hatte mehr Glück, als sie zu hoffen gewagt hatte; die Wachen ließen sie bis zur Außenwand des Saales. Im gewebten Schilf der Wand entdeckte sie einige kleine Löcher. Wenn sie das eine Auge daran presste, konnte sie ein Stück des Raumes erkennen: Sie schaute direkt auf den Hinterkopf von Avius. Offenbar war sie nicht die erste, die dem Hohen Rat von hier aus hinterherspionierte.

Rowan kam herein! Mit klopfendem Herzen lugte Rena durch das Schilf. Er sah aus wie immer, trug sogar noch dieselbe staubige Tunika, anscheinend hatte er sich nicht einmal die Zeit genommen, sich für den Rat feinzumachen. Er hielt sich sehr gerade und wirkte keineswegs eingeschüchtert, doch irgendwie spürte sie, dass er nervös war, als er die traditionelle Begrüßung sprach: »Friede den Gilden, Hoher Rat.«

»Weshalb bist du hier, junger Meister? Ist dieses Mädchen wichtig für deinen Handel? Gehört sie dir und ist sie dir vor dem Verkauf geflohen?« Avius’ Stimme klang streng.

»Nein, Avius. Ich bin gekommen, um ihr etwas zu sagen.«

»Sonst nichts?«

»Sonst nichts«, erwiderte Rowan schlicht. »Ich bin gekommen, um ihr zu sagen, dass ich sie auf ihrer Reise begleiten werde.«

Rena konnte spüren, wie der Rat im Schock erstarrte. Wahrscheinlich hatten sie mit allem gerechnet, nur nicht mit dem.

»Dass einer von uns so etwas sagt!«, knurrte Avius.

»Diese verrückte Reise!«, schrillte Terek, seine Grasglocke schaukelte bedenklich.

»Du nimmst es ernst, was sie vorhat?«, fragte Setahaya leise. »Du willst wirklich wagen, zu den Räten einer anderen Gilde zu gehen, tanu ? Diese Gefahr auf dich nehmen?«

Spätestens jetzt musste Rowan wissen, dass sie von der Reise gehört hatten, dass Rena in der Residenz war, und dass sie versucht hatten, es ihm zu verschweigen. Doch er ließ sich nichts anmerken. Respektvoll verbeugte er sich vor der alten Meisterin, bevor er antwortete. »Ja, das werde ich tun. Daresh braucht wieder Frieden, die Gilden müssen alle an einem Strang ziehen.«

Die nehmen ihn viel ernster als mich, dachte Rena innerlich seufzend. Er gehört eben zu ihrer Gilde, und ich nicht. Deshalb müssen wir zu viert sein, anders geht es nicht.

Avius war aus ihrem Blickfeld gegangen, stattdessen bekam sie jetzt ein Stück von Setahayas Kleid zu sehen. Dann sah sie gar nichts mehr, denn die Wachen waren offensichtlich der Meinung, dass die »paar Atemzüge« abgelaufen waren und sie jetzt endgültig ins Verließ zurückmusste.

Tief unter der Erde im Dunkeln, der Sand rieselte leise flüsternd um sie herum, wartete schon Alix auf sie. »Bist du in Ordnung? Haben sie dich auch so lange verhört?«

Rena erzählte schnell, was sich ereignet hatte. Sie hörte Alix leise lachen. »Ich habe dir ja gesagt, dass er sofort zu seinem Rat laufen würde. Glaubst du, dass der Storch uns hier herausholen kann?«

»Er wird jedenfalls alles versuchen«, sagte Rena. Er kommt mit!, jubelte ihre innere Stimme. Er kommt mit! Wenn … ja, wenn sie ihren Aufenthalt hier überstanden.

Es schien unendlich lange zu dauern, bis die Fackeln den Gang vor ihrem Kerker wieder erleuchteten. Rena rechnete schon damit, dass die Wachen sie wieder grob hinaus zerren würden, doch es war der Offizier Okam persönlich, der sie holen kam. »Folgt mir«, sagte er nur. Rena und Alix sahen sich an – würde man sie jetzt heimlich und still dem Eolan übergeben?

Die drei hohen Meister der Luftgilde saßen in ihren Grasglocken und blickten ihnen würdevoll entgegen. Unauffällig sah sich Rena nach Rowan um. Dort stand er, eine halbe Baumlänge entfernt! Er musste sie gesehen haben, doch sein schmales, kantiges Gesicht zeigte keine Regung. Enttäuscht wandte sich Rena wieder dem Rat zu. Trug Rowan ihr noch nach, was sie zu ihm gesagt hatte? War er wütend darüber, dass er ihr jetzt helfen musste, obwohl er sie gewarnt hatte?

»Rena ke Alaak.« Es war die hohe weiche Stimme der Setahaya. »Ich hoffe, Ihr nehmt unsere Entschuldigung an.«

Rena entspannte sich langsam, ganz langsam. Sie wusste, dass sie jetzt etwas erwidern musste, aber sie war so erleichtert, dass ihr kaum etwas einfiel. »Natürlich«, sagte sie schließlich. »Es war ein Missverständnis.«

»Wir wären glücklich, wenn Ihr bei den Hohen Meistern der anderen Gilden ausrichten würdet, dass wir ebenfalls für den Frieden sind. Wir werden gerne verhandeln.«

Das Gesicht von Avius zeigte, dass er alles andere lieber täte. Sein Lächeln war verkniffen. Aber er schwieg.

Rena verbeugte sich kurz. »Das werde ich ausrichten, Setahaya. Unsere nächste Station ist der Rat der Wassergilde. Werdet Ihr eine Delegation zur Felsenburg schicken? Wir treffen uns dann zur Zeit der nächsten Sonnenfinsternis auf der Lichtung in Alaak, die man den Kahlen Fleck nennt, und fordern geschlossen eine Audienz.«

»Unsere Leute werden da sein.«

Ein Diener näherte sich und reichte Alix und ihr einen kleinen Gegenstand, eine in einem komplizierten Farbmuster gefärbte Feder.

»Ihr werdet es brauchen, wenn Ihr Eolus verlasst und wieder durch das Grasmeer reist«, sagte Setahaya. »Das sichert euch freies Geleit. Zeigt es einfach vor, und jeder Mann und jede Frau der Luftgilde wird euch mit Respekt begegnen.«

Vorsichtig brachte Rena die Feder in der Tasche ihrer Tunika unter, in der sich schon die des Storchenmädchens befand.

Bevor sie sich versahen, waren sie wieder draußen. Alix hatte es eilig, den Saal zu verlassen. Rowan schloss sich ihnen schweigend an und ging ein paar Schritte hinter ihnen. In der Vorhalle der Residenz waren sie auf einmal allein. Als hätten sie es verabredet, gingen sie langsamer, wandten sich einander zu und sahen sich an – drei Menschen aus drei verschiedenen Gilden.

Rena bat den Erdgeist, dass Alix Rowan nicht »Storch« oder »Windhund« nannte, und dass er ihr nicht vor die Füße spuckte oder so etwas. Sie liebte sie beide, und sie wollte auf keinen Fall, dass die beiden aneinandergerieten und es sich Rowan vielleicht noch einmal anders überlegte. Wieso war er überhaupt so still?

Alix war eine halbe Fingerlänge kleiner als Rowan, aber ihr schlanker Körper war perfekt ausbalanciert wie ein gutes Messer, die Muskeln zeichneten sich unter ihrer glatten Haut ab. Ihr kupferfarbenes Haar hing ihr frei über den Rücken. Ohne eine Miene zu verziehen stützte sie sich auf ihr Schwert und sah dem jungen Händler entgegen, der seinen Pfadfinder mit dem Finger am Bauchgefieder kraulte.

»So, Ihr seid das also, dieser berüchtigte Rowan«, sagte Alix zu ihm. Es klang weder feindselig noch freundlich.

»Ja, das bin ich«, sagte der Mann der Luftgilde ruhig.

Einen Moment lang musterten sie sich gegenseitig, schätzten sich ab. Wie beiläufig legte Rowan den Arm über Renas Schultern, und Rena freute sich und verkrampfte gleichzeitig. Ob Alix es akzeptierte, dass er sie so offen beanspruchte?

»Na, wir werden sehen«, sagte Alix milde und drehte sich zu Rena, ohne den jungen Händler noch weiter zu beachten. »Los, gehen wir. Nichts wie weg.«

Rena war erleichtert, dass die Begegnung der beiden so glimpflich abgelaufen war. Doch bei Alix’ Worten schreckte sie auf. »Nein, wir können noch nicht gehen«, sagte Rena. »Ich muss noch mit jemandem reden. Wird nicht lang dauern.«

»Bist du wahnsinnig? Die können sich’s jederzeit überlegen und uns wieder festsetzen!«

Doch Rena hörte nicht mehr zu, sie rannte zurück. Alix und Rowan folgten ihr nicht, und sie ahnte, dass die beiden sich gerade einträchtig an die Stirn tippten.

Sie fand Okam in den Tiefen der Residenz, im Gespräch mit einem Schreiber. Als er sie sah, hob er eine Augenbraue und schickte den anderen Mann mit einer kurzen Geste weg.

Außer Atem stieß Rena hervor: »Vielleicht können wir bei der Wassergilde etwas für Eure Frau erreichen.«

Langsam wandte sich Okam um. »Das haben schon andere vergeblich versucht, junge Dame.«

»Aber es würde nichts schaden, wenn wir es auch versuchen, oder? Schließlich haben wir den Vorteil, dass wir sozusagen neutral sind.«

Okam lachte bitter. »Ihr werdet den Rat der Wassergilde nicht einmal finden. Niemand weiß, wo er wirklich ist. Man sagt, dass er wie ein Trugbild verschwindet, wenn man ihm zu nahe kommt.«

»Mag sein«, meinte Rena. Sie war noch nicht bereit aufzugeben. »Was ist mit Eurer Frau geschehen?«

»Es war eine Gildenfehde«, sagte der alte Offizier und wandte sich ab. »Unsere Leute hatten eine Schwimmende Stadt nahe der Grenze überfallen, weil die Bewohner ständig frech im Gras geerntet haben. Aus Rache ist die Wassergilde in eine unserer Siedlungen eingedrungen.« Er presste die Fingerspitzen an die Schläfen, als wolle er die Erinnerung daran hindern, aus seinem Kopf auszubrechen. »Ich war unterwegs im Gras, auf Patrouille. Als ich zurückkam, war meine Frau fort. Sie haben sie als Geisel behalten, damit wir nicht noch mal angreifen.«

»Wie heißt Eure Frau?«

»Cara ist ihr Name«, sagte Okam, und seine Stimme wurde wieder so leise, dass Rena ihn kaum verstand. »Sie ist wie der warme Südwind, wie der Pfadfinder meiner Seele. Wenn Ihr es wirklich schaffen würdet, sie zu befreien, Rena, dann gäbe es nichts in meiner Macht, das ich nicht für Euch tun würde.«

»Fällt Euch noch irgendetwas ein, was uns bei der Suche weiterhelfen könnte?«

»Einmal habe ich von ihr geträumt, und ich habe das Gefühl, dass es kein gewöhnlicher Traum war«, meinte Okam nachdenklich. »Cara war in Silber gefangen, wie ein Stein in einem Schmuckstück, wie eine Fliege auf klebrigem Harz. Sie lebte, aber sie konnte nicht sprechen und sich nicht bewegen.«

Rena schluckte. Das hörte sich an, also ob es ziemlich gefährlich werden würde, sie zu befreien. »Vielleicht war es einfach nur ein Traum. Wir werden auf jeden Fall unser Bestes tun.«

»Aber haltet euch fern von den Leuten des Roten Auges!«

Rena versprach auch das, dann kehrte sie zu ihren Freunden zurück. Als sie den Palast aus Sand und Gras verließen, stieß Rena Alix in die Seite: »Sag mal, woher hattest du eigentlich das Amulett? Hast du es von deinem Gildenrat zurückbekommen oder was?«

»Sei nicht albern«, sagte Alix. »Der Gildenrat gibt nie etwas zurück. Ich habe ein weiteres in Tassos nachgeschmiedet, als ich dein Schwert gemacht habe. Oder hast du etwa gedacht, ich würde selber zu diesem Geheimbund gehören?«

»Natürlich nicht«, log Rena.

Sie war froh, wieder unterwegs zu sein. Ihre Verfolger aus Ekaterin hatten sich noch nicht wieder gezeigt, es sah aus, als hatten sie ihnen nicht durch das Grasmeer folgen können. Moog und seine Sklavenhändler hatten Rowan und sie besiegt. Auch die Verdächtigungen, selbst zur Verschwörung zu gehören, hatten Alix und sie überlebt. Was konnte jetzt noch schiefgehen?

Wie sich herausstellen sollte, eine ganze Menge.