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Ein Unerwarteter Gast

Marie

„Ich muss zur Arbeit.“ Francesca hatte die schwarze Schürze um ihre Taille gebunden und warf ihr Haar in einem Pferdeschwanz nach hinten. „Wir sehen uns später.“

„Alles klar.“ Wir hatten gerade meine Bewerbungen an eine Menge verschiedener Magazine in New York versendet. Viele von ihnen suchten nach unbezahlten Praktikanten. Hoffentlich würde ich einen richtigen Job bekommen, von dem ich leben konnte. Sonst würde ich ein Jahr lang mittellos sein.

„Mach dir keine Sorgen deswegen.“ Francesca konnte wie immer meine Gedanken lesen. „Es wird sich schon etwas ergeben.“

„Wie kannst du da so sicher sein?“

Sie warf ihre Handtasche über die Schulter. „Es wird alles gut … am Ende.“ Sie warf mir einen Kuss zu, bevor sie das Haus verließ und wegfuhr.

Nun war ich allein im Haus und hatte nichts zu tun. Ich musste mich um die Wäsche und um den Abwasch kümmern, hatte aber keine Lust dazu. Also saß ich nur da und starrte die Wände an.

Wann immer ich allein war, wanderten meine Gedanken zu Axel. Ich fragte mich, was er tat und mit wem er zusammen war. Alexia würde ihre Krallen nach ihm ausstrecken und dann war ich aus dem Rennen. Sie teilte wahrscheinlich jede Nacht das Bett mit ihm.

Der Gedanke machte mich krank.

Es war einen Monat her, seit wir getrennte Wege gegangen waren, und es war klar, dass er sich nicht die ganze Zeit im Zaum halten konnte. Wahrscheinlich hat er am Wochenende verschiedene Mädchen abgeschleppt und sie bis zur Besinnungslosigkeit in seinem Bett gefickt – in dem Bett, in dem ich geschlafen hatte. Jetzt war ich nur eine Erinnerung für ihn – wenn überhaupt.

Als ich ihn im Café gesehen hatte, hatte ich mir erträumt, dass er aus einem bestimmten Grund da sei – um mir zu sagen, dass er einen Fehler gemacht hatte. Diese Fantasie spielte sich ständig in meinem Kopf ab, obwohl ich wünschte, dass es aufhören würde. Es würde niemals wahr werden und ich musste diese Hoffnung aufgeben.

Warum hatte ich mich in ihn verliebt?

Es klingelte an der Tür.

Ich war so sehr mit Nachdenken beschäftigt, dass ich das Geräusch nahender Schritte nicht bemerkt hatte. Ich ging zur Eingangstür und schaute durch das Guckloch, in der Erwartung, dass Pfadfinderinnen oder irgendein Pastor mich zu einer neuen Religion bekehren würde.

Aber es war Hawke.

Moment … was?

Warum stand Hawke vor meiner Tür?

War er hier, um Francesca zu sehen?

Hatte er sich endlich zusammengerauft?

Ich öffnete die Tür schneller, als ich es wollte, und sie krachte gegen die Wand. Der Türstopper war nicht genug, um den Schlag abzufedern. Jetzt war an dieser Stelle eine tiefe Delle in der Wand.

Ups.

Hawke blickte auf das Loch. „Ich kann das reparieren.“

Die Reparatur war im Moment nebensächlich. „Du hast sie gerade verpasst.“ Er war nur drei Minuten zu spät. Jetzt musste er sechs Stunden warten, bis ihre Schicht vorüber war.

„Ich bin nicht hier, um sie zu sehen.“

„Was?“ Die Hoffnung in mir erstarb. Ich dachte, er wäre hier, um sie zurückzugewinnen. Ich stellte mir das Glück auf dem Gesicht meiner Freundin vor, den Unglauben, dass die Liebe ihres Lebens zurückkam.

„Ich bin hier um dich zu sehen.“

„Warum …?“

„Darf ich reinkommen?“

Ich trat zur Seite.

Er trat ein und schloss die Tür hinter sich. „Ich habe gewartet, bis Francesca gegangen ist. Sie wird nicht so bald zurück sein, oder?“

„Nein.“

„Okay.“ Er sah sich das Loch in der Wand an, bevor er sich wieder zu mir drehte. „Ich wollte über Axel reden.“

„Oh …“ Das Gespräch nahm eine unerwartete Wendung.

„Er ist…“ Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, als er versuchte, die richtigen Worte zu finden. „Er ist ein Idiot, Marie. Ich weiß, was er für dich empfindet. Er sagt, er liebt dich nicht, aber ich weiß, dass das nicht stimmt.“

Mein Herz hämmerte in meiner Brust.

„Er ist verwirrt. Er glaubt, dass er die richtige Entscheidung trifft, aber das tut er nicht. Er ist unglücklich ohne dich.“

War er das? Wenn ich sagen würde, dass ich darüber glücklich wäre, wäre ich dann ein schlechter Mensch?

„Ich habe versucht, mit ihm darüber zu reden, aber er hört mir nicht zu. Und dann wurde mir klar, dass ich direkt zu dir kommen musste.“

„Und was soll ich jetzt machen?“

„Das weiß ich nicht …“

Nun, das half ja enorm.

„Vielleicht kannst du mit ihm reden. Konfrontiere ihn damit.“

„Ich soll ihn davon überzeugen, dass er mich liebt und bei mir bleiben soll? Ich soll über den Traum jedes Mädchens reden, der nie wahr werden wird? …“

„Ich weiß, es ist nicht ideal und du verdienst etwas Besseres, aber es ist besser als die Alternative.“

„Und die wäre …?“

„Getrennte Wege zu gehen.“

Ich war schon seit einem Monat ohne ihn und ich hasste es. Es war schlimm. „Einen Monat ist es jetzt her, Hawke. Wenn er seine Meinung bis jetzt nicht geändert hat, wird er es nie tun.“

„Du solltest ihn über dich reden hören … er sagt ziemlich ernste Dinge. Er hat mir gerade gesagt, dass er nachts vor deinem Haus parkt, weil er nur so schlafen kann … weil er dir dann nahe ist.“

Mir blieb der Mund offen stehen.

„Er hat mir gesagt, dass er mit keiner anderen geschlafen hat, weil er nicht mit jemand anderem zusammen sein will.“

Neues Leben pochte in meinem Herzen.

„Er sagt, dass er ohne dich unglücklich ist. Er kann sich kaum auf die Arbeit konzentrieren, und der Grund, warum er ins The Grind ging, war, dass er nur mit dir reden wollte … weil er dich vermisst.“

All das war zu schön, um wahr zu sein.

„Er kann nicht all diese Dinge sagen, und nicht verliebt sein. Das geht nicht.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, ruhig zu bleiben. Alles, was er sagte, war Musik in meinen Ohren. Axel litt genauso sehr wie ich. Wir konnten es nicht ertragen, voneinander getrennt zu sein. Was wir hatten, war mehr als nur eine kurze Affäre. „Das hat er wirklich gesagt?“

Er nickte. „Ich schwöre es.“

Das Blut stieg mir in den Kopf und ich fühlte mich etwas benommen.

„Sprich mit ihm.“

„Und was soll ich sagen?“

„Erzähl ihm alles, was ich dir erzählt habe. Bring ihn zur Vernunft. Ich kann es nicht.“

Nachdem er mich so sehr verletzt hatte, war ich mir nicht sicher, ob ich das könnte. Ich hielt mich nie für eine stolze Frau, aber ich befürchtete, dass ich dafür zu Stolz war. Er sollte zu mir zurückkriechen, nicht umgekehrt.

„Ich weiß, dass das nicht ideal für dich ist. Ich wünschte, er würde einfach seinen Arsch hochkriegen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Er ist mein bester Freund und ich möchte nicht, dass er so endet wie ich. Er verdient es, glücklich zu sein.“

„Enden wie du?“

Er zuckte mit den Schultern. „Absolut unglücklich.“

Ich sah ihn verständnislos an, denn ich verstand sein Problem nicht.

„Ich habe meinen Teil getan und mich eingemischt. Der Rest liegt an dir.“ Er wandte sich wieder der Wand zu. „Du hast nicht zufällig Werkzeug hier, oder?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Francesca hat ein paar Sachen in der Garage.“

„Alles klar. Ich kümmere mich darum.“

Francesca kam herein und schloss die Haustür. „Ich bin zu Hause.“

„Willkommen.“ Ich hoffte, sie würde die nasse Spachtelmasse an der Wand nicht bemerken. Wenn sie nicht direkt hinsah, würde sie es wahrscheinlich nicht bemerken.

Francescas Stimme war zögernd. „Was ist das?“

Verdammt.

„Was?“ Ich versuchte, auf dumm zu machen.

„Da ist ein Loch in der Wand. Was hast du gemacht?“

„Oh das … es ist nichts.“

„Und es ist repariert.“

„Ich habe versehentlich die Tür zu fest aufgerissen und ein Loch in die Wand geschlagen.“

Sie kam um die Ecke und legte ihre Handtasche auf den Tisch. „Du musst die Tür wirklich fest aufgerissen haben.“

„Ja … ich habe draußen einen großen Hund gesehen und bin durchgedreht.“

„Also … reißt du die Tür so schnell auf, wie du kannst?“

Das ergab keinen Sinn. „Ich bin nur in Panik geraten.“ Ich wandte mich wieder dem Fernseher zu und hoffte, dass das Gespräch beendet war.

„Wer hat es repariert?“

Sie wusste, dass ich nicht der Handwerker im Haus war. Ich kannte kaum den Unterschied zwischen einem Schraubenzieher und einem Nagel. „Ich hab’s repariert …“

„Du hast das Loch repariert?“ Sie sah mich an, als glaube sie mir kein Wort.

„Ja … was ist daran so eine große Sache?“

„Es ist gut gemacht, daher fällt es mir schwer, zu glauben, dass ein Anfänger wie du es gemacht hat.“

Warum drehte sie mich so durch die Mangel? „Prima. Ich habe einen Handwerker angerufen. Also lass mich in Ruhe.“

„Warum hast du gelogen?“

„Ich weiß nicht … ich dachte, du würdest sauer auf mich sein, weil ich Geld verschwendet habe.“

„Ich bin nicht deine Mutter, Marie.“

„Du stellst eine Menge Fragen.“

„Warum hast du nicht einfach gewartet, bis ich nach Hause komme?“

„Es war meine Schuld und ich wollte dich nicht damit belasten.“ Hoffentlich war dieses Gespräch bald zu Ende?

„Du belastest mich doch nicht.“

Sie sollte Detektiv werden. „Wie war die Arbeit?“

„Nicht schlecht.“ Sie legte ihre Schürze über den Stuhl und zog das Haargummi aus ihren Haaren. Sie hob ihr Kinn in die Luft und roch, als gäbe es einen Duft, den ihre Nase registrierte.

„Was …?“

„Dieser Geruch …“

Scheiße.

„Ich kenne diesen Geruch …“

Erkannte sie Hawkes Geruch? Könnte sie ihn erkennen? Er war eine halbe Stunde hier, höchstens. „Ja … der Handwerker hatte zu viel Aftershave drauf.“

„Es riecht nicht wie Aftershave …“

Das geht schief. Ich konnte ihr nicht sagen, dass Hawke hier gewesen war. Sie würde zusammenbrechen und müssten wieder von vorne beginnen. Es lief gut mit Cameron und es ging ihr besser. Alle Fortschritte wären umsonst gewesen, wenn sie wusste, dass er hier gewesen war – wenn auch nur für fünf Minuten. „Kommt Cameron rüber?“

Sie schnupperte weiter in der Luft herum und ignorierte mich. Sie hatte einen abwesenden Ausdruck auf ihrem Gesicht und mit ihren Gedanken war sie woanders. Irgendwie wusste ich genau, was sie dachte. Sie wusste, dass es sein Geruch war. Er weckte alte Erinnerungen, vergangene Küsse und Zärtlichkeiten. Sie nahm einen tiefen Atemzug voller endloser Sehnsucht. „Wird er mich immer so verfolgen … ?“

Ich hatte noch nie so viel Schmerz für eine andere Person empfunden. „Nein.“

Sie sah mich an, ihre Augen mit Tränen gefüllt. „Ich wünschte, ich könnte dir glauben.“