Schwarze Kutten

» Sie ist weg!«, sagte Rena.

»Rostfraß und Asche – was meinst du damit, sie ist weg ? Dieses Ding da in der Mitte …«

»Das ist nur der Sockel. Eigentlich sollte die Quelle obendrauf liegen. Aber sie ist nicht da. Jemand muss sie mitgenommen haben.«

Alix fluchte wild. »Ich glaube, die Regentin ist doch schlauer, als wir gedacht haben – oder die Schwarzen Kutten. Was jetzt?«

Erschöpft ließ sich Rena auf den Steinboden sinken und stützte den Kopf in die Hände. »Das wüsste ich auch gerne. Es war keine gute Idee, hierherzukommen. Es war sogar eine ganz miese Idee. Wie viel Zeit haben wir noch?«

»Zwei Drittel sind noch übrig.«

»Es hilft nichts, wir müssen zurü…«

In diesem Moment hörten sie Stimmen draußen auf dem Flur, noch ein Stück entfernt, aber schon deutlich zu verstehen. »He, Jen! Die Tür zum Verbotenen Saal ist auf. Verdammt, hat die einer von uns offengelassen?«

»Kann nicht sein. Schauen wir besser mal nach, was damit ist.«

Rena krabbelte hastig wieder auf die Füße. Verzweifelt sahen sie und Alix sich nach einem Versteck um. Doch der Saal der Quelle war wahrscheinlich der schlechteste Ort, den sie überhaupt hätten erwischen können. Er hatte keinen zweiten Ausgang und enthielt nicht mal einen Stuhl oder Tisch, die Wände waren glatt und die Ritzen zwischen den Steinquadern dünner als Haare. Der Sockel war zu klein, als dass man sich dahinter hätte ducken können. Sie saßen in der Falle!

»Wann hast du den nächsten Dienst? Muss mich bald wieder beim Kommandanten melden.«

»Hoffentlich teilt er mich nicht am Tor ein, da draußen sammelt sich der Pöbel.«

Alix deutete zur Tür, und Rena nickte. Sie mussten hier raus und losrennen, was das Zeug hielt. Dann entkamen sie wenigstens aus dieser Sackgasse. Doch sie hatten zu lange gewartet. Als Alix zur Tür stürzte, blickte sie in das verdutzte Gesicht eines Soldaten, der mit erhobenem Schwert vor ihr stand. Ein zweiter Soldat tauchte hinter ihm auf, dann ein dritter, ein vierter.

»Zurück! Alix, geh zurück!«, brüllte Rena. Sie hatte die schwere Eingangstür gepackt und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. Mit einem gewaltigen Krach donnerte die Tür zu, obwohl sich die Soldaten von außen dagegen warfen. Alix hatte schnell reagiert und presste sich ebenfalls mit ganzer Kraft gegen die Tür, während Rena versuchte, den schweren eisernen Riegel von innen vorzuschieben. Knirschend glitt er an seinen Platz. Die Tür hielt, obwohl sie sichtbar vibrierte, während die Soldaten wütend von außen mit Fäusten und Schwertknäufen dagegen donnerten.

Schwer atmend lehnte Rena sich gegen die weißen Wände des Saales.

»Wunderbar!«, höhnte Alix und strich sich eine Strähne ihres kupferfarbenen Haares zurück. »Warum hast du das gemacht? Vielleicht hätten wir uns freikämpfen und uns in die Gänge retten können. Jetzt sitzen wir hier drin fest und haben uns freundlicherweise selbst eingesperrt. Nun brauchen sie nur noch zu warten, bis der Hunger uns heraustreibt.«

»Ach, du meinst, du hättest eine ganze Kompanie zusammenprügeln können – und das auch noch auf fremdem Terrain?«

»Vier wären gerade noch gegangen. Es waren keine Farak-Alit.«

»Die werden sie jetzt sicher rufen!«, stöhnte Rena.

»Durch diese Tür kommen sie jedenfalls nicht so leicht.«

Alix irrte sich. Die Soldaten hatten nicht vor, zu warten, bis der Hunger sie heraus trieb. Unvermittelt hörten sie auf, gegen die Tür zu hämmern und zu rufen. Es wurde still draußen. Misstrauisch näherte sich Rena der Tür. »Was machen die denn jetzt?«

Wenige Atemzüge später wussten sie es. Ein durchdringendes Geräusch, halb Zischen, halb Schleifen, ertönte. Rena sah, wie eine silbrige Zunge sich durch den Türspalt bahnte und am Eisenriegel hoch zu lecken begann. Langsam begann der Riegel zu glühen, erst rot, dann orange. »Flüssiges Feuer«, rief Alix alarmiert. »Verdammt, ich wusste nicht, dass die das hier haben!«

Rena stöhnte. »Wie lange brauchen die, bis der Riegel durch ist?«

»Das ist solide Wertarbeit meiner Gilde. Hundert Atemzüge vielleicht.«

Sie sahen sich an und wussten beide, dass ihr Abenteuer in der Burg bald ein schnelles Ende finden würde.

* * *

Die Delegierten der vier Gilden waren müde und steif von den Fesseln im Schwarzen Nest, ihre kostbare Kleidung stank. Ganz in der Nähe der Felsenburg hielten sie Kriegsrat; einige von ihnen hatten sich ins Gras gesetzt, zwei andere lehnten an den jungen Colivars, unter denen sie sich versammelt hatten.

Rowan stand in der Mitte der kleinen Gruppe. Er dachte: Eigenartig, dass sie alle ganz selbstverständlich akzeptiert haben, was Rena gesagt hat – dass ich das Ablenkungsmanöver leiten soll. Es war ein seltsames Gefühl, dass jetzt auf einmal alle auf ihn blickten und von ihm Entscheidungen erwarteten. Natürlich war es schön, gebraucht zu werden, aber er hatte noch nie Befehle erteilt.

»Wo bekommen wir Leute her?«, fragte eine Abgesandte der Erdgilde. »Die paar Gestalten, die hier sind, reichen längst nicht für einen ordentlichen Aufstand. Wenn wir mit denen vor die Felsenburg marschieren, werden wir ausgelacht.«

Rowan dachte nach. »Wir sollten die umliegenden Dörfer alarmieren. Jeder von uns gibt den Leuten seiner Gilde Bescheid. Wie viel Zeit haben wir?«

»Eigentlich keine«, sagte Dagua und seufzte. »Rena und Alix müssten jeden Moment im Tunnel ankommen.«

»Bis ein paar Leute aus den Dörfern auftauchen, dauert es aber mindestens einen Viertel Sonnenumlauf«, wandte die Delegierte der Feuergilde ein, ihr verletzter Arm steckte in einer Schlinge aus Baumbast.

Rowan fühlte die vertraute trotzige Wut in sich aufwallen, den Willen, etwas zu verändern, etwas zu bewegen. Doch konnte er die anderen mitreißen? Er blickte zu Okam hinüber, der gewohnt war zu befehligen und zu organisieren. Doch der Offizier hatte sich ein Heilmittel für seine Verbrennungen geben lassen und schlief, bewacht von zwei Storchenmenschen, den Schlaf der völligen Erschöpfung. Auch die anderen Delegierten sahen übermüdet aus.

Plötzlich hatte Rowan einen Geistesblitz. »Setzen wir auf das Geheimnis«, sagte er. »Wartet, ich erkläre es euch …«

Wenig später kauerte er allein im Gebüsch in Sichtweite der Felsenburg. Die großen Tore waren geschlossen, doch das hatte nichts zu bedeuten – Rowan wusste, dass die Wächter ihre Augen und Ohren weit offen hielten und jede Bewegung bemerken würden. Er bemühte sich nicht, zu verbergen wo er war, und die großblättrigen Sträucher schwankten und raschelten um ihn herum. Dann hob Rowan die Laterne, die er mitgebracht hatte, und öffnete und schloss in rascher Folge die Abdeckung. Das Lichtsignal wurde aus einiger Entfernung beantwortet, dann nach ein paar Dutzend Atemzügen aus einer anderen Richtung und noch einer.

Noch während die Antworten durch die Nacht blitzten, rannte Rowan mit aller Kraft und diesmal so unauffällig er konnte zweihundert Schritt nach links. Seine langen Beine griffen weit aus, es kam ihm vor, als sei er nie schneller gelaufen. Schließlich ließ er sich an einer anderen Stelle, aber immer noch in der Nähe der Burg, nieder, und wiederholte dort die Signale. Ja, auch die anderen hatten schnell die Position gewechselt, sah er zufrieden, und sie benutzten jedes Mal andere Zeichen, als würden sie Mitteilungen austauschen. Er konnte sich vorstellen, was die Wachen in der Felsenburg sich jetzt dachten: »He, da ist irgendwas Seltsames im Gange!«

Sollten sie ruhig denken, dass sie in nächster Zeit angegriffen werden würden. Es gab für die Wächter keinen Weg, festzustellen, wie viele Personen sich dort draußen signalisierten, sie konnten nicht ahnen, dass es nur so wenige waren – außer, sie schickten Soldaten nach ihnen aus. Doch Rowan rechnete damit, dass die Burgwache die Vorgänge erst einmal eine Weile misstrauisch beobachten und ein paar Truppen in Alarmbereitschaft halten würde. Bis jemand entschied einzugreifen, hatten Rowans Leute längst wieder die Position gewechselt. Im nächtlichen Wald waren sie kaum zu finden, wenn sie sich ruhig verhielten und die Laterne abdeckten.

Rowan musste an Rena denken und fühlte die Sehnsucht nach ihr wie Hunger in sich nagen. Wo sie wohl gerade war, und ob sie und Alix schon etwas gefunden hatten? Der Gedanke quälte ihn, dass er sie vielleicht hätte zurückhalten sollen, dass er sie vielleicht nie wiedersehen würde. Aber dann kehrte das Bild des Grasmeeres, das zum großen Teil eine rauchende schwarze Wüste war, in ihm zurück, und Rowan ballte die Fäuste. Nein, sie handelten richtig, sie mussten beweisen, wer das wirklich getan hatte!

Sie setzen das Spiel mit den Lichtsignalen fort, bis hinter Rowan fast lautlos ein Hirschmensch aus dem Wald trat. »Am Treffpünkt sünd jützt eine ganze Mengü Dörflünge versammelt«, meldete er. »Süllen sü zur Burg marschüren?«

»Ist gut, ich komme rüber«, sagte Rowan und folgte dem Hirschmenschen tiefer in den Wald, der im schwachen Licht des zweiten Mondes geisterhaft schimmerte.

* * *

Ruhelos ging Rena in dem schmucklosen Saal umher, betastete die Wände und sah sich den Sockel an, auf dem die Quelle gelegen hatte. Er war aus dem gleichen Material gemacht wie die Wände, einem hellen, sehr glatt polierten Stein. In der Oberseite war eine flache Mulde in Form einer umgedrehten Halbkugel eingearbeitet, wahrscheinlich damit die Quelle nicht herunterrollen konnte.

Wo war die Quelle bloß, was hatten sie mit ihr gemacht? Hoffentlich richteten sie nichts damit an! Wenn es stimmte, was ihnen der alte Archivar erzählt hatte, dann konnten die Regentin und ihre Berater damit großen Schaden verursachen. Rena hoffte, dass sie das noch nicht wussten.

Als Rena den Sockel betastete, spürte sie schwache Energieströme, Echos der Quelle , die hier gelegen hatte. Sie schloss die Augen, um sie besser erfassen zu können … und hörte ein leises, schabendes Geräusch. Ihre Finger griffen ins Leere. Erstaunt öffnete sie die Augen wieder. Bildete sie es sich nur ein, oder war der Sockel tatsächlich ein paar Fingerbreit niedriger als vorher?

Alix kam heran. »He! Wie hast du das gemacht?«

»Ich habe gar nichts getan.«

»Das Ding ist irgendwie abgesackt. Mach noch mal, was du vorhin gemacht hast.«

Wieder drückte Rena gegen den Sockel. Diesmal spürte sie, wie ihre Finger auf Druckpunkte glitten und der Stein unter ihnen nachgab. Sie sah sich die Stelle aus der Nähe an und stellte fest, dass sich dort haarfeine Kreise im Stein abzeichneten. Man sah sie kaum. »Beim Erdgeist!«, sagte Rena. »Das ist ja gar kein Sockel, das ist …«

»Red nicht lange, mach weiter«, empfahl Alix ihr mit einem nervösen Blick auf die Tür. Der Riegel glühte fast weiß, kleine Metalltropfen perlten davon ab und erstarrten weiter unten wieder. Jenseits der Tür hörten sie Geschrei und Poltern, jemand forderte sie lautstark auf, sich zu ergeben und sofort herauszukommen.

Doch Rena hörte und sah nichts mehr, sie spähte der Steinsäule hinterher, die langsam, fast ohne ein Geräusch in den Boden sank und zur Seite verschwand. Dahinter wurde eine dunkle Öffnung sichtbar, groß genug für einen Menschen.

»Kannst du was sehen?«, fragte Alix und reckte den Hals.

»Ich glaube, da sind Stufen«, sagte Rena, kniete sich auf den Boden und tastete herum. »Nein, es sind Griffkrampen! Man kann runtersteigen.«

»Und dahinter?«

»Nichts zu erkennen.«

»Die Quelle hat also noch mehr Geheimnisse«, sagte Alix mit ihrem alten Draufgängergrinsen. »Was meinst du, sollen wir?«

»Also, ich bleibe jedenfalls nicht hier!«

»Dann beeil dich«, drängte Alix. »Sie sind fast durch. Mehr als dreißig Atemzüge gebe ich der Tür nicht.«

Vorsichtig tastete sich Rena mit dem Fuß nach unten und schloss die Finger um die Krampen. Es war ein gruseliges Gefühl, ins Unbekannte hinabzusteigen. Schließlich endeten die Griffe, nach erstaunlich kurzer Strecke. Ihre Zehen tasteten ins Leere. Rena schnalzte kurz und scharf mit der Zunge und lauschte auf das Echo. Es ging nicht mehr sehr weit hinunter. Sie sprang – und landete fast sofort wieder. Ihr linker Fuß sank mit einem schmatzenden Geräusch in eine schleimige Masse ein. Es roch nach Verwesung. »Uäh«, stieß Rena hervor und musste würgen.

»Was ist?«, rief Alix, deren Füße über ihr baumelten.

Rena blickte an sich hinunter. »Ich bin in einen toten Wühler getreten. Aber sonst ist alles in Ordnung!«

An der Wand sah sie einen quadratischen weißen Stein, der dem Sockel sehr ähnlich war, nur reichte er horizontal in die Wand hinein. Kaum war Alix zu ihr heruntergesprungen, knallte Rena die Faust darauf – und tatsächlich, der große weiße Steinsockel setzte sich in Bewegung, glitt an ihnen vorbei nach oben. Mit einem leisen Knirschen schob er sich wieder an seinen Platz, und Alix und Rena standen in der Dunkelheit. Gedämpft konnten sie hören, wie die Wachen durchbrachen und die Eisentür mit einem dumpfen Wumm! gegen die Wand des Saales geschleudert wurde.

Rena wollte losrennen, den Gang hinunter, aber eine Hand auf ihrem Arm hielt sie zurück. »Nichts überstürzen«, erklang Alix’ Stimme leise aus der Dunkelheit. »Ich glaube nicht, dass die Wachen von dem hier wissen.«

Tatsächlich: Sie konnten Rufe und das Geräusch vieler Füße über sich hören, aber der Sockel bewegte sich nicht. Dann wurde es wieder still, die Soldaten schienen abgezogen zu sein.

Vorsichtig, fast ohne einen Laut, tasteten Alix und Rena sich in der Dunkelheit voran. In diesem Gang gab es keine Fackeln an den Wänden, kein einziger Lichtschimmer drang herein. Rena konnte hören, wie Alix in ihren Taschen wühlte. »Warte, ich hatte doch hier noch irgendwo … ah!« Die Schmiedin murmelte eine Formel, und ein Funke zuckte aus der Luft auf ein Stück gedrehte Pflanzenfaser nieder, das sie in der Hand hielt.

Rena sah sich um. Sie schienen in einen anderen, verborgenen Teil der Felsenburg vorgedrungen zu sein. Die Gänge hier waren schmaler und nicht verziert. Ihre Wände waren glatt, ohne eine einzige Skulptur. Staub, Erdkrümel und tote Insekten bedeckten den Boden, in einer Ecke lagen die Skelette von zwei weiteren toten Wühlern. Die Luft roch abgestanden. Es war so kühl, dass Rena in ihrer leichten Tunika zitterte.

»Puh, das hier scheint einer der toten Gänge der Burg zu sein«, sagte Alix. »Vielleicht ist hier schon seit hundert Wintern niemand mehr gewesen.«

Doch als Rena sich herunterbeugte, sah sie, dass in der Mitte des Pfades eine Vielzahl von menschlichen Fußspuren und Pfotenabdrücken zu sehen war, darunter auch frische. Es wirkte beinahe wie ein schmaler Trampelpfad. »Falsch geraten«, sagte sie und zeigte auf die Spuren. »Hier war noch vor kurzer Zeit jemand.«

Mit gerunzelter Stirn beugte sich Alix über die Fußabdrücke. »Vielleicht sind die von dem, der die Quelle geholt hat. Von unten, an den Wachen vorbei. Witzig.«

Langsam gingen sie voran. Der Gang war leicht abschüssig, sie kamen immer tiefer. Rena verfolgte die Spuren auf dem Boden und beugte sich ab und zu hinunter, um sie abzutasten. »Es muss jemand gewesen sein, der sich sehr gut in der Burg ausken…«

In diesem Moment stieß Alix einen Ruf der Überraschung aus. Rena blickte hoch – und sah einen Menschen vor sich, kaum zehn Armlängen entfernt.

Wenige Atemzüge standen sie wie gebannt voreinander, niemand bewegte sich.

Die Gestalt hatte sich ihnen zugewandt und schien sie anzublicken. Sie war eher schmächtig und kaum größer als Rena. Man konnte ihr Gesicht nicht erkennen, sie hatte sich die Kapuze ihrer dunklen Robe über den Kopf geworfen.

Es musste einer der Berater sein. Rena öffnete den Mund, um ihn anzusprechen, irgendetwas zu sagen, doch sie kam nicht dazu.

Schon kam Leben in die dunkle Gestalt. Sie drehte sich herum und begann mit schnellen Schritten den Gang hinabzugehen. Die schwarze Robe bauschte sich hinter ihr wie die Schwingen eines großen Vogels. Dann bog sie um eine Kurve und war verschwunden.

Alix und Rena erwachten aus ihrer Erstarrung. »Los, hinterher!«, rief Alix. »Wir dürfen ihn nicht entkommen lassen.«

Doch das war leichter gesagt als getan. Als sie mit vollem Tempo um eine Ecke bogen, schrie Alix auf und warf sich zurück. Rena prallte auf sie, und in einem Knäuel von Armen und Beinen gingen sie zu Boden. Ihre Flamme erlosch, und sie saßen im Dunkeln. Vorsichtig raffte Rena sich auf. »Was ist los?«

Alix antwortete nicht, sie zündete die Fasern wieder an und zeigte in den Gang vor ihnen. Der Boden war dicht an dicht mit handhohen spitzen Dornen besetzt, die im schwachen Licht schwärzlich glänzten. Dieses Stachelfeld zog sich etwa drei Menschenlängen weit den Gang hinunter. Vorsichtig beugte sich Alix nach vorne und berührte eine der Stacheln an der Seite ganz leicht mit dem Finger. Dann leckte sie ihren Finger ab und verzog das Gesicht. »Gift. Genauer gesagt ein Sud aus dem Panzer des Xenfian-Käfers. Den Geschmack kenne ich.«

Rena fühlte, wie ein Schauer sie überlief. Wie knapp das eben gewesen war. Beunruhigt sah sie bei Alix’ Experimenten zu. »Aber … ist das nicht gefährlich, das Zeug in den Mund zu bekommen?«

»Nein, es ist nur tödlich, wenn es in den Blutstrom gerät«, sagte Alix, ohne die Augen von den Dornen abzuwenden. »Dann verreckt man ein paar Atemzüge später unter grässlichen Krämpfen.«

»Verfluchte Blattfäule, über dieses Stachelfeld kommen wir nicht rüber«, meinte Rena entmutigt. »So weit kann niemand springen!«

»Vielleicht kann man sich irgendwie an der Decke entlanghangeln.«

Rena spähte nach oben. »Man kann sich nirgendwo festhalten. Wenn wir zwei Bretter hätten, dann wäre es gar kein Problem – wir bräuchten sie nur über die Spitzen zu legen und uns vorzuarbeiten.«

Doch nichts, das sie dabeihatten oder was herumlag, eignete sich dafür. Rena suchte nicht lange, sondern schaute sich stattdessen im Gang um und betastete die Wände. Alix begriff sofort. »Du meinst, es gibt hier einen geheimen Auslöser, mit dem man das Stachelfeld unschädlich macht?«

»Irgendwie muss diese Schwarzkutte ja über die Spitzen gekommen sein. Natürlich kann es auch sein, dass ein Wächter sie senkt, wenn jemand vorbeikommt, der vorbeidarf. Dann haben wir Pech.« Rena überlegte. »Aber es kann auch sein, dass die Stacheln immer hier sind und man sie mit einem geheimen Kniff senkt, wenn man vorbeiwill.«

Während sie selbst die Wände absuchte, kniete sich Alix neben dem tödlichen Teppich der Metallspitzen und betrachtete ihn aus der Nähe. Dann begann sie, mit angefeuchtetem Finger auch noch andere Stacheln der ersten Reihen auf Gift zu testen. Ab und zu spuckte sie angewidert aus. »Bäh, morgen werde ich ein erstklassiges Magenweh haben. Aber es kann sein, dass einer dieser Spitzen nur eine Attrappe und der Auslöser ist. Wenn wir wüssten, welche es ist, könnten wir das Feld schnell aus dem Weg schaffen.«

Und tatsächlich: Schon nach kurzer Zeit schrie Alix triumphierend auf. »Rena! Schau dir das an!«

Zügig sanken die Metallspitzen in den Boden zurück. Schließlich war nichts mehr von ihnen zu sehen, nur viele ordentlich angeordnete Löcher. Alix testete, ob auch wirklich kein Teil des Stachels mehr über den Boden ragte und man gefahrlos darüber gehen konnte. »Auf einer war kein Gift«, erklärte sie. »Sie war blanker als die anderen, anscheinend haben die Kutten ein paarmal zu oft drauf gegriffen und nicht daran gedacht, schwarze Farbe nachzustreichen.«

Sie arbeiteten sich weiter den Gang entlang. Zu rennen wagten sie nicht mehr, jetzt wussten sie, dass hinter jeder Ecke eine tödliche Falle lauern konnte. Ihre Vorsicht zahlte sich aus – nicht weit von den Dornen entfernt hörten sie ein leises Zischen aus der Dunkelheit dringen. Rena fühlte, wie ihr trotz der Kälte der Schweiß ausbrach, als sie sich langsam vorwärts pirschten. Sie konnte gerade noch zur Seite springen, als eine Feuerwolke ihr entgegen quoll. Ein schwarzrot gemustertes Reptil – fast so groß wie sie selbst – mit breiter, stumpfer Schnauze, fauchte sie an und kroch zischend auf sie zu.

»Nichts wie weg hier!«, schrie Rena.

Doch Alix lachte nur. »Das ist ein Tass, eins von den Biestern, mit denen ich als Kind gespielt habe. Ich wusste gar nicht, dass man sie auch außerhalb meiner Provinz halten kann.«

Rena erinnerte sich an das seltsame Spiel, das sie in Tassos beobachtet hatte, an die Kinder, die sich damit amüsiert hatten, ein feuerspuckendes Reptil zum Angriff zu reizen. Mochte sein, dass das für einen Menschen der Feuergilde ein toller Freizeitspaß war, aber sie von der Erdgilde wollte mit so einem Vieh nichts zu tun haben. »Äh, könntest du vielleicht netterweise …?«

»Kein Problem«, sagte Alix. Sie tat so, als wolle sie das Tass von rechts angreifen, wich flink nach links aus und hatte dem Tier im nächsten Moment schon ihren Fuß in den Nacken gestellt. Mit fachmännischem Griff packte sie es am Schwanz und schleuderte es von sich. Laut zischend machte sich das Tass aus dem Staub.

Als sie weitergingen, hätte Rena vor lauter Aufregung beinahe nicht gemerkt, dass sich ihr Kopf eigenartig anfühlte. Doch dann erkannte sie die Empfindung wieder und hätte am liebsten einen Freudenschrei ausgestoßen. Es war, als berührten tastende Finger ihr Bewusstsein. Die Quelle war nicht weit!

Sie erzählte Alix davon, und die Schmiedin seufzte erleichtert auf. »Endlich. Aber das heißt auch, dass wir ab jetzt leise sein sollten, weil die Kerle in der Nähe sein könnten.«

Rena nickte. Als sie sich weiterpirschten, war sie froh, dass sie die Quelle schon spürte, denn sie kamen bald an eine Abzweigung, die in vier verschiedene Himmelsrichtungen führte. Ohne Zögern entschied sich Rena für die linke. Alix folgte ihr. Kurz danach zweigten drei verschiedene Gänge ab, und Rena wählte den mittleren. Doch nach ein paar Atemzügen kniete Alix nieder und untersuchte den Boden. »Komisch, hier sind keine frischen Fußspuren mehr. Auch keine alten. Alles verwischt worden. Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?«

Rena runzelte die Stirn. »Gehen wir ein Stück zurück.«

Doch das brachte wenig, und sie nahmen wieder den mittleren Gang. Rena schloss die Augen und überließ es Alix, auf Gefahren zu achten. Blind folgte sie der Quelle und versuchte, auch noch die kleinsten Veränderungen ihres Rufs zu erspüren. Sie war sicher, dass sie sich ohne Bedenken davon leiten lassen konnte und dass es sie direkt zum Ziel führen würde. Sie war sich genauso lange sicher, bis sie mit dem Gesicht frontal an eine Steinwand knallte und sich die Nasenspitze aufschürfte. »Au! Was war das?«

»Die Gangwand«, meinte Alix trocken. »Hör mal, kann man sich auf dein Springbrünnchen wirklich verlassen?«

Verdutzt betrachtete Rena die Wand, auf die sie geprallt war. Sie sah genauso roh behauen aus wie der Rest dieses unheimlichen Ganges. Genauso angefühlt hatte sie sich auch. Aber angehört hatte sie sich irgendwie seltsam. Probeweise schlug Rena mit der Faust auf den gegenüberliegenden Teil der Wand, obwohl Alix sie ärgerlich anschaute, weil sie so viel Lärm machte.

»Moment«, sagte Rena und näherte sich der Wand, zu der die Quelle sie führte, bis ihre Nase sie fast wieder berührte. Erst jetzt sah sie den haarfeinen senkrechten Riss, der verriet, dass der Stein hier gespalten worden war. Wenig später fand sie auch eine unregelmäßige flache Einbuchtung, die vielversprechend aussah. Rena drückte fest dagegen, es klickte leise, und ein großes Stück des Felsens schwenkte nach hinten.

Alix stieß einen leisen Pfiff aus.

Hinter der Felsentür führte eine Treppe in die Tiefe. So leise wie möglich schlichen sie die Stufen hinunter. Alix löschte die Fackel, sie brauchten sie nicht mehr. Von unten drang ein weicher Lichtschein nach oben. Wenige Atemzüge später standen sie im geheimsten Saal der Felsenburg.