Spira wimmelt heute von Soldaten und im Twistviertel ist es ungewöhnlich ruhig. Ich muss im dreckigen Vorraum des Birnbaums eine ganze Weile herumbrüllen, bis ein unrasierter Kerl herausgeschlurft kommt und sich die Hose hochzieht.
»Was?«, schreit er mich an.
»Ich will mit Dorje Tsewang sprechen«, sage ich.
»Der fremden Dame?« Er kneift die Augen zusammen. »Was willste denn von der?«
Ohne zu antworten, lege ich eine von Pias Münzen auf die Theke. Er greift danach und spuckt auf den Boden. »Sie trinkt oben auf dem Dach Tee.«
Die Dachterrasse bietet einen trostlosen Blick auf Hostorak auf der einen Seite und auf die spitzen Dächer des Twists auf der anderen. Die einzige Person dort oben ist eine dunkelhäutige, etwa vierzigjährige Frau, die sehr gerade dasitzt und ein Buch liest. Ihr schwarzes Haar ist zu kunstvollen Schleifen auf ihrem Kopf geflochten. Sie trägt eine purpurrote Tunika mit Gürtel über einer Seidenhose und hohen Stiefeln, dazu Seidenhandschuhe. Ganz offensichtlich versucht sie nicht, als Einheimische durchzugehen.
»Sind Sie Dorje Tsewang?«, frage ich. Als könnte sie jemand anders sein.
Sie legt ihr Buch weg und sieht mich ausdruckslos an.
Ich reiche ihr den Umschlag, den Zara mir gegeben hat. Sie zieht ihre Handschuhe aus, um ihn entgegenzunehmen, und ich erschrecke – ihre Hände sind von alten, verblassten Tätowierungen bedeckt. Es sind Schriftzeichen, aber in keiner Sprache, die ich erkenne. Mit einem langen Fingernagel reißt sie den Umschlag auf und überfliegt schnell den Brief, dann holt sie ein Streichholz aus einer Falte ihrer Tunika und ratscht es über die Steinbrüstung. Das Streichholz brennt auf und sie zündet den Brief an, hält ihn an einer Ecke fest, während die Flammen am Rand entlangzüngeln und das Papier sich zusammenrollt. Dann schließt sie die andere Hand um das kleiner werdende Feuer und löscht es, um anschließend die Faust zu öffnen und die Asche davonzublasen. Ich beobachte sie fasziniert.
»Wollen Sie eine Nachricht zurückschicken?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Im Moment sind überall Soldaten unterwegs«, sage ich. »Seien Sie vorsichtig. Hier werden Hexen ertränkt.«
Sie antwortet mir in akzentfreiem Fraynisch der Oberschicht: »Keine Sorge, meine Liebe. Meine Papiere sind in Ordnung und ich bin keine Hexe.«
»Aber das Feuer …«
»Ich habe zwar keine Angst vor Feuer, kann aber sehr wohl brennen. In Xanuha haben wir unsere Hexenherrscher bezwungen, weißt du. Hexen, die nach Macht gieren, sind wie Feuer, das nach Nahrung giert. Es ist sehr schwierig, ein loderndes Feuer einzudämmen, das sich weit ausgebreitet hat, aber eine kleine Flamme kann man schnell und schmerzlos löschen. Das ist eine nützliche Fähigkeit – das Auffinden und Löschen kleiner Feuer.«
Überrascht von ihrer flüssigen Rede, frage ich: »Leben Sie denn in Frayne?«
»Ich bin zu Besuch«, sagt sie und greift wieder nach ihrem Buch. »Danke für die Nachricht.«
Das heißt wohl, dass ich gehen soll. Ich muss unbedingt Esme fragen, was die Prinzessin mit einer Fraynisch sprechenden Xanuhanerin zu tun hat und warum Zara nicht will, dass Frau de Laroche davon erfährt. Diese Frau hat etwas an sich – ich kann nicht sagen, was es ist, nur dass ich mich gerne zu ihr setzen und mit ihr sprechen würde, um alles über sie zu erfahren. Aber ich kann nicht bleiben – im Gegenteil, ich habe andere dringende Dinge zu erledigen – und sie will mich ganz eindeutig sowieso loswerden.
»Seien Sie vorsichtig«, wiederhole ich.
Sie legt den Kopf schief und betrachtet mich neugierig, erwidert jedoch nichts.