Riesige Menschenmengen kommen zu Zeys Beerdigung. Trotz ihrer Angst versammeln sich die Leute. Die meisten wirken ziemlich fassungslos, dass der Mann, der ein halbes Jahrhundert auf dem Thron saß, wirklich tot ist.
»Guck mal, was ich hier habe!«, sagt Wyn. Bei einem Stand am Straßenrand hat er kleine fraynische Flaggen für Arly, Dek und mich gekauft. Überall in der Menge schwenken Menschen die Flaggen, während sie auf die Kutsche warten, in der Zeys Sarg vorbeifahren soll.
»Großartig«, sagt Dek. »Ich finde es wunderbar, wenn jemand Gewinn aus einer cleveren Idee schlägt.«
Er ist so fröhlich. Ich wende den Blick ab.
»Hör auf zu schmollen«, sagt er zu mir. »Er war nur noch Zentimeter von deinem Gehirn entfernt, Julia. Ich musste es tun.«
Oh, Dek. Das ist kein Schmollen, sondern schiere Verzweiflung.
Ich werde Casimir also nicht gehören. So weit, so gut. Aber in einer Woche wird dieser Giftbeutel in meinem Bruder … schreiende, unerträgliche Panik erfüllt meinen Kopf, bevor ich den Gedanken zu Ende denken kann. Ich hatte so sehr gehofft, aber alles, was ich getan habe, war umsonst. Das Hermia, die Schmerzen – alles war umsonst.
In der ganzen Stadt läuten die Glocken. Arly und Wyn teilen sich einen Becher kalten Tee und tuscheln miteinander. Dek legt den Arm um mich.
»Vergib mir«, sagt er.
Es ist unmöglich, mit dieser Angst und diesem Kummer zu leben. Und doch bin ich hier, am Leben, bei ihm. Im Moment.
»Ich habe wie verrückt gearbeitet«, sagt er. »Dieses Gefühl, nützlich zu sein, beflügelt mich. Ich werde meine letzten Tage nicht damit verbringen, auf den Tod zu warten, sondern werde die Revolution vollenden.« Er hält inne, dann fügt er ganz leise hinzu: »Können wir über Zara sprechen?«
Ich zwinge mich zu nicken. Er senkt die Stimme, sein Mund direkt an meinem Ohr.
»Ich weiß, wie du dich fühlst. Es ist nicht besonders angenehm, eine Lüge zu decken. Aber Zara ist einer der beeindruckendsten Menschen, die ich je getroffen habe. Sie kann wirklich etwas verändern. Heulende Hunde, Julia, bitte sprich mit mir!«
Ich quetsche die Worte an dem Kloß in meinem Hals vorbei. »Wirst du es Esme sagen?«
»Nein. Ihre Generation ist … na ja, sie glauben, sie kämpfen immer noch den alten Kampf, für Roparzh. Natürlich geht es um viel mehr, aber wir können uns im Moment keine Zweifel und Meinungsverschiedenheiten leisten. Bitte, Julia, versprich mir, dass du uns diese Gelegenheit, die Welt zu verändern, nicht kaputt machst. Ich rede davon, ein Land zu schaffen, in dem unsere Mutter nicht ertränkt worden wäre. Sieh es als meinen letzten Willen.«
Bei diesen Worten dreht sich mir der Magen um und ich muss die Übelkeit zurückdrängen, damit ich mich nicht übergebe. Tief durchatmen. Unsere Mutter. Wenn sie noch am Leben wäre, selbst wenn sie Marike sein sollte, wäre sie bestimmt jetzt hier – beim Sturz von Zeys Staat und dem möglichen Aufstieg eines neuen Frayne. Wer immer sie war, wer immer sie möglicherweise gewesen ist, bevor sie Ammi wurde – als Ammi hat sie jahrelang genau hierfür gekämpft. Aber vielleicht liegt sie ja wirklich auf dem Grund des Flusses.
»Zara hat Frau de Laroches Freundinnen an Horthy verraten«, flüstere ich. »Sie wurden ertränkt. Sie ist keine Freundin der Hexen.«
»Das hat sie mir erzählt. Glaub nicht, dass sie solche Entscheidungen leichtfertig trifft. Wir führen Krieg und diese Hexen haben Unschuldige ermordet. Zara musste die Kontrolle über Frau de Laroche zurückgewinnen, sonst wäre diese Revolution überhaupt nicht ihre Revolution. Die ganze Sache hätte zu einem Hexenputsch werden können. Hexerei ist gefährlich, Julia, und muss weiterhin kontrolliert werden. Frau de Laroche will, dass Hexen ihre Macht ungehindert einsetzen können. Aber so kann die Welt nicht funktionieren.«
»Und was ist mit Leuten wie mir? Werde ich in Zaras Frayne meine Macht ungehindert einsetzen können?«
Er küsst mich auf den Kopf. »Wir wissen beide, dass es sonst niemanden wie dich gibt.«
Ich lehne mich an ihn und lausche seinem Herzschlag. Man könnte meinen, dass die gewaltige Wucht meiner Verzweiflung ausreichen sollte, um das Gift aus ihm zu entfernen. Wieso bin ich nur so hilflos?
Als sich Stiefel und Pferdehufe auf der Straße nähern, verstummt die Menge. Zunächst erscheinen Reihen elegant gekleideter Soldaten, dann eine Pferdekutsche mit dem Sarg, in dem König Zeys Leichnam liegt. Arly weint.
»Loderndes Kahge, warum weint sie denn?«, fragt Dek gereizt.
»Sie ist sehr empfindsam«, entgegnet Wyn liebevoll.
Ich sehe den Sarg vorbeiziehen und muss an den alten Mann denken, der voller Reue in seinem Bett gewütet hat. Die Kutsche klappert vorbei, gefolgt von weiteren Soldatenreihen, und dann sehe ich Luca in einer Kutsche ganz hinten, flankiert von Agoston Horthy und Baron Skaal. Zwischen diesen beiden so entsetzlich entschlossenen und zielstrebigen Männern wirkt er jung und verwirrt.
»Er tut mir fast leid«, murmelt Wyn. »Der Herzog, meine ich.«
»Wieso? Ist heute irgendwas geplant?«, frage ich mit scharfer Stimme. Luca ist sehr ungeschützt in der Kutsche, trotz Baron Skaal neben sich.
Wyn schüttelt den Kopf. Die Menge sammelt sich hinter den Kutschen und folgt ihnen zum Cyrambel-Tempel, wo die Trauerfeier stattfinden wird.
»Dann gehe ich jetzt besser«, sage ich.
Ich muss etwas unternehmen. Ich kann meinen Bruder nicht sterben lassen, das kann ich einfach nicht. Ich werde alles tun, was Casimir von mir verlangt, werde sogar seine Sklavin, wenn es nötig ist.
»Es wird alles gut, Julia.« Dek lächelt, als glaubte er das wirklich. »Halt dich morgen einfach vom Palast fern.«