D er große Raum schien roh aus dem schwarzen Felsen heraus gemeißelt worden zu sein, Verzierungen gab es hier keine. Zwei Dutzend einfacher, viereckiger Säulen stützten die niedrige Decke. Von den Seiten führten Türen weg. Stimmen, die Stimmen vieler Menschen, die erregt diskutierten, echoten von den Wänden.
Rena und Alix glitten hinter eine der Säulen. Eine Gestalt in schwarzer Kutte schritt vorbei, aber die still hinter der Säule kauernden Frauen bemerkte sie nicht.
Rena riskierte einen vorsichtigen Blick hinter der Säule hervor, und als sie den Kopf wieder zurückzog, ging ihr Atem noch schneller als ohnehin schon. Auf der einen Seite des großen Raumes stand ein steinerner Tisch; etwa zehn Männer saßen um ihn herum. Sie alle trugen schwarze Kutten, doch die Kapuzen hatten sie zurückgeworfen. Drei Iltismenschen trugen ein Getränk auf, aus den Krügen stieg ein bittersüßlicher Geruch auf. Offensichtlich hatte niemand geglaubt, dass Rena und Alix die Hindernisse überwinden konnten, denn die Männer in den schwarzen Kutten schienen zwar nervös, aber nicht in heller Aufregung.
Bei ihrem nächsten Blick sondierte Rena einen anderen Teil des Raumes. Dort war eine freie Fläche ohne Säulen, auf deren Boden Zeichen eingeritzt waren und handhohe, geschnitzte Figuren aufgestellt. Und dahinter … stand ein Sockel aus schwarzem Stein. Renas Augen weiteten sich, als sie den unscheinbaren Kiesel darauf sah. Die Quelle ! Wellen der Kraft gingen von ihr aus – offenbar, ohne dass es die Berater störte, vielleicht spürten sie es nicht.
Rena ahnte, dass es nicht einfach sein würde, die Quelle zu fassen zu bekommen. Im Raum standen sechs Farak-Alit in ihren schwarz-silbernen Uniformen Wache.
»Einer der Vermittler hat gestern die Burg verlassen. Ich vermute, dass er mit den Aufständischen gemeinsame Sache macht«, sagte gerade einer der Schwarzen Kutten am großen Tisch. »Wir sollten ihn so schnell wie möglich loswerden.«
Alix wandte sich Rena zu und formte mit den Lippen das Wort Ennobar. Rena nickte. Hoffentlich kamen sie noch rechtzeitig hier heraus, um ihn warnen zu können.
Ein anderes Mitglied der Schwarzen Kutten ergriff das Wort. »Gibt es schon Einzelheiten über diesen seltsamen Aufmarsch vor den Toren?«
»Ich habe ein paar unserer Leute ausgeschickt, sie mischen sich in die Menge. Genaueres wissen wir noch nicht. Wenn es noch lange dauert, werde ich die Vierte Gruppe ausschicken und diesen Unsinn beenden.«
Hoffentlich passiert Rowan dabei nichts, dachte Rena besorgt. Sie rümpfte die Nase. Irgendwo hier war ein unangenehmer Geruch. Erst nach einem Moment begriff sie, dass sie ranziges Fell roch. Rena fuhr herum und prallte fast auf die spitze Schnauze eines der Iltismenschen, die die Schwarzen Kutten bedient hatten. Er hatte sie wohl gewittert und sich lautlos angepirscht. Misstrauisch betrachtete er sie. Rena lächelte ihn an. Sie fühlte keine Angst – schließlich musste sie ihm nur erklären, dass Alix eine Verbündete und sie selbst die Frau mit den tausend Zungen war. Doch sie bekam gar nicht erst die Gelegenheit. Der Halbmensch stieß einen heiseren Ruf in Daresi aus. »Fremde!«
»Oh, Rostfraß und Asche!«, stöhnte Alix. »Und das schimpft sich Verbündeter!«
Ein paar Atemzüge später wanden sie sich im Griff der Farak-Alit.
»Das sind die beiden, die mir vorhin im Gang begegnet sind!«, rief einer der Männer, er hatte eine schmale Statur und eine große Narbe über dem Nasenrücken.
»Eine Schande, dass sie so weit vordringen konnten«, sagte ein anderer Berater wütend. Er hatte ein verlebtes rundes Gesicht mit harten Augen und einen silbernen Haarkranz. »Gan, du hättest nie herkommen dürfen, nachdem sie dich gesehen haben.«
Dem Angesprochenen schienen die Vorwürfe nicht zu behagen. »Woher sollte ich wissen, dass die Fallen im Gang sie nicht aufhalten würden und niemand von unseren Wachen dazu fähig sein würde, sie abzufangen?«
Jetzt wandte der Mann mit den harten Augen sich an Rena und Alix. »Wer seid ihr?«
Es war sinnlos, alles zu leugnen – aus reiner Neugier bemühte sich niemand, die Abwehrsysteme der Berater zu überwinden. Doch bevor Rena eine Antwort eingefallen war, ergriff Alix das Wort. »Das ist unwichtig. Aber wir wissen, wer Ihr seid«, sagte sie verächtlich. »Ihr seid der Abschaum von Daresh, weil ihr regiert, ohne dass es jemand wünscht und weiß.«
Ein wohlbeleibter Berater stöhnte: »Verdammt, wieder der Archivar. Wir hätten ihn längst von seiner Insel fegen lassen sollen.«
Doch der Mann mit den silbernen Haaren achtete nicht auf die Bemerkung, er musterte die beiden Eindringlinge genau. »Ich glaube, ich weiß, wer sie sind. Es sind zwei von denen, die in letzter Zeit zu den Residenzen gereist sind. Die Beschreibung passt jedenfalls. Höchste Zeit, sie loszuwerden! Hat eigentlich jemand unserer lieben Hetta Bescheid gesagt?«
»Ist das nötig?«, fragte der beleibte Berater. Als er keine Antwort bekam, winkte er einen der Iltismenschen heran und flüsterte mit ihm. Der kleine Halbmensch nickte und glitt durch die Eingangstür des Saales davon. Schwerfällig richtete der Mann in der schwarzen Kutte sich wieder auf. »Wer ist oben bei ihr?«
»Kar«, sagte ein anderer.
»Das ist gut. Er wird wissen, was zu tun ist.«
Die Soldaten schoben Rena und Alix in eine Ecke zwischen den Säulen, während sich die Berater zu einer aufgeregten Besprechung zurückzogen. Rena wunderte sich, dass sie beide nicht durchsucht worden waren. Wahrscheinlich fühlten die Wachen sich zu sechst sicher. Ihr war elend zumute. Ihre Augen irrten wieder zu der Quelle auf ihrem schwarzen Thron. Wenn es doch irgendeinen Weg gäbe, an sie heranzukommen!
Schließlich hörten sie das Geräusch einer sich öffnenden Tür, und zwei weitere Berater kamen herein. Renas Ohren fingen ein leises Gespräch zwischen den Schwarzen Kutten auf, sie stellten einen der Neuankömmlinge zur Rede: »Wieso hast du sie mitgebracht?«
»Ich habe sie nicht mitgebracht«, zischte der Neuankömmling zurück. »Ich konnte sie nicht aufhalten, sie wollte das Mädchen unbedingt sehen!«
Rena ahnte schon, wen die Schwarzen Kutten meinten. In diesem Moment betrat eine junge Frau den Raum, und die Männer murmelten Grüße, ohne sich umzudrehen oder ihre Gespräche zu unterbrechen. Rena erkannte die Frau sofort, obwohl es schon eine Ewigkeit her zu sein schien, dass sie sie zuletzt gesehen hatte. Sie hatte graue Augen und rote Haare, die ihr bis zum Gürtel fielen. Zwischen den Männern mit ihren schwarzen Roben wirkte sie mit ihrem kostbaren Kleid fehl am Platz. Es war die Regentin!
Rena musste schlucken. Trotz allem, was ihnen der Archivar erzählt hatte, wurde sie die Ehrfurcht vor dieser Frau nicht los.
Die Regentin betrachtete Alix und ließ den Blick dann auf Rena ruhen. Tatsächlich – sie sah neugierig aus. Ihr Gesicht war aus der Nähe jünger, als Rena es in Erinnerung hatte. Doch auch die Regentin schien erstaunt, vielleicht weil Rena dem Alter nach nur ein Lehrlingsmädchen war.
»Dich kenne ich«, sagte sie. »Du bist Rena ke Alaak.«
Es war das erste Mal, dass Rena sie sprechen hörte, und sie war geschockt – nicht nur, weil eine der mächtigsten Frauen von Daresh ihren Namen kannte. Auch, weil die Regentin eine hohe, etwas schrille Stimme hatte, die Stimme eines jungen Mädchens. Nun ahnte Rena, warum die »Frau aus Stein« in der Öffentlichkeit so selten sprach. Wahrscheinlich hatten es ihre Berater ihr verboten, damit sie den majestätischen Eindruck nicht zunichtemachte.
»Du hättest oben im Saal bleiben sollen«, sagte einer der Männer – der mit den silbernen Haaren – zu der Regentin. War er ihr Vater?
»Ich gehe gleich wieder hoch. Wisst ihr schon, wie die beiden hier reingekommen sind? Waren sie nicht im Schwarzen Nest?«
Der Mann schüttelte einfach den Kopf. Eine der Wachen stieß Alix den Schwertknauf in die Seite – es bedeutete wohl, dass sie antworten sollten. Doch Alix schwieg mürrisch, und auch Rena antwortete nicht sofort. Schließlich konnte es sein, dass sie diesen Ausgang noch einmal brauchen würden, obwohl es im Augenblick nicht so aussah. »Wir haben uns in Verkleidung hereingeschmuggelt«, log sie schließlich.
»Das war keine gute Idee«, entgegnete die Regentin. »Wenn ihr im Schwarzen Nest geblieben wärt, hätten wir euch vielleicht am Leben gelassen.«
Auf einmal packte Rena die Wut. »Das ist doch Blödsinn. Ihr habt uns kein Wasser dagelassen, Essen natürlich erst recht nicht. Vor Ablauf des Ultimatums hättet ihr uns bestimmt nicht raus gelassen. Einige von uns wären so oder so krepiert!«
Die Regentin holte überrascht Luft. Köpfe wandten sich ihnen zu. Wahrscheinlich sind sie nicht gewohnt, dass man so mit ihnen spricht, dachte Rena grimmig.
»Um euch wäre es nicht schade gewesen«, erwiderte die Frau. »Ihr habt die Provinzen gehörig durcheinandergebracht und viel Unfrieden gestiftet.«
Einen Moment war Rena einfach nur verblüfft. »Macht Ihr Witze? Unser Ziel ist der Frieden!«
»Was Ihr Frieden nennt«, mischte der Mann mit der Narbe sich mit glatter, geübter Stimme ein. »Unter einer starken Regentin wird es den Völkern von Daresh viel besser gehen als abhängig von den Launen der einzelnen Gilden.«
»Dummes Gewäsch!«, brüllte Alix. »Den Völkern von Daresh würde es blendend gehen, wenn Ihr sofort bekanntgebt, dass nicht die Feuergilde das Grasmeer abgebrannt hat!«
»Aber so war es doch«, sagte die Regentin. »Die Feuergilde hat es getan.«
Rena fühlte sich, als sei ihr bei Waldarbeiten gerade ein größerer Stamm auf den Kopf gefallen, und die geschockte Stille neben ihr sagte ihr, dass es Alix ähnlich ging. Es hatte ehrlich geklungen, was die Frau aus Stein gesagt hatte. Waren sie einer falschen Fährte gefolgt? Hatte doch der Hass zwischen den Gilden diese Katastrophe verursacht, hatte Alix das Ehrgefühl ihrer Gildenschwestern und -brüder überschätzt? Das würde bedeuten, dass sie ganz umsonst ihr Leben riskiert hatten, um in der Burg nach einem Beweis zu suchen. Es würde bedeuten, dass der Bürgerkrieg nicht zu vermeiden war!
Doch als sich das Schweigen in die Länge zog, spürte Rena wieder Hoffnung in sich keimen. Keiner der Schwarzen Kutten sagte ein Wort – nicht einmal zustimmendes Gemurmel war zu hören. In der Stille spürte auch die Regentin, dass etwas nicht in Ordnung war. »Die Feuergilde hat es getan«, wiederholte sie, aber es klang wie eine Frage. Ihre Stimme wurde lauter, und diesmal wandte sich die Regentin direkt an den Mann mit den silbernen Haaren. »Sie hat es doch, nicht wahr, Nemur?«
»Es war der einzige Weg, die Macht der Feuergilde zu brechen«, sagte der Mann ruhig. »Wir hatten gemerkt, dass es nicht ausreicht, nur Verräter einzuschleusen.«
Erst schien die Regentin verwirrt, doch dann begriff sie, was der Satz bedeutete. »Du hast es mir nicht gesagt«, sagte sie, und plötzlich zitterte ihre Unterlippe. Rena traute ihren Augen nicht. Was vor ihr stand, war keine Frau aus Stein. Es war ein verunsichertes Mädchen namens Hetta, das nur ein paar Winter älter war als sie selbst. »Du dachtest, ich würde nicht herausfinden, dass wir es waren!«
»Glaub mir, es war notwendig.«
»Ich rede nicht vom Grasmeer, das verdammte Grasmeer interessiert mich nicht, ich rede davon, dass ich nichts davon wusste! Wie viel hast du mir noch verschwiegen?«
Die Farak-Alit, die Iltismenschen, Rena und Alix, die anderen Schwarzen Kutten – sie alle hätten genauso gut Steine sein können. Auf einmal waren sie nur noch Zuschauer eines ganz anderen Dramas. Rena wusste, dass sie es nicht unterbrechen konnte, genauso, wie man den Fall eines toten Baumes nicht aufhalten durfte. Aber die Zeit des Ultimatums lief unerbittlich ab. Sie konnte sich nicht daran hindern, nervös zu Alix hinüberzublicken.
»Beruhige dich«, sagte der Mann in der schwarzen Robe kühl. »Auch du wolltest die Macht. Wirf mir nicht vor, was du selbst begehrt hast. Wir haben getan, was du wolltest – ohne dich damit zu belasten. Du müsstest dankbar sein.«
»Ich glaube, ich war viel zu lange dankbar«, sagte die junge Frau. »Du wolltest gar nicht das Beste für mich, sondern nur für dich selbst und die anderen.«
»Ohne uns wärst du nichts, Hetta!«
»Mag sein, aber ohne mich wärst du ebenfalls nichts! Niemand würde euren Befehlen folgen. Ich bin die Herrscherin von Daresh, nicht ihr!«
Der Mann mit der Narbe begann zu lachen, und andere Schwarze Kutten stimmten ein. Rena sah, dass die Augen der Regentin tränenfeucht zu glänzen begannen.
So fasziniert Rena von dem Gespräch war, so verzweifelt war sie auch. Sie versuchte auszurechnen, wie viele Atemzüge ihnen noch blieben, bis sie die Burg verlassen mussten. Es waren nicht mehr viele.
Wieder sah sie verstohlen zu Alix hinüber. Der Blick der Feuerfrau bohrte sich so intensiv in ihren, dass Rena begriff, dass sie ihr etwas mitteilen wollte. Langsam und betont ließ Alix ihren Blick zu den Bewaffneten, dann zur Quelle und zurück wandern. Rena begriff, aber sie konnte es nicht glauben. Wollte Alix es tatsächlich mit all diesen Farak-Alit aufnehmen und sie ablenken, damit Rena währenddessen versuchen konnte, sich die Quelle zu greifen? Ja, der Zeitpunkt war gut, denn alle Schwarzen Kutten verfolgten den Streit mit Spannung, sogar die Wachen und die beiden Iltismenschen lauschten. Aber es war trotzdem Selbstmord!
Sie opfert sich, damit die Gilden leben können, dachte Rena. Es zerriss sie fast, wenn sie daran dachte, dass Alix wahrscheinlich sterben würde, aber die Feuerfrau hatte recht. Es musste jetzt sein. Wenn sie noch länger warteten, verstrich die Frist, und ob sie ihr Leben behalten durften, war noch lange nicht sicher.
Ganz leicht nickte Rena zu Alix hinüber: einverstanden . Die Hand in der Tasche ihrer Tunika um ihren Talisman, das Stück Windrad, gekrampft, wartete sie mit angespanntem Körper darauf, dass die Feuerfrau losschlug. Es geschah mit der Geschwindigkeit und Grazie eines angreifenden Raubtiers, schnell und hart. Jetzt wurde es für die Truppen zum Verhängnis, dass sie sie nicht durchsucht hatten. Einen Lidschlag später sank einer der Farak-Alit, der sie bewacht hatte, von einem Dolch getroffen zusammen, ein zweiter taumelte, aus einer tiefen Wunde blutend, in Richtung Wand. Doch Alix’ Ziel waren nicht die Wachen, sie warf sich auf den Mann mit den silbernen Haaren, die wertvollste Geisel.
Die Farak-Alit begriffen, was sie plante, und Alix kam nicht weit. Ein Wald von Klingen wuchs vor der schwarzen Kutte des Beraters. Ihre Waffen trafen Alix’ Schwert mit einem ohrenzerfetzenden Geräusch und einer Wucht, die gereicht hätte, eine schlechte Klinge in fingerlange Stücke zerbrechen zu lassen.
Rena verschwendete keine Zeit. Sie rannte los, auf die Quelle zu. Der Stein war keine drei Menschenlängen entfernt. Geschickt hatte Alix den Kampf auf die andere Seite des Raumes gezogen, weg von der Quelle und zu den Säulen hin.
Die eingeritzten Linien im Boden stellten sich als detaillierte Karte von Daresh heraus – Rena fand sich mit den Füßen mitten in der Provinz der Luftgilde wieder. Doch Alix’ Warnschrei ließ sie herumfahren. Hinter ihr hob ein Soldat die Klinge zum Schlag, und erschrocken machte Rena zwei Schritte rückwärts. Sie stolperte über die bemalten Tonfiguren, die in den einzelnen Orten stationierte Truppen verkörperten, und rollte zwischen ihnen in die Umrisse der Provinz Tassos hinein. Der Schlag ging ins Leere. Der Farak-Alit, der ihr auf den Fersen gewesen war, ein schnurrbärtiger Dunkelhaariger, kam ebenfalls auf den Figuren zu Fall und ging fluchend in der Nähe von Ekaterin zu Boden.
Schnell arbeitete sich Rena weiter vor. Doch inzwischen hatten die Farak-Alit Alix aus dem Schutz der Säulen herausgetrieben, Klingen blitzten ganz in Renas Nähe durch die Luft. Sie konnte einem Schlag nicht schnell genug ausweichen, er schlitzte den Ärmel ihrer Tunika auf und sandte einen stechenden Schmerz durch ihren Arm. Rena schrie auf und presste die Hand auf den blutenden Schnitt.
Unnatürlich groß schien die Quelle auf ihrem Sockel vor ihr zu schweben, sie war zum Greifen nah. Rena spannte ihren Körper an und streckte die unverletzte Hand aus. Als sich plötzlich eine Gestalt zwischen sie und die Quelle schob, hätte sie brüllen können vor Enttäuschung und Verzweiflung. Vor ihr stand der schwer bewaffnete Farak-Alit, der vorhin auf den Figuren ausgerutscht war. Sein blasses Gesicht war vor Wut verzerrt.
Es sprach sich in Windeseile herum, dass sich vor der Burg etwas tat. Nicht alle, die aus den umliegenden Dörfern gekommen waren, wussten, worum es ging, sie wollten einfach da sein, wo etwas los war. Aber Rowan bemerkte, dass sich die Leute die Geschichte von Renas Reise und den Forderungen der Delegierten schnell untereinander erzählten.
Zufrieden überblickte Rowan die Menschen, die sich inzwischen vor dem Tor versammelt hatten. Allmählich ging das hier als Menge durch. Alle Gilden waren vertreten, und auch ein paar Halbmenschen waren hinzugekommen. Schüchtern schlichen sie herum, bevor sie wagten, sich unter die »Dörflinge« zu mischen. Niemand schien sich daran zu stören, dass sie da waren, obwohl die Stimmung aufgeladen war. Fackeln, Stöcke und Schwerter wurden vor der Burg geschwenkt. Ab und zu warf jemand einen Stein, der mit einem Poltern vom großen Tor abprallte.
Rowan brauchte kaum noch Anweisungen zu geben. Die Menschen hatten so viel Wut aufgestaut, dass er eher Mühe hatte, sie davon abzuhalten, das Tor einzureißen und die Burg zu stürmen. Die Wächter der Felsenburg schienen das zu ahnen, denn sie hielten die Eingänge fest verschlossen und doppelt gesichert. Alle Wachstationen waren besetzt, und Rowan konnte die grimmigen Gesichter der Soldaten auf den Beobachtungsposten sehen. Durch kleine Risse im Tor erkannte er Lichtschein und Bewegungen auf den Innenhöfen. Er grinste. Die hatten sie ordentlich aufgescheucht. Bestimmt ahnten sie nicht, dass der Feind längst in die Burg eingedrungen war. Wo Rena und Alix jetzt wohl waren? Vor seinem inneren Auge sah er Renas Gesicht, dessen Form seine Fingerspitzen schon häufig nachgezeichnet hatten. Ihre dunklen Augen, die so oft neugierig oder nachdenklich dreinblickten, ihre zierliche Gestalt. Schon jetzt vermisste er sie furchtbar.
Was auch immer passiert, du musst zu mir zurückkommen, beschwor er sie lautlos und hoffte, dass Alix und der Talisman, den er Rena gegeben hatte, sie beschützen würden.
Aus alter Gewohnheit hob er die Hand, um das Gefieder seines Pfadfinders zu streicheln. Ließ sie wieder sinken. Diese verdammten Kerle!
Mit hämmerndem Herzen streckte Rena die Hände aus, um zu zeigen, dass sie unbewaffnet war. Nach ein paar Atemzügen wich der irre Blick aus den Augen des Soldaten, das Schwert vor Renas Nase senkte sich ein paar Fingerlängen. »Beweg dich nicht, kleine Bestie!«, gellte es Rena in den Ohren. Der Mann winkte einen seiner Mitkämpfer heran und entrollte einen kurzen Strick von seinem Ausrüstungsgürtel. Anscheinend sollten die Eindringlinge möglichst lebend gefangen werden.
Doch die Verstärkung ließ auf sich warten, die anderen Soldaten hatten mit Alix alle Hände voll zu tun. Ärgerlich wandte der Farak-Alit den Kopf, um zu sehen, wo sie blieben. Rena nutzte diese Unachtsamkeit und gab Fersengeld. Sie tauchte zwischen die schwarzen Säulen und hetzte von einer zur anderen, bis sie sicher war, dass der Soldat sie im Getümmel aus den Augen verloren hatte.
Im unterirdischen Saal war das Chaos ausgebrochen. Aus dem Augenwinkel sah Rena schwarzgekleidete Gestalten kopflos umher eilen, jemand schrie, brüllte Befehle, die niemand verstand. Und mittendrin Alix, die mit jedem Quäntchen ihrer Kraft wie eine Furie kämpfte und es irgendwie geschafft hatte, am Leben zu bleiben.
Renas Augen kehrten zu der Quelle auf ihrem Thron aus dunklem Stein zurück. Es half nichts, sie musste mittendurch und auf die andere Seite des Raumes, sonst kam sie nie heran! Sie verließ den Schutz der Säulen und sprintete los.
Diesmal war die Bahn frei. Vor dem schwarzen Thron stolperte sie wieder einmal über eine der Tonfiguren, fiel gegen den kühlen Stein, griff nach oben, tastete herum, und für einen Moment, den sie nie in ihrem Leben vergessen würde, berührte sie wie damals nach ihrer ersten Audienz die glatte Oberfläche der kleinen Kugel. Sie griff zu … und dann hielt sie die Quelle in der Hand!
Nichts hatte Rena darauf vorbereitet, wie es sich anfühlen würde. Der kleine Stein brannte in ihrer Hand, als hielte sie eine glühende Kohle, kleine Schockwellen jagten durch ihren Geist und Körper. Es schüttelte sie, und sie konnte kaum noch klar sehen, doch ihre Finger ließen nicht locker, krampften sich um ihre lebenswichtige Beute.
Sie musste kurz ohnmächtig geworden sein, denn sie fand sich auf dem Boden wieder und hatte nichts davon gemerkt, dass sie gefallen war. Irgendwie hatte sie gedacht, dass der Kampf beendet sein würde, wenn sie die Quelle hatte. Aber um sie tobte es wie zuvor, und Rena ahnte, dass sie nur deshalb noch lebte, weil die Wachen sie für tot gehalten und nicht mehr auf sie geachtet hatten.
Sie sah sofort, dass Alix in einer verzweifelten Lage war. Zwar waren nur noch drei Farak-Alit übrig, und die Berater beobachteten den Kampf feige aus den Ecken des Raumes, doch die restlichen Elitesoldaten hatten es geschafft, Alix in eine Ecke zu drängen. Die Bewegungen der Schmiedin waren schon längst nicht mehr so kraftvoll wie am Anfang, und ihre Tunika war an mehreren Stellen blutdurchtränkt, wo Waffen ihr Kettenhemd beschädigt hatten.
Nervös, mit hämmerndem Herzen, beugte sich Rena über die Quelle und hoffte, dass niemand merkte, dass sie sie hatte. Wie entfaltete man ihre Kraft? Konzentrieren, sie musste sich konzentrieren! Doch bei dem Lärm ging das kaum, und die Hast machte sie noch ungeschickter. Rena kamen fast die Tränen.
Schon waren die Regentin und einige der Schwarzen Kutten darauf aufmerksam geworden, was geschehen war und was Rena tat, und versuchten durch das Kampfgetümmel zu ihr vorzudringen.
Ein verwirrtes pelziges Gesicht schwamm in Renas Blickfeld. Die beiden Iltismenschen konnten sich keinen Reim darauf machen, was hier geschah. Als Rena sie sah, erinnerte sie sich plötzlich an die Kampfübungen im unterirdischen Bau tief im Wald, an die Geschwindigkeit, mit der kein menschlicher Kämpfer mithalten konnte, an die scharfen Fangzähne. Aber ob die Kraft der Quelle die Halbmenschen zurückhalten würde? Und vielleicht waren sie längst treue Helfer der Schwarzen Kutten und sogar freiwillig hier – schließlich hatte einer von ihnen sie verraten!
»Grau wie das Wasser, rot wie der Mond, gelb wie die Flamme, weiß wie der Stern« , stöhnte Rena. »Wir brauchen die Hilfe der Caristani!«
»Schwester, du bist eine Schwester?«, rief der eine Iltismensch heiser in seiner Sprache. »Wie kann das sein, wie?«
»Ich habe Freunde unter den Caristani, einer von ihnen hat mir die Formel gegeben!«
»Wie konnten wir dich verraten, wie konnten wir?«
»Ist schon in Ordnung«, keuchte Rena und hoffte, dass die beiden bald aufhörten, blöde Fragen zu stellen. »Könnt ihr uns helfen, oder ist die Quelle zu stark?«
»Sie ist stark, aber nicht so wie vorhin, nein. Wir helfen!«
Wie zwei braun- und cremefarbene Blitze fuhren die beiden Halbmenschen auf die Farak-Alit los. Scharfe Eckzähne rissen die schwarz-silbernen Uniformen in Fetzen, senkten sich in Arme und Beine. Überrascht und erschrocken taumelten die Kämpfer vor diesen unerwarteten Gegnern zurück und ließen wenigstens ein paar Atemzüge lang von Alix ab. Einer der Iltismenschen ging dem Mann mit der Narbe, der nicht mehr weit von Rena entfernt war, an die Kehle und riss ihn zu Boden. Angstvoll zogen sich die anderen Berater wieder in Deckung zurück.
Wenn sie wüssten, was die Quelle wirklich ist, dann hätten sie mich nicht an sie herankommen lassen – nicht mal eine Tagesreise weit, dachte Rena. Sie kauerte sich in eine Ecke zwischen den Säulen und nahm den Stein in beide Hände. Hastig schickte sie ihre Gedanken aus und spürte, wie die Quelle ihren Geist berührte. Sie hatte Kontakt!
Noch wirbelten die Energieströme, die von ihr ausgingen, unkontrolliert herum, und Rena versuchte sie mit den Gedanken zu ordnen wie verfilzte Wollstränge, so dass sie gleichmäßig nebeneinanderliefen. Das schien das Richtige zu sein, denn sie spürte, wie die Kräfte mit jedem Moment wuchsen, anschwollen wie ein Fluss nach der Schneeschmelze. Sie versuchte, die Energie in einem Schwung auszuschicken, in eine bestimmte Richtung zu lenken, aber es klappte nicht.
Rena zwang sich zur Geduld. Sie schloss die Augen, blendete die Welt um sich aus. Die Ströme waren jetzt fast alle gebündelt. Rena stellte sich vor, es seien Holzfasern, die sie in eine Richtung biegen wolle. Sofort spürte sie das Ergebnis. Ja, das funktionierte! Sie probierte, die Fasern von sich zu werfen, stellte sich ihren hervorschießenden Arm vor, die Faust, die sich öffnete, ihre Finger, die sich zum Wurf ausbreiteten – und merkte, wie sich der Boden unter ihr bewegte. Steinbrocken krachten um sie nieder, und Staub rieselte in ihre Haare.
Erschrocken öffnete Rena die Augen und taumelte rückwärts. Die Säule, hinter der sie sich versteckt hatte, war fast völlig zerstört – ein Loch, aus dem noch der Staub rieselte, klaffte in ihrer Mitte.