Der Bogen auf dem Berg nach Ragg Rock liegt in rauchenden Ruinen da. Das Gebiet, das mal Sumpf, mal Wald war, ist jetzt nichts als Asche – ein verkohlter Ring um den verwüsteten Fels. Das Haus auf der Kuppe ist zerstört, ein heilloses Durcheinander. Schreiend renne ich den Pfad hinauf und rufe nach ihnen, aber es kommt keine Antwort. Meine Verzweiflung ist größer als die ganze Welt.
Das steinerne Ziffernblatt ist zerbrochen, aus dem Riss in der Mitte steigt Dampf auf. Daneben finde ich einzelne Teile von Ragg Rock. Erst ein Bein. Dann ihre Schulter und den Oberarm. Eine Hand. Ihren Kopf, das Gesicht eine schlammige Masse. Ich hebe ihn auf. Ein Kiesel fehlt, aber das verbliebene Auge fixiert mich. Die Lippen bewegen sich, aber kein Wort dringt heraus; ihr Mund ist voller Kies und Erde. Vor Entsetzen lasse ich den Kopf beinahe fallen. Mit zitternden Händen lege ich ihn vorsichtig auf dem Boden ab und versuche hastig, die restlichen Teile zu finden. Als ich das meiste von ihr an einer Stelle zusammengetragen habe, verstehe ich endlich, was ihre Lippen mir zu sagen versuchen: Mein Topf.
Ich laufe zu den Trümmern der Hütte hinüber und räume die schwarzen Balken, den zerquetschten Kaninchenstall und Fredericks verbrannte Papiere, die überall verstreut liegen, zur Seite. Der Topf ist umgekippt, aber noch immer ganz, und als ich ihn aufstelle, enthält er wieder heißen roten Schlamm. Er ist zu schwer, um ihn hochzuheben, also muss ich zurück zu dem kaputten Ziffernblatt gehen und Ragg Rocks Körperteile einzeln den Berg hinauftragen. Sobald ich den Kopf und einen Arm notdürftig an ihrem Rumpf befestigt habe, kann sie mithelfen. Mit schneller Entschlossenheit modelliert sie sich wieder zu einer Frauenfigur. Sie hebt einen Stein vom Boden auf und steckt ihn in die leere Schlammaugenhöhle, woraufhin beide Augen jetzt unterschiedlich groß sind.
»Wo sind sie?«, frage ich sie immer und immer wieder, bis sie einen Teil des Kieses aus dem Mund holt und einen Moment mit den Fingern an ihrer Zunge arbeitet. Ihr Hals wellt sich leicht, als würde sie sich von innen wieder aufbauen.
Dann sagt sie mit meiner Stimme: »Ich dachte, du wärst es.«
»Sie haben mir Blut geraubt«, schluchze ich. »Es tut mir so leid. Wo ist Theo?«
»Es war schon das zweite Mal. Eine Anfrage, die sich angefühlt hat wie du. Beim ersten Mal war es eine Hexe, die allein kam.«
Also hat Frau de Laroche zuerst selbst versucht, Theo zu holen. Das sollte mich nicht überraschen.
»Die Erste war nicht so stark«, sagt Ragg Rock und spricht jetzt mit Fredericks Stimme, mit seinem Akzent und Tonfall. »Als ich gesehen habe, dass du es nicht bist, konnte ich sie leicht abweisen und zurückschicken. Dann ist es wieder passiert … ein Ruf von deinem Blut. Frederick hat Theo versteckt. Er hat versprochen, dass sie zurückkommen würden, und ich war einverstanden; ich wollte nicht, dass mein Junge in Gefahr gerät. Ich dachte, wenn du es wieder nicht wärst, würde ich den Eindringling erneut wegschicken und dann wüssten wir, dass du tot bist. Aber diesmal war sie es – die Hexe, die den Wesen in Kahge ihre Körperteile, Sinne und Gefühle gegeben hat. Ich erinnerte mich an sie, obwohl es schon ein halbes Jahrhundert her ist. Sie war zu stark für mich. Sie drängte sich einfach bis hierher durch und wollte weiter nach Kahge. Sie zerstörte diesen Ort, zerstörte mich und versuchte die Schatten aus Kahge zu rufen, doch sie kamen natürlich nicht. Der Xianren war bei ihr – Lan Camshe. Auf der Suche nach meinem Theo.«
Shey. Shey hat den Pakt mit den Schatten aus Kahge geschlossen, ihnen Form und Gefühle gegeben. Ragg Rock hatte mir bereits von dieser Hexe erzählt, aber bisher wusste ich nicht, wer sie war. Warum? Was will Shey in Kahge?
»Hast du ihnen gesagt, wo Theo hin ist?«
»Natürlich nicht.« Ihre schlammige Hand schließt sich um meinen Arm. »Warum sind sie nicht zurückgekommen?«
»Sag mir, wo sie sind. Ich sehe nach, ob es ihnen gut geht.«
Wir haben Ragg Rock so eilig wieder zusammengesetzt, dass ihr Gesicht plump und unförmig geraten ist, wodurch ihre verzweifelte Miene nur noch entsetzlicher wirkt. »Auf einem Bauernhof in der Nähe von Spira. Frederick sagte, dort wohne eine Freundin von Och Farya. Er hat gesagt, sie würden zurückkommen. Sie brauchen Silber Moya nicht, ich habe ihm gesagt, er soll direkt an mich schreiben, wenn sie wieder zurückkommen können, aber das hat er nicht getan. Du musst mir meinen Jungen zurückbringen.«
»Ja, ist ja gut, aber du musst mich dort hinbringen.«
Im Moment würde ich ihr alles versprechen.
»Es ist meine Schuld«, murmelt sie. »Ich hätte sie schon damals nicht herkommen lassen dürfen. Ihre Trauer war wie ein Wirbelsturm. Ich habe mich darin verloren.«
»Du meinst Shey? Was wollte sie?«
»Beim ersten Mal wollte sie etwas von der Essenz der Schatten. Genug, um einen Körper wiederzubeleben, einem Kind, das sie verloren hatte, das Leben zurückzugeben – oder irgendeine Art Leben. Damals habe ich nicht erkannt, was daran schlecht sein sollte, aber es funktionierte nicht richtig. Das passiert häufig. Als sie später versuchte zurückzukommen, war da so viel Wut in ihr, dass ich Angst bekam. Ich habe sie nicht mehr eingelassen.«
Endlich fügt sich alles zusammen. Ihr kleiner Junge ertrank und Shey verkraftete den Verlust nicht. Sie kam zu Ragg Rock und traf sich mit den Schatten aus Kahge, die sich nach Leben sehnten. Sie gab ihnen Körper und noch so viel mehr. Im Gegenzug gaben sie ihr genug von ihrer magischen Essenz, um das Kind wiederzubeleben. Mir fällt wieder ein, was Ragg Rock mir von den Schatten in den neuen Körpern und von ihrem Pakt mit einer namenlosen Hexe erzählt hat – Sie spüren Liebe und Schmerz, sie können schlafen und sogar essen. Agoston Horthy kann keinen Schmerz und keine Liebe spüren, er schmeckt und schläft nicht. Shey hat ihm all das genommen und es den Schatten gegeben, der Preis für das Leben seines Bruders. Aber es funktionierte natürlich nicht. Stattdessen verwandelte sie ihre beiden Kinder in Monster und Ragg Rock ließ sie nicht mehr ein. Hat Shey sich deshalb mit Casimir verbündet? Weil er Kahge in die Welt bringen kann und sie dann in der Lage ist, das Getane rückgängig zu machen?
»Werde ich meinen Jungen je wiedersehen?«, heult Ragg Rock.
»Sobald keine Gefahr mehr besteht, kann er zu Besuch kommen, aber ich muss ihn erst in Sicherheit bringen.«
»Zu Besuch?« Es klingt wie ein entsetzliches Zischen. Sie schubst mich und ich stürze zu Boden. Schlammige Ranken schießen aus dem Boden, schlingen sich um meine Arme und Beine und halten mich fest. Eine von ihnen schlängelt sich um meinen Hals und drückt zu.
»Ich bringe ihn her«, keuche ich.
»Du lügst«, knurrt sie.
Und ja, ich lüge, lüge voller Verzweiflung. Nach allem, was geschehen ist, werde ich nicht hier sterben, von einer Schlammfrau erdrosselt.
»Ich meine es ernst!«, rufe ich. »Du weißt, dass er in der Welt nicht sicher ist, sie suchen ihn, er muss hier sein, er braucht dich!«
Sie beugt sich über mich und flüstert: »Hier wachsen jetzt Blumen. Echte Blumen wie in der wirklichen Welt. Das solltest du sehen. Es gibt Wesen, die beinahe aus Fleisch und Blut zu sein scheinen. Ich spüre« – sie klopft sich mit einer schlammigen Faust auf die Brust – »jetzt manchmal einen Herzschlag, wenn er in der Nähe ist. Dieser Ort erwacht zum Leben. Ich verstehe jetzt alle, die leidend hierhergekommen sind und von Liebe gesprochen haben. Ich verstehe es. Er hat keine Mutter und dieser Ort, ich … wir werden zu einer Mutter für ihn. Die Luft verändert sich. Alles wandelt sich für ihn. Wird zu einem Garten, wo er in Sicherheit sein kann, wo er glücklich sein kann. Ich werde … ich habe mich verändert … ich …«
»Ich bringe ihn zurück«, krächze ich. Die Schlammranke verstärkt den Druck auf meinen Hals. Ragg Rocks Stimme schwankt zwischen meiner, Fredericks und anderen Stimmen, die ich nicht kenne.
»Tausende von Jahren habe ich sie beobachtet, Mütter und ihre Kinder. Jetzt habe ich selbst ein Kind. Mein eigenes Kind, meinen eigenen lieben Jungen. Das hier ist sein Zuhause. Du musst ihn herbringen, aber ich vertraue dir nicht. Ich weiß, dass du ihn mir wegnehmen willst. Du benutzt mich. Du willst meine Hilfe und meinen Schutz, aber du willst mich allein zurücklassen, sobald es geht. Das weiß ich.« Sie macht ein Geräusch wie ein Schluchzen. »Es war falsch, aber ich habe diesen armen Schatten geholfen, weil sie einfach bloß leben wollten. Lidari und all die anderen. Sie sehnten sich so danach zu leben, zu fühlen. Marike, die sich geweigert hat zu sterben, die über die Welt herrschen wollte, ich verstehe sie. Nichts ist je genug. Die Hexen kommen her, um mehr Magie zu bekommen, die Schatten wollen mehr Leben. Die Menschen wollen mehr Liebe, mehr Macht, mehr von dem, was sie haben, und etwas von dem, was sie nicht haben, aber was habe ich je gewollt? Ich wusste nie, was es heißt, etwas zu wollen, etwas zu lieben, bis er kam und diesen Ort zum Leben erweckt hat. Das Herz im Inneren des Berges klopft. Hörst du es? Blumen wachsen hier!«
»Sie werden ihn umbringen«, flehe ich sie an. »Du kannst nicht in die Welt, um ihm zu helfen. Das muss ich tun. Wenn du ihn liebst, lass mich ihn retten.«
Ein Knurren dringt tief aus ihrer Seele. »Wenn du ihn nicht zurückbringst, werde ich einen Sturm der Verwüstung entfesseln. Ich werde alle Grenzen einreißen. Ich werde zulassen, dass die Hexen und die Schatten sich zusammenrotten wie zu Marikes Zeiten und freie Hand haben. Ich werde dafür sorgen, dass Chaos herrscht. Hörst du? Er ist mein Sohn!«
»Ich bringe ihn her.«
Denn was soll ich sonst sagen? Was soll ich tun?
Die Schlammranken lösen sich von meinen Gliedern und meinem Hals. Ich rappele mich keuchend auf. George das Kaninchen kommt mit zuckender Nase hinter einem Busch hervorgehüpft und ich bin erstaunlich erleichtert, dass er die Zerstörung Ragg Rocks überlebt hat. Sie nimmt ihn hoch, klemmt ihn sich unter einen Arm und begleitet mich zu dem Aschering, der diesen Stützpunkt zwischen der Welt und ihrem Schatten umgibt. Das von Gaslaternen beleuchtete Spira neigt sich einen Augenblick unter uns, dann fliegt es davon. Das Land rauscht vorbei, dunkle wogende Felder, möglicherweise Weizen, aber wer kann das im Mondschein schon sagen, und dann: der Schatten eines Bauernhofs.
»Dort.« Ragg Rock zeigt darauf, ihre Kieselaugen glänzen. »Vergiss nicht, was ich gesagt habe.«
Sie drückt das Kaninchen an die Brust und ich lasse sie dort zurück, eine einsame Wache auf ihrem zerstörten Posten, während ich die Treppe in die Welt hinuntersteige.