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Am nächsten Abend erreichen wir Nim. Die Häuser in Muschelrosa erstrecken sich den Hügel hinunter bis zum leuchtenden Wasser. Die Leute auf der Straße starren uns an, gehen uns schnell aus dem Weg und tuscheln hinter vorgehaltener Hand. Ein kleiner Junge wirft mit einem Stein nach uns, zu verängstigt, um richtig zu zielen, sodass der Kiesel von Gennadys Schuh abprallt. Pia fährt zu ihm herum, der Kleine saust davon und die Menge zerstreut sich. Der Gastwirt berechnet uns das Doppelte und nimmt Pias Silber mit gesenktem Blick entgegen. Im Erste-Klasse-Abteil des Zuges, der im Morgengrauen losfährt, zittern die Hände des Schaffners, als er unsere Fahrkarten kontrolliert und uns Kaffee serviert. Im Speisewagen herrscht Totenstille, als wir uns zum Mittagessen setzen.

Als er noch die Plagemale trug, war Dek wie alle Überlebenden der Krankheit überall, wo er hinkam, ein Außenseiter – gefürchtet und geächtet. In Spira konnte er das Haus nur im Schutz der Nacht verlassen, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen. Jetzt ist er derjenige in unserer Gruppe, der am gewöhnlichsten aussieht. Selbst ich ziehe Blicke auf mich – ein Mädchen in Hosen und Stiefeln, meine zerzausten Haare stehen vom salzigen Seewind fast senkrecht vom Kopf ab, mein Gesicht ist vernarbt, meine Nase krumm, nachdem sie vor Monaten von Casimirs Stiefel gebrochen wurde. Ich habe mich immer gefragt, wie Pia sich überhaupt frei bewegen konnte, so seltsam wie sie aussieht. Jetzt erfahre ich am eigenen Leib, dass es einfach mit viel Geld zu tun hat und damit, dass sich unter ihren Papieren ein Passierschein mit königlichem Siegel befindet, der sie als Gast der fraynischen Krone ausweist. Die Leute mögen tuscheln, sie mit Steinen bewerfen oder sogar anzeigen, doch das Gesetz hat keine Macht über sie. Ein Mob könnte über sie herfallen – falls irgendjemand so dumm wäre –, aber vermutlich würde sie mit ihren Angreifern kurzen Prozess machen.

Vor dem Zugfenster ziehen die Höfe, Wälder und Städte meines Landes vorbei. Manchmal entdecke ich im Wald die Ruine eines Schreins, vereinzelte Überbleibsel aus der Zeit, bevor Agoston Horthy Premierminister von Frayne wurde. Wir erreichen Spira nach Einbruch der Nacht, fahren zwischen den adretten Gebäuden in Forrestal hindurch, dann durch das hell erleuchtete Treiben der Scola. Der Cyrambel-Tempel ragt dunkel am Ufer des Syne auf, in dem unsere Mutter ertränkt wurde. Dek nimmt meine Hand.

Wenn ich mich an diese Säuberung zurückerinnere, die erste, bei der ich zugesehen habe, denke ich, dass Dek wohl recht hat – wir haben gesehen, wie unsere Mutter ertrunken ist, sie ist tot. Aber wenn ich an meine Vision von ihr mit dem Ankh-nu denke, habe ich eine Million Fragen und überlege, ob die Möglichkeit besteht, dass sie noch am Leben ist. Ich weiß nicht, ob ich diese Frage eher mit Hoffnung oder mit Angst verbinde. Denn was würde es bedeuten, wenn sie nicht die ist, für die wir sie gehalten haben? Wenn sie Tausende von Jahren vor uns gelebt, entsetzliche Dinge getan, uns zurückgelassen hat? Wenn sie niemand anderes war als Ammi, dann hat sie uns geliebt und ist auf grausame Art zu Unrecht gestorben. Wenn sie Marike ist, ist sie vielleicht nicht tot, hat uns aber vielleicht auch nie geliebt.

Im Plateauviertel steigen wir aus dem Zug und stehen gemeinsam auf dem Bahnsteig.

»Bist du sicher, dass dein Bruder nicht noch mal versuchen wird, sich das Leben zu nehmen?«, fragt Pia mich.

Ich sehe Dek an.

»Diese Woche nicht«, sagt er ruhig.

Pia mustert ihn mit surrender Brille, dann wendet sie sich an mich: »Ich steige in derselben Suite im Grandhotel ab wie letztes Mal. Ich habe die gesamte zehnte Etage angemietet, du kannst dir also ein Zimmer aussuchen. Kleider für dich sind bereits geliefert worden. Wir müssen eine Zofe finden, die dafür sorgt, dass du … standesgemäß aussiehst.«

»Ich wüsste jemanden, der uns helfen könnte«, sage ich und denke dabei an Csilla. »Vorausgesetzt, sie ist schon wieder zurück in Spira.«

»Du hast auf jeden Fall Hilfe nötig.« Pia mustert mich von Kopf bis Fuß.

»Warum muss ich mich überhaupt verkleiden? Kann ich mich nicht einfach verschwunden bewegen?«

»Keine Sorge, das wirst du zur Genüge tun. Aber du musst auch in der Lage sein, dich mit Leuten zu unterhalten. Morgen wird Victor Penn von Ostoway dich mit in die Oper nehmen und dich als seine Nichte vom Lande vorstellen, die gerade zu Besuch ist.«

»Herr von Ostoway?«, rufe ich.

»Er steht jetzt seit mehreren Monaten in Casimirs Diensten. Ich dachte, das wüsstest du.«

»Ich wusste es auch. Wahrscheinlich habe ich einfach nicht damit gerechnet, ihn noch mal wiederzusehen.«

Victor Penn von Ostoway ist ein hochrangiger Regierungsbeamter, eine Art Antimagiebeauftragter. Ich habe ihn kennengelernt, als ich mich in Frau Ochs Haus als Hausmädchen ausgegeben habe. Er war von einem parnesischen Wolf gebissen worden und hatte sich mit der Bitte um Hilfe an Frau Och gewandt. Schließlich ist es Casimirs Hexe Shey gelungen, ihn zu heilen und seine Verwandlung in einen Wolf aufzuhalten – im Austausch dafür hat er Casimirs Vertrag akzeptiert.

»Mich als junge Adlige auszugeben, gehört nicht gerade zu meinen Fähigkeiten«, sage ich. »Das habe ich in Yongguo schon versucht und Si Tan hatte mich in etwa drei Sekunden durchschaut.«

»Si Tan ist äußerst scharfsinnig«, entgegnet Pia. »Die meisten Leute sind das nicht. Such deine Freundin und bitte sie, dir morgen früh beim Ankleiden zu helfen. Gute Nacht.«

Damit dreht sich Pia zu meiner Überraschung um und geht davon. Dek und ich sehen uns mit offenem Mund an. Einen verrückten Moment lang fühle ich mich wie ein Hund, der von der Leine gelassen wurde. Aber natürlich arbeitet sich Casimirs eigentliche Leine unter meiner Haut vorwärts und eine andere hockt neben Deks Herz. Es gibt kein Entkommen.

»Nun«, sagt Dek, »das hatte ich nicht erwartet.« Er sieht Gennady an. »Was ist mit Ihnen?«

Gennady wirkt müde und verwirrt und jetzt tut er mir doch leid.

»Es könnte eine Revolution geben«, erkläre ich. »Ich dachte, das würde Ihnen gefallen.«

Er stößt ein Geräusch aus, das ein Kichern sein könnte.

»Kommen Sie doch mit«, schlage ich vor, obwohl ich gar nicht genau weiß, warum ich das anbiete. »Wir suchen die anderen. Falls Professor Baranyi hier ist, könnten Sie ihm das mit Frau Och erzählen. Ich bin nicht besonders erpicht darauf, ihm diese Nachricht selbst zu überbringen.«

»War er ihr Assistent?«, fragt Gennady. »Oder ihr Gefährte?«

»Etwas in der Art.« Ich war mir nie ganz sicher, was er für sie war, aber ich weiß, dass er sie geliebt hat.

Vom Bahnhof aus gehen wir durch die gewundenen Gassen des Twistviertels. Gelächter, Gezank, Musik und der Geruch nach Essen dringen aus den Schenken und meine Augen füllen sich überraschend mit Tränen. Trotz all der schrecklichen Verluste und Entbehrungen war ich hier einst glücklich.

Esmes Haus an der Ostseite des Fitch-Platzes ist verlassen, nichts weist darauf hin, dass irgendjemand in den letzten Monaten hier gewesen ist. Es lässt auf ihr hohes Ansehen im Viertel schließen, dass sich keine Landstreicher hier eingenistet haben. Esme hat uns aufgenommen, als ich sieben Jahre alt war und Dek zehn. Sie war für uns immer eher eine Chefin als eine Ersatzmutter, aber sie sorgte dafür, dass wir etwas zu essen und zum Anziehen hatten, und brachte uns Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Kurz, sie erzog uns mehr oder weniger. Als gefährlichster und einflussreichster Gaunerboss der Stadt bildete sie uns auch auf diesem Gebiet aus und bediente sich unserer Fähigkeiten. Ich muss an ihr strenges Gesicht im Schein des Kaminfeuers denken, während ich mich abmühte, ein verhasstes Gedicht abzuschreiben, gestohlene Juwelen neben den Schulbüchern auf dem Tisch und ein warmes Abendessen im Magen. Sie hatte ihren eigenen Sohn an die Plage verloren und ich denke, dass sie Dek deshalb aufnahm, aber sie muss auch etwas in ihm erkannt haben – das Aufblitzen seines Genies. So hart wir auch im Nehmen waren, brauchten wir doch einen Ort, den wir unser Zuhause nennen konnten, und jemanden, der uns den Rücken stärkte. Beides gab Esme uns.

»Hier habt ihr gelebt?«, fragt Gennady und wirft einen neugierigen Blick in das kleine Zimmer, das Dek und ich uns geteilt haben. Kakerlaken huschen davon. Das Wohnzimmer im ersten Stock ist leer geräumt, Wyns Dachkammer verlassen. In Esmes Zimmer stehen lediglich ein kahles Bettgestell und ein leerer Schreibtisch. In den Ecken hat sich Staub angesammelt und unter der Decke hängen Spinnweben.

»Ich glaube schon, dass sie hierher zurückgekommen sind«, sagt Dek. »Meine ganzen Papiere sind weg und Esmes auch. Irgendjemand ist hier gewesen und hat alles mitgenommen.«

»Aber keine Nachricht für uns hinterlassen«, füge ich hinzu.

»Wo könnten sie sonst sein?«

»Lass uns in Frau Ochs Haus nachsehen.«

Keine der Droschken, die wir herbeizuwinken versuchen, hält an – ich weiß nicht, ob das an Gennadys Größe, an meinen seltsamen Kleidern oder allgemein an unserem mitgenommenen Äußeren liegt. Schließlich gehen wir den ganzen Weg in die Scola zu Fuß. Gennady drückt das Tor zum Haus seiner toten Schwester auf. Die Fenster sind erleuchtet, also ist auf jeden Fall irgendjemand hier. Mein Herzschlag beschleunigt sich – als wäre Frau Och noch da und würde gleich die Tür öffnen, als hätten die vergangenen Monate gar nicht stattgefunden –, aber ich nehme all meinen Mut zusammen und betätige den Messingklopfer. Aus dem Inneren ertönen Stimmen und Schritte. Die Tür geht auf und dort steht Gregor, Esmes langjähriger Mitarbeiter, dessen Gesicht bei unserem Anblick aufleuchtet. Schreiend werfe ich mich in seine Arme. Gleich darauf rücke ich leicht verlegen von ihm ab, aber es tut so gut, Freunde auf der Welt zu haben, Menschen, die auf unserer Seite sind.

»Heulende Hunde, ist das schön, dich zu sehen«, sage ich. Er sieht besser aus denn je – schlanker, mit weniger ausgeprägten Tränensäcken unter den Augen, deren Blick klar ist und nicht vom Alkohol vernebelt. Offenbar hat er es doch geschafft, sich vom Schnaps fernzuhalten. Guter alter Gregor. Dann kommen Esme und Gregors Geliebte Csilla in die Eingangshalle und ich kreische wie verrückt und umarme sie alle. Esme nimmt mein Gesicht zwischen die Hände und küsst mich auf die Stirn. Sie sieht aus wie immer – genauso groß wie Gregor, gekleidet wie ein Mann, da ihr Frauenkleider nicht passen, das Haar ein weißer Helm, ihre markanten Gesichtszüge eigenartig alterslos.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt sie mich.

»Ja«, antworte ich, was nicht der Wahrheit entspricht, sich im Moment aber so anfühlt. »Ist Wyn auch hier? Hat er euch getroffen?«

»Ja«, sagt Esme. »Er wohnt allerdings in einer Schenke im Edgeviertel. Wir sind erst seit letzter Woche wieder in der Stadt.«

Gennady ragt elend aussehend hinter uns auf. Ich versuche ihn mit uns in die Eingangshalle zu ziehen. »Das ist Gennady. Theos Vater.« Als wäre es ganz normal, dass ich meiner Bande einen riesigen Unsterblichen vorstelle.

»Gut«, sagt Esme kurz angebunden. »Kommt mit zu den anderen.«

Ich habe keine Zeit zu fragen, wer die anderen sind. Sie führt uns in den vorderen Salon. Dort sitzt Professor Baranyi und neben ihm Prinzessin Zara, die wir aus Yongguo gerettet haben, mit Strig auf dem Schoß – der kleinen Eule, die Bianka in eine Katze verwandeln wollte und die jetzt irgendwo dazwischen gefangen ist, ein fedriges eulenäugiges kleines Kätzchen mit eingedrücktem Gesicht. Aber mein Blick geht direkt zu den beiden Fremden im Raum.

Einer von ihnen ist ein junger Mann mit pechschwarzen Augen und fast genauso dunkler Haut, der einen ziemlich affigen Smoking und ein Rüschenhemd trägt. Er sitzt auf dem Sofa, faltet kleine Quadrate aus Buntpapier zu komplizierten dreidimensionalen Tieren und bedenkt uns mit einem distanzierten Lächeln. Neben ihm sitzt eine hellhäutige Frau in einem modischen Kleid. Sie ist älter als der Mann, vielleicht Mitte fünfzig, das schwarze Haar von grauen Strähnen durchzogen, aber sie hat eine jugendliche Frische an sich. Sie raucht eine Zigarette in einer langen perlenbesetzten Spitze. Als wir eintreten, legt sie die Zigarette in einem Aschenbecher ab, wedelt den Rauch weg und durchquert mit schnellem hinkenden Gang das Zimmer, um uns zu begrüßen.

»Julia!«, ruft sie. Ihre Stimme klingt voll und warm. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, dich endlich kennenzulernen.«