Die Tür zum Vipernwandler ist unverschlossen. Goro, der Alchemist, packt Gegenstände in Kisten, während ein mürrischer Junge mit lauter Blasen im Gesicht die vollen Kisten nach draußen zu einer Droschke auf der Straße trägt. Ich tauche mitten im Raum auf und der Junge fährt zurück und drückt sich an die Wand, wobei er mit weit aufgerissenen Augen mein feines Kleid anstarrt. Goro sieht auf, sein Blick trüb vom grauen Star. Manchmal kann ich mir einen dramatischen Auftritt nicht verkneifen.
»Ich brauche Hermia«, erkläre ich. »Liddy hat mich geschickt.«
Das stimmt zwar nicht ganz, aber ich weiß, dass ihr Name uns umständliche Diskussionen, ob man mir trauen kann oder nicht, erspart.
Er stößt einen quietschenden Seufzer aus. »Hermia? Es gibt schnellere Gifte.«
»Ich brauche aber genau dieses.«
»Es ist kostspielig.«
»Wie viel?«
»Eine Unze … zehn Silberfreyn. Eine Unze genügt, um einen Menschen zu töten. Wenn Sie eine Hexe vergiften wollen, brauchen Sie vielleicht fünf oder sechs Unzen. Etwas anderes … nun, das hängt davon ab.«
»Eine Unze genügt«, sage ich.
Er zieht Handschuhe an und kramt in seinen Kisten. Aus einer davon holt er eine zierliche Bronzewaage, aus einer anderen einen Beutel mit dunkelgrünen Blättern. Er wiegt einen kleinen Stapel der Blätter ab und packt sie mit geschäftsmäßiger Sachlichkeit für mich ein.
»In letzter Zeit kommen eine Menge Hexen her«, sagt er leise, als ich ihm das Geld vorzähle.
»Ich bin keine Hexe«, erwidere ich und nehme das Päckchen entgegen. »Was machen Sie mit all den Kisten? Fahren Sie weg?«
»Nach Süden, um den Sturm abzuwarten.«
»Den Sturm?«
»Viel Glück. Sie sollten wissen, dass man durch Hermia einen scheußlichen Tod stirbt.«
»Es wird hoffentlich niemand sterben müssen. Warum kommen die Hexen denn nach Frayne?«
»Hexen rotten sich immer dort zusammen, wo es Unruhen gibt«, sagt er. »Und genau das steht uns bevor. Ein guter Zeitpunkt, um Spira zu verlassen. Diesen Rat kriegen Sie von mir gratis dazu.«
*
Auf dem Markt mache ich halt, um Salat und Äpfel zu besorgen, dann gehe ich direkt zum Uhrenladen – Marek und Sohn. Hinter der Ladentheke steht ein sommersprossiger junger Mann, der ungefähr so alt ist wie ich.
»Sie sind wahrscheinlich der Sohn und nicht Marek«, sage ich.
Er nickt. »Vater ist letztes Jahr von uns gegangen.«
»Oh. Das tut mir leid.«
»Kann ich Ihnen helfen, Fräulein?«
»Ich bin auf der Suche nach Silber Moya.« Während ich das sage, fällt mir ein, dass ich dafür verhaftet und hingerichtet werden könnte. Spira ist eben nicht Tianshi.
»Tut mir leid, ich verstehe nicht«, sagt er sanft.
»Liddy hat mich geschickt. Ach ja – ich wollte sagen, meine Uhr zu Hause schlägt alle dreizehn Minuten.«
»Dann sollten Sie vielleicht mit meiner Mutter im Hinterzimmer sprechen. Gehen Sie ruhig durch.«
Er öffnet eine Tür hinter der Ladentheke für mich und ich betrete eine ordentliche Werkstatt, von deren Decke Vogelkäfige hängen. Eine Frau mittleren Alters in einem hochgeschlossenen Kleid poliert eine Standuhr.
»Silber Moya?«, frage ich.
Sie dreht sich um und mustert mich, während sie das Poliertuch zusammenfaltet.
»Wie bitte?«
»Ich muss zu Ragg Rock«, sage ich.
»Wie bitte?«, wiederholt sie.
»Muss ich es zu Ihnen auch noch mal sagen? Also schön, meine Uhr zu Hause schlägt alle dreizehn Minuten, in Ordnung?«
Sie betrachtet mich eine ganze Weile, dann schließt sie hinter mir die Tür. Sie holt etwas Vogelfutter aus der Tasche, wirft es auf einen Tisch in der Ecke und lässt einen der Vögel aus dem Käfig. Das Tier flattert zum Tisch hinüber und fängt an, das Futter aufzupicken. Silber Moya – denn ich nehme an, dass sie es ist – holt ein Blatt Papier und eine kleine Tintenpipette hervor.
»Muss ich … Ihnen irgendwas bezahlen?«, frage ich. Die Silber Moya in Tianshi habe ich nicht bezahlt. Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber in Spira ist nichts kostenlos.
»Dies ist eine Berufung«, erwidert sie schroff. »Kein Gewerbe.« Sie reicht mir eine Nadel. »Würden Sie sich bitte in den Finger stechen und ein wenig Blut in die Pipette drücken?«
Das tue ich und sie füllt die mit Blut vermischte Tinte in eine Patrone, die sie in ihren modernen Füllfederhalter schiebt. Mein Blut ist die Anfrage, an der Ragg Rock erkennen kann, wer Einlass begehrt und warum.
Silber Moya beginnt zu schreiben.
Während ihr Füller über das Papier gleitet, scheint sich eine Schicht nach der anderen von der Oberfläche der Dinge zu lösen und der Raum beginnt zu brummen. Die Tinte ist feucht und tiefschwarz und ich kann spüren, wie mein Blut mich schnell und warm durchströmt, wie der Nuyi sich einen Weg durch meinen Arm bahnt, wie mein Herz klopft – bumm, bumm –, und dann erstarrt alles außer dem Vogel auf dem Tisch. Eine Tür neben der Standuhr ist aufgegangen. Draußen ist es hell, eine reglose Imitation von Spira wartet dort auf mich. Der Vogel schießt zur Tür hinaus und ich folge ihm, als wären wir durch eine Schnur verbunden, die mich hinter ihm herzieht. Ich stürze hinaus auf die Straße, lasse Silber Moya zurück, die immer noch unbeweglich über das Papier gebeugt dasitzt, der letzte Tropfen Tinte hängt zwischen Füller und Papier in der Luft. Oberhalb des Cyrambel-Tempels windet sich eine Treppe hinauf, neben der ein merkwürdig flach wirkender Syne dahinplätschert. Ich steige über die Stadt hinaus, in den Himmel hinauf, dem Vogel hinterher, bis er einen kurzen, durchdringenden Schrei ausstößt und mit versengtem, rauchendem Gefieder vor mir zu Boden fällt.
Ich stehe vor einem kaputten Torbogen, hinter dem ich Nebel und die Umrisse schwarzer kahler Bäume sehen kann. Sobald ich den Bogen durchschritten habe, ist der Himmel unter mir verschwunden. Die Bäume rücken näher, der Boden unter meinen Füßen wird weich, ganz anders als die Straßen von Spira. Ein geflügeltes Wesen rauscht über meinem Kopf vorbei. Etwas streift meinen Arm. Seltsame Lichter schweben im Nebel unter den Bäumen, die immer näher kommen. Ich stolpere durch den Wald und dann hinaus auf kahlen Fels. Eine Schattengestalt, die einem längeren Wiesel ähnelt, huscht hinter mir den Berg hinauf und löst sich dabei in Luft auf.
Der schwarze Felsen mit der Hütte ist unverändert. Ragg Rock kommt mir auf dem gewundenen Pfad entgegen, zeichnet sich rot vor dem Himmel ab. Hinter ihr her humpelt Frederick, kreidebleich, und an ihnen beiden vorbei, den Berg hinunter, rast Theo auf mich zu und wirft sich in meine Arme – größer, wilder, unwahrscheinlich dreckig und am Leben.