Herr Faruk ist wieder bei Liddy. Diesmal trägt er einen eleganten neuporianischen Anzug. Sie trinken Wein im Kerzenschein und wirken seltsamerweise fröhlich.
»Sie hat mir Blut abgenommen«, sage ich ohne Begrüßung.
»Frau de Laroche?« Herr Faruk scheint ehrlich überrascht, aber ich traue niemandem mehr. »Wofür denn bloß?«
»Ich weiß es nicht!«
»Es ist nicht gut, wenn eine verrückte Hexe dein Blut hat. Du solltest es dir zurückholen.«
»Casimir wird morgen hier sein«, sage ich. »Ich brauche mehr Hermia. Ich muss den Nuyi aufhalten, nur noch bis morgen.«
»Ich glaube nicht, dass dein Plan funktionieren wird«, sagt Herr Faruk. »Wenn Casimir mitbekommt, dass der Nuyi deinen Willen noch nicht übernommen hat, was sollte ihn dann davon abhalten, den Giftbeutel in der Brust deines Bruders einfach durch einen neuen zu ersetzen und die Zeit wieder von vorn laufen zu lassen?«
»Wir wissen nicht, ob er es spüren kann, wenn der Nuyi sich einnistet«, plappere ich los. »Er ist jetzt nach innen gewandert. Casimir wird es nicht wissen. Möglicherweise wird er es nicht wissen. Gib mir eine Dosis, die ihn bis morgen aufhält.«
Liddy und Herr Faruk wechseln einen Blick.
»Wenn Casimir mich beherrscht …« Ich keuche.
»Wenn das passiert, machen wir dich kalt«, sagt Liddy kühl. »Kurz und schmerzlos. Darauf kannst du dich verlassen.«
Sie bereitet das Hermia vor. Ich schlucke es und das Zimmer verschwimmt vor meinen Augen. Dann liege ich mit der Wange auf dem Boden, sehe ihre Füße und höre, wie sie ihr Gespräch über mir fortsetzen, was sich anhört wie das Echo in einer Höhle. Ich habe das Gefühl, als läge ich am Grund einer Grube, wo nichts und niemand mich erreichen kann. Ihre Stimmen könnten genauso gut das Geräusch des Meeres sein.
Später – viel später, kommt es mir vor – stütze ich mich auf jemanden. Es ist Herr Faruk. Ich versuche angestrengt, den Schleier vor meinen Augen wegzublinzeln. Wir gehen an dem alten, kaputten Brunnen auf dem Fitch-Platz vorbei, und er redet mir bei jedem Schritt gut zu, als wäre ich ein Kind.
»Kannst du die Treppe hinaufsteigen?«, fragt er, als er die Tür unten in Esmes Haus öffnet. Selbst durch diesen verwirrenden Nebel bemerke ich den Dietrich in seiner Hand, wie schnell und geschickt er das Schloss beim ersten Versuch öffnet. Als kleines Mädchen war das mein großes Ziel – Schlösser knacken zu können. Es war nicht so sehr der Diebstahl, der mich reizte, sondern die verbotenen Orte. Vermutlich treibt das alle Diebe und Spione an. Wenn es nicht Verzweiflung ist, ist es die Weigerung, sich sagen zu lassen, wo man hindarf, was man wissen darf, wie man leben darf. Mit neun Jahren rannte ich durch Spira, als gehörte die Stadt mir. Ich fühlte mich mächtig. Ich dachte, niemand würde mir je den Weg versperren können.
Herr Faruk ist weg. Er hat mich am Fuß der Treppe zurückgelassen – einem langen, dunklen Gang mit einem Licht am Ende. Zuhause. Ich krabbele die Treppe hinauf und es scheint ewig zu dauern, als sei dies mein ganzes Leben, langsam die dunklen, vertrauten Stufen hinaufzukrabbeln, hin zu erhoffter Sicherheit.
*
Ich versuche, ihre besorgten Gesichter zu zählen, die über mir schweben und aus doppelten Mündern mit mir reden. Alles ist verdoppelt. Zwei Gregors auf dem Sofa mit zwei Csillas auf dem Schoß. Zwei Esmes, die mir aufhelfen. Zwei Frauen in roter Seide und mit kunstvoll geflochtenen Zöpfen. Ich erinnere mich an sie: Dorje Tsewang, die xanuhanische Agentin. Zwei Deks, die zusammengesunken über einem Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit am Tisch sitzen. Zwei Wyns und zwei Lorkas. Die Lorkas sehen beide aus wie wütende kleine Kobolde. Zwei Arly Winters, zum Teufel noch mal. Seit wann gehört Arly Winters zum engsten Kreis?, will ich fragen. Nur, weil sie ein wenig die Augen offen gehalten hat, während ihr eure dämlichen Banner aufgehängt habt?
Esmes Stimme dröhnt über mir. Ich erinnere mich noch, dass ich einmal krank war und sie mich in den Schlaf gesungen hat – oder bis ich so tat, als würde ich schlafen. Sie war eine furchtbar schlechte Sängerin und ihre mütterlichen Momente machten mich immer nervös, trotzdem war ich froh, wenn sie an meinem Bett saß. Manchmal genügt es zu wissen, dass man beschützt wird, dass man jemanden neben sich hat, der zwischen einem und der Dunkelheit da draußen steht. Ich sehe meine gestiefelten Füße, die auf einer Chaiselongue liegen, und habe das Gefühl, Pias Beine zu betrachten. Durchs Fenster kommt eine Brise herein und ich möchte sie aufsaugen, so heiß ist mir.
Esmes Stimme wird lauter und alle sehen mich an.
»Entschuldigung«, sage ich mit belegter, fremder Stimme. »Was hast du gesagt?«
»Torne ist ermordet worden.« Erneut Esmes Stimme. »Frau de Laroche hat ihm vorgeworfen, die Hexen in West-Spira verraten zu haben. Sie wird immer unberechenbarer. Deshalb sind wir hierher zurückgekehrt, statt im Kürbis zu bleiben. Aber ich habe Angst um die Prinzessin.«
»Ich werde jetzt zu ihr gehen und mich vergewissern, dass es ihr gut geht«, sagt Dorje Tsewang und steht schnell auf.
»Soll ich mitkommen?«, fragt Gregor, obwohl er nicht so aussieht, als wollte er irgendwohin gehen.
»Nein«, sagt sie. »Allein bin ich schneller.«
Es ist sicherlich ein eigenartiger Moment für eine einschneidende Erkenntnis, aber sie kommt mir trotzdem. Ich betrachte die immer noch verdoppelte Dorje Tsewang und dann verbinden sich die beiden Hälften zu einer großen, furchtlosen Frau mit aufrechter Haltung. Sie befestigt ein gefährlich aussehendes Messer an ihrer Hüfte und bedeckt es mit ihrem Mantel. Immer wieder höre ich die gelassene Sorglosigkeit in ihrer Stimme – allein bin ich schneller, allein bin ich schneller, allein bin ich schneller.
Wenn ich früher die Frauen in meiner Umgebung betrachtete, habe ich mich immer gefragt, was die Zukunft für mich bereithalten würde, was für eine Art Frau ich gern sein wollte, aber ich fand keine Antwort. Jetzt, fiebrig und halluzinierend, denke ich: Ich will so sein wie sie. Eine Frau, die bis zum Hals in Abenteuern und Intrigen steckt – keine Bagatelldelikte, sondern wirklich wichtige Angelegenheiten, bei denen viel auf dem Spiel steht –, aber niemandem verpflichtet ist. Die Art Frau, die ihre eigenen Entscheidungen trifft, nach ihren eigenen Gesetzen lebt, sich ihrer Macht bewusst ist und sich mit den Worten Allein bin ich schneller in Gefahr begibt. Ich weiß nicht, ob ich die Gelegenheit haben werde, diese Frau zu sein. Die Art Frau, die Pia hätte sein sollen statt Casimirs Sklavin.
Dek beugt sich über mich und blickt mich aus furchtbar traurigen Augen an.
»Alles in Ordnung mit dir?«, murmele ich.
Er nickt. Dann sticht er mir eine Nadel in den Arm.
»Es tut mir leid, Julia.«
*
Ich wache auf, weil mich jemand schüttelt. Draußen ist es noch dunkel und es kostet mich unendlich viel Kraft, die Augen zu öffnen. Pias mechanische Brille ist nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Mühsam setze ich mich auf und sehe mich um. Ich bin in meinem alten Zimmer, meinem alten Bett.
»Deine Freundin war bei mir«, krächzt Pia. »Ich habe dich überall gesucht.«
»Meine Freundin?«, frage ich verschlafen.
»Frau de Laroche.« Sie reicht mir ein zerknittertes Blatt Papier. »Sie wollte Casimir ein Telegramm schicken, damit es ihn bei seiner Ankunft in Nim erreicht. Morgen früh wird er hier sein. Das hier ist gerade für sie eingetroffen. Ich muss ihr die Nachricht jetzt bringen. Ich habe keine Wahl.«
Da fällt es mir wieder ein: Dek mit der Nadel. Ich versuche aus dem Bett zu springen, aber meine Gliedmaßen fühlen sich an wie Gummi und ich stürze zu Boden. Ich betaste meinen Nacken und reiße den Verband ab, den ich dort finde. Frische Stiche.
»Er hat ihn rausgeholt. Oh, lodernde Hunde, er hat den Nuyi rausgeholt.«
Entsetzen überkommt mich. Jetzt ist es zu spät – zu spät, ihn zu retten. Was kann ich nur tun? Mühsam rappele ich mich auf. Pia kauert auf dem Boden und versucht die Qualen, unter denen sie offensichtlich leidet, zu verbergen. Mit zusammengekniffenen Augen werfe ich einen Blick auf das Blatt Papier, das sie mir gegeben hat, aber ich kann es in der Dunkelheit nicht entziffern. Ich schleppe mich zum Ofen hinüber und zünde ein Streichholz an. Im flackernden Schein lese ich das Telegramm:
12 UHR CAFÉ REGINALD STOPP