16. Lady Cat

Es war nur wenige Tage vor Domenicos Geburtstag, als Suleika ihm eine Nachricht von Sheena Rose zukommen ließ: Sie hatte offenbar News, was Toni betraf, und wollte sich unbedingt mit Nicki treffen.

Domenico hatte vor einigen Tagen seine Führerscheinprüfung bestanden – die Theorie mit Ach und Krach, aber die Praxis mit Bravour – und das Motorrad abgeholt. Es war eine fast neue Ducati, ein richtig cooles Teil, genau nach seinem Geschmack. Sogar mit Seitenkoffern und zwei Helmen – Morten hatte sich nicht lumpen lassen. Ich freute mich sehr für Nicki, doch zwischen uns änderte es momentan nicht viel. Im Gegenteil, seit Domenico den Führerschein hatte, war er praktisch nur noch auf dem Motorrad unterwegs. Es kam mir fast so vor, als sei er vor irgendwas auf der Flucht.

Ich war an jenem Donnerstagabend überraschenderweise bei ihm zu Hause und wartete auf ihn. Ich war bei Patrik und Jenny gewesen, und es war spät geworden – zu spät, um noch mit dem Zug zu Tante Lena rauszufahren. Ich wollte wegen den Gangs nicht nach zehn Uhr allein am Bahnhof rumhängen. Also hatte ich Tante Lena angerufen und war stattdessen zu Domenico gefahren. Ich rechnete erst nach Mitternacht mit ihm, doch er kam einiges früher als gewohnt – nämlich schon um elf.

«Muss gleich wieder los», sagte er nur, ohne mich eines Blickes zu würdigen und ohne sich überhaupt nur im Entferntesten über meine Anwesenheit erfreut oder wenigstens überrascht zu zeigen.

«Wohin?», wollte ich natürlich wissen.

«Zu Sheena Rose. Sie hat 'n paar Infos wegen Toni.»

«Ach ja?» Ich zog meine Augenbrauen hoch. Noch immer in Lederjacke und Turnschuhen, ging er in die Küche und riss die Balkontür auf. Ich folgte ihm, obwohl ich seine Warnsignale nur allzu genau wahrnahm.

«Könnte ich vielleicht mitkommen?», fragte ich und lehnte mich mit verschränkten Armen gegen den Kühlschrank. «Ich kenne Sheena Rose ja. Das dürfte also keine Gefahr sein.»

Ich wusste zwar von vornherein, dass diese Frage absolut überflüssig war und er sowieso Nein sagen würde, aber ich hatte einfach keine Lust, alles kommentarlos hinzunehmen. Je halsstarriger er mich von seinem alten Umfeld fernzuhalten versuchte, umso mehr Trotz löste das auch in mir aus. Ich wollte ihm wenigstens zu spüren geben, dass er mit mir nicht mehr machen konnte, was er wollte. Er sollte merken, dass ich unzufrieden war.

«Ganz sicher nicht», knurrte er. Er stand mit dem Rücken zu mir in der Balkontür und nebelte sich mit einer Zigarettenrauchwolke ein.

«Klar», schnaubte ich angriffslustig. «Mister Universum muss sein Ding mal wieder allein durchziehen.»

Er drehte sich zu mir um und musterte mich mit unergründlichen Augen. Erst glaubte ich, Zorn darin zu lesen, aber da war noch etwas anderes. Etwas ganz Merkwürdiges, was meiner Meinung nach überhaupt nicht zur Situation passte. Es sah fast aus wie Trauer. Wie jemand, der sein Kind verloren hatte. Ich stutzte einen Moment, weil mich dieser Blick mit einer solchen Wucht traf. Er sah es und schloss seine Augen, sich ihrer Wirkung offenbar bewusst.

«Tu tinne sta' à casa!», sagte er barsch.

So viel Sizilianisch konnte ich nun auch, dass ich ihn verstand.

«Nein, ich bleibe nicht zu Hause», beharrte ich. «Ich habe keine Lust, mich die halbe Nacht schlaflos im Bett zu wälzen, weil ich mir Sorgen mache, wo du dich wieder rumtreibst.»

«Hör zu, ich kann dich nicht mitnehmen, kapier's doch endlich mal!» Er machte seine Zigarette aus, schloss die Tür wieder und ging einfach an mir vorbei hinaus in den Flur, ohne mich weiter zu beachten. Ich trommelte mit meinen Fingern beleidigt gegen die Kühlschranktür. Nicht mit mir! Jetzt war's genug, und zwar endgültig! Und ich würde ihm zeigen, dass ich es ernst meinte!

Da ich keine Lust mehr hatte, mit ihm zu diskutieren und zu streiten, ließ ich ihn erst mal in dem Gedanken losziehen, dass er mich unter seiner Fuchtel hatte. Kaum war er weg, stürzte ich mich in Regenmantel und Schuhe und klopfte an Ninas Tür, um mir ihre Sonnenbrille auszuleihen. Nina war gerade mitten in ihrer Meditation und stellte keine Fragen, warum ich bei Dunkelheit und klaren Wetterverhältnissen ausgerechnet eine Sonnenbrille mit Regenmantel kombinieren wollte. Grund dafür war nicht das Wetter – es war meine einzige Möglichkeit, mich auf die Schnelle einigermaßen unkenntlich zu machen.

Mein Triumph war, dass ich mir den Namen des Bordells genau eingeprägt hatte, wo Sheena Rose arbeitete: «Toni's Kittens». Doch als ich mit der U-Bahn hinfuhr, war mir schon ziemlich mulmig zumute. Irgendwie hatte sich in mir wirklich ein bedenklicher Hang entwickelt, mich ständig in gefährliche Abenteuer zu stürzen und meinen Eltern Kummer zu bereiten, obwohl ich das doch gerade in ihrer jetzigen Situation keinesfalls wollte.

Ich schwor mir, dass dies das letzte Mal sein würde. Ein Mal wenigstens wollte ich Domenico noch zeigen, dass er so mit mir nicht umspringen konnte. Ich hatte zwar wieder einmal keinen Schimmer, wohin sich das alles mit uns beiden entwickeln würde, aber eines war klar: Es musste sich schleunigst etwas ändern. Wir waren wieder dabei, voneinander wegzudriften. Seine alte Welt hielt ihn immer noch in ihren Klauen. Eine beängstigende Kluft hatte sich mittlerweile zwischen uns aufgetan.

Ich fand das Lokal auf Anhieb, und zum Glück achtete niemand weiter auf mich. Die Frauen, die draußen auf ihre Freier warteten, warfen mir höchstens ein paar amüsierte Blicke zu, aber da ich nicht männlichen Geschlechts war und in meiner plumpen Verkleidung auch nicht aussah, als könnte ich ihnen Konkurrenz machen, zeigten sie nicht weiter Interesse. Sheena Rose war nicht zu sehen, dafür aber Domenicos Motorrad, das er vor dem Eingang abgestellt hatte. Ich war hier also richtig.

Trotzdem kostete es mich massive Überwindung, die Erotikbar zu betreten und mich hinter den roten Vorhang zu trauen, der das Innere des Lokals vor der Außenwelt verbarg. Ich konnte mir ungefähr vorstellen, was mich dahinter erwartete, doch mir blieb wohl nichts anderes übrig.

Zuerst sah ich außer dunkelrotem Licht erst mal nicht viel, bis mir einfiel, dass ich die Sonnenbrille noch aufhatte. Vorsichtig nahm ich sie vom Gesicht und versuchte, mich zu orientieren und mir mein nächstes Ziel auszusuchen. Das waren ganz sicher nicht die Männer, die wie Hühner auf der Stange auf ihren Barhockern saßen und mit starren Blicken Richtung Bühne schauten, auf der sich eine halbnackte Frau mit katzenhaften und anzüglichen Bewegungen um eine Eisenstange schlängelte.

Erleichtert stellte ich fest, dass es sich dabei nicht um Sheena Rose handelte, ja, dass weder Sheena Rose noch Domenico hier drin zu sehen waren. Also konnte ich mich zu meiner größten Erleichterung wieder verdünnisieren. Doch irgendwo in diesem Gebäude mussten sie ja sein … rasch schlüpfte ich wieder durch den Vorhang hinaus und setzte die Sonnenbrille auf. Ich kam mir regelrecht vor wie eine Geheimagentin.

Da entdeckte ich eine schmale Holztreppe, die nach oben führte. Schnell erklomm ich die Stufen und hastete ins obere Stockwerk. Ich fand mich in einem engen Flur wieder, der ebenfalls von rotem Licht beleuchtet war und von dem drei Türen abgingen. An der Tür am linken Ende des Flurs klebte ein Bild mit einer Rose, und dahinter hörte ich gedämpfte Stimmen. Ich hielt inne und hatte keine Ahnung, was ich nun tun sollte. Ein paar Minuten lang wartete ich einfach, und dann ging diese Tür plötzlich auf.

Heraus traten Sheena Rose und Domenico, und ich atmete erleichtert aus.

«Danke, Sheena», sagte Domenico.

«Schon gut, Tiger. Pass auf dich auf.» Sheena Rose winkte ihm leicht mit ihrer Hand, auf der eine kleine Rose eintätowiert war.

Erst dann fiel Domenicos Blick auf mich, und ich sah ihm an, dass er mich nicht auf Anhieb erkannte. Er runzelte die Stirn und wollte erst an mir vorbeigehen, doch ich zog rasch die Kapuze runter und entfernte die Sonnenbrille aus meinem Gesicht.

Seine Augen zogen sich sofort zusammen. «Du?»

«Ja, ich», sagte ich mit so fester Stimme wie möglich, obwohl ich nicht gerade vor Behaglichkeit strotzte. Sheena Rose kicherte leise und verschwand wieder hinter ihrer Tür.

«Ey, sag mal, was machst du hier? Du solltest nicht hier sein!» Domenico packte mich forsch am Arm und funkelte mich böse an.

«Ich weiß, aber …»

«Warum …» Er verstummte sofort, als auf einmal Stimmen hinter der mittleren Tür laut wurden. Seine Hand, mit der er meinen Arm festhielt, erschlaffte von einer Sekunde zur andern, bis er sie langsam wieder zurückzog. Er stand da wie ein Luchs, der seine Ohren spitzte und angestrengt lauschte.

Die Stimmen hinter der Tür schrien einander in italienischer Sprache an. Es waren eine Frau und ein Mann. Nickis Augen veränderten sich ganz merkwürdig. Sein Gesichtsausdruck, der eben noch hart und angespannt gewesen war, nahm auf einmal ängstliche Züge an. Er kam mir plötzlich vor wie ein kleiner Junge, der draußen irgendwo allein im Regen stand und seine Mutter verloren hatte. Und da, in diesem kurzen Augenblick, der nur ein paar Sekunden währte, sah ich auf einmal den kleinen Jungen aus Sizilien vor mir.

Den Jungen, der vergeblich vor der Tür seiner Mutter gewartet hatte, die so gut wie nie für ihn da gewesen war.

Und dann kapierte ich, wer hinter dieser Tür wohnte und da auf Italienisch herumschrie, ja sogar zwischendurch gequält aufstöhnte.

Auf der Tür prangte ein Bild mit einer Tigerkatze.

Es war das Zeichen von Lady Cat.

Das Zeichen seiner Mutter. Maria di Loreno.

Und in dem Moment sah ich den Tiger, meinen Tiger-X, förmlich vor Schmerz aufbrüllen. Ich hatte keine weitere Sekunde mehr Zeit, diese vor grenzenloser Pein aufblitzenden Augen zu studieren – ja ich hätte ihren Anblick auch keine Sekunde länger mehr ertragen. Leid, Hass, Wut, Qual, aber auch eine zutiefst verzweifelte Sehnsucht vermengten sich zu etwas, was mir schier das Herz zerriss.

Ich drückte mich zur Sicherheit platt gegen die Wand, als Domenico die Tür aufriss, in das Zimmer stürmte und einen Mann am Kragen packte, den er mit sich auf den Flur hinauszerrte. In der nächsten Millisekunde klatschte er den Mann buchstäblich wie eine Fliege kopfvoran gegen die Wand, brüllte ihn auf Sizilianisch an und begann, sein nacktes Hinterteil so brutal mit Fußtritten zu traktieren, dass sogar die Hausmauern in Schwingung gerieten.

Eine Frau mit schwarzem, lockigem Haar und zerkratztem Gesicht stolperte halbnackt und schreiend aus dem Zimmer. Sie hielt kurz inne, schaute sich fieberhaft um, und ich erhaschte dabei einen kurzen Blick in ihre blitzenden Augen. Ich sah ihr an, dass sie mich sofort erkannte. Sie packte ihren Sohn am Arm, zerrte mit aller Kraft an ihm und versuchte verzweifelt, ihn von ihrem Kunden wegzureißen.

«Domenico!», rief sie. «No! Non farlo!»

Doch Tiger-X hörte nicht darauf, weder auf ihre flehende Stimme noch auf das erbärmliche Winseln des Mannes. Er war nicht mehr zu stoppen. Die Grenze war überschritten. Sein Zorn hatte sich einmal mehr in unkontrollierte Raserei verwandelt, entgegen aller Hoffnung, die ich gehegt hatte, dass es nie wieder vorkommen möge.

«Domenico!», schrie seine Mutter abermals. «Smettila!»

Er spürte nicht mal, wie seine Mutter ihm ihre langen Fingernägel in den Hals bohrte – offensichtlich eine letzte Verzweiflungstat, um ihn endlich zur Ruhe zu bringen.

Nein, er machte einfach weiter, bis der Mann langsam entkräftet in sich zusammensank.

«Domenico, no! Finìscila!» Maria zerrte weiter an ihm.

Dumpfe Schritte dröhnten von der Treppe her nach oben, und dann fiel auf einmal ein großer Schatten auf uns. Ein kolossaler Mann stand auf der obersten Stufe, schwarz wie die Nacht, mit wutverzerrtem Gesicht und weiß blitzenden Zähnen. Er stand so nah bei mir, dass ich beinahe glaubte, seinen Atem zu fühlen.

In dem Moment versagten mir Herz, Kreislauf und Lunge gleichzeitig. Meine Füße schienen in derselben Sekunde fest in den Boden einzuwachsen. Ich stand da, starr vor Schreck, und konnte mich nicht mehr von Ort und Stelle rühren.

Denn ich hatte den Mann soeben wiedererkannt.

Es war derselbe Hüne, mit dem Domenico und ich schon mal eine Begegnung gehabt hatten, vor langer Zeit am anderen Ausgang des Parks.

Und jetzt wusste ich auch, warum mir sein Name bekannt vorgekommen war.

Toni.

Toni fackelte nicht lange. Mit einer fast unheimlichen Ruhe machte er zwei Riesenschritte auf Domenico zu und riss ihn von dem Mann weg. Doch Domenico wand sich sofort wie ein wilder Tiger in Tonis Griff und versetzte ihm einen gezielten Fußtritt gegen das Schienbein. Toni sackte auf die Knie, so dass Domenico ihm für einen kurzen Moment entkommen konnte. Doch Toni, der alles andere als eine Feder war, blieb nicht liegen und hatte Domenico schon wieder am Fuß gepackt. Er schleifte ihn durch den Flur zur Treppe, so dass Domenico mit dem Kopf gegen das Geländer knallte und für ein paar Sekunden benommen liegenblieb.

Ich war wie gelähmt vor Schreck.

Ein kleines, dreckiges Lachen erschien auf Tonis Gesicht. Er hob seinen Kopf und schaute mir mit einer höhnischen Siegesgewissheit direkt in die Augen.

«Lass ihn los, Toni!», kreischte Maria.

Domenico stöhnte und rappelte sich wieder auf. Blut tropfte aus seiner Nase. Ich wimmerte, weil mir der Anblick furchtbar wehtat. Tonis Nasenflügel blähten sich auf wie bei einem Stier. Seine weißen Augen quollen vor Zorn richtig aus ihren Höhlen.

«Also, komm, du Bastard!», dröhnte er. «Tragen wir es aus!»

«Nein!», schrie ich nun. «Nein! Hilfe!»

Und wer mich im nächsten Augenblick am Arm packte und in ihr Zimmer zog, war niemand anders als Maria, Domenicos Mutter. Ehe ich protestieren konnte, hatte sie schon die Tür verriegelt und sah mich an.

«Lass mich raus!», kreischte ich und rüttelte vergeblich an der Türklinke.

«Scht! Statti cca!» Maria packte sofort meinen Arm. In nichts als einem knappen Tigerkleidchen, Strapsen und Silberketten um den Hals stand sie vor mir. Trotz meiner panischen Aufregung stach mir ihr starker Parfumduft in die Nase. Sie blieb vor mir stehen und legte mir warnend den Zeigefinger auf die Lippen. «Scht!»

«Aber ich muss Domenico helfen!»

«Zu gefährlich, Mädchen», zischte Maria. «Du kannst nicht helfen!»

Da hörte ich, wie draußen im Flur Schüsse knallten, und dann, wie jemand qualvoll aufschrie – jemand, der sich offenbar in furchtbaren Schmerzen wand.

Ich wusste nicht, wessen Folter stärker war – die in meinem Herzen oder die von Domenico, nachdem ich registriert hatte, dass er es gewesen war, der diesen grausamen, markerschütternden Schrei von sich gegeben hatte.

Ich warf mich mit jäher Verzweiflung gegen die Tür und riss in meinem Wahn fast die Türklinke heraus. Tränen spritzten aus meinen Augen. Vor mir sah ich Domenico am Boden liegen, bewegungslos in einer Blutlache … mit einer Schusswunde im Brustkorb …

Es war mit einem Mal still draußen. Totenstill …

«Weg!», zischte Maria und packte mich wieder am Arm, ehe nur kurz darauf jemand anfing, wütend von draußen gegen die Tür zu poltern.

Maria zerrte mich durch ihr einziges Zimmer, das wie alles andere hier in rotes Licht getaucht war, und stieß mich ohne weitere Worte in ein kleines Bad. Schon wollte sie die Tür schließen, doch dieses Mal war ich schneller und stemmte mich dagegen.

«Was soll das?», wehrte ich mich. «Du kannst mich nicht einfach einsperren!»

«Mach sofort auf!», dröhnte Tonis zornentbrannte Stimme vor der Tür. «Ich hab dir doch gesagt, dass ich deinen Bastard hier nicht sehen will!»

Maria warf mir einen gehetzten Blick zu, und mein Herz begann förmlich zu bluten, als mir ihre frappierende Ähnlichkeit mit Nicki ins Auge stach. Nicki … den ich vielleicht niemals wieder lebend sehen würde …

«Scappa! Dalla finestra! Geh zu Sheena Rose!» Sie deutete mit ihrem ringbestückten Zeigefinger auf das kleine Klofenster.

Ich sah sie völlig verstört an. Was sollte ich tun?

Als Maria die Badezimmertür endgültig hinter mir schloss und mich allein im Dunkeln ließ, glaubte ich einen Moment lang, ohnmächtig zu werden. Mit letzter Kraft fand ich den Lichtschalter und musste mich erst mal eine Weile an der Wand abstützen. Alles um mich herum schien sich nur noch im Kreis zu drehen. Doch dann, als ich Toni erneut poltern hörte, packte mich der pure Überlebensinstinkt, der nicht mehr lange zögern konnte. Ich fasste meine einzige Fluchtmöglichkeit ins Auge und stieg auf den Toilettendeckel, um zu dem kleinen Fenster zu gelangen. Mit zittrigen Fingern machte ich es auf und kletterte umständlich auf das schmale Fensterbrett. Dabei stieß ich einen kleinen Blumentopf zu Boden. Es war mir egal. Ich schob mein linkes Bein über den Sims, ohne zu wissen, wo ich auf der anderen Seite landen würde.

In der Wohnung klirrte es, als ob etwas in tausend Scherben zersplittert wäre, und gleich darauf hörte ich Marias panischen Aufschrei. Ich wusste, dass mir höchstens noch ein paar Sekunden blieben. Toni war schon in Marias Zimmer. Ich zog auch mein rechtes Bein nach und erkannte schließlich, dass ich mich nur ein wenig zu strecken brauchte, um auf einen kleinen Balkon zu springen. Dank dem rötlichen Licht, das aus dem Nachbarfenster schimmerte, konnte ich dessen Umrisse in der Dunkelheit deutlich genug sehen.

Wahrscheinlich hatte Maria genau das gemeint … einen anderen Weg gab es ja nicht. Vorsichtig rutschte ich ganz nach links, bis meine Füße das Geländer berühren konnten. Mein Regenmantel war dabei ein wenig hinderlich. Vorsichtig hielt ich mich an einem kleinen Mauervorsprung fest und ließ mich mit einem gezielten Satz auf den Balkon plumpsen.

Dort klopfte ich auf gut Glück an die Scheibe der Balkontür. Es dauerte nicht lange, bis Sheena Rose mir öffnete.

«Hallo. Maria meinte, ich soll zu dir flüchten …»

Sheena Rose ging gar nicht auf mein Gestammel ein.

«Schon klar.» Sie lachte spöttisch. «Da lang!» Sie wies mit ihrem spitzen Fingernagel auf eine kleine Feuertreppe. «Mach aber schnell!»

Ich hätte sie gern nach Domenico gefragt, doch sie versetzte mir einen energischen Stoß. Für Fragen war jetzt keine Zeit.

Ich musste die Treppe rückwärts hinunterklettern, weil sie so steil war. Mehrmals schlug ich mir die Knie an den Metallsprossen auf, doch dieser Schmerz war mir unwichtig. Als ich sicheren Boden unter mir spürte, blieb ich wie angewurzelt in der Dunkelheit stehen und warf einen Blick zum Balkon und zu den rot beleuchteten Fenstern hoch.

Sheena Rose war wieder verschwunden. Es war niemand mehr da, der mir Antwort auf die allerdringlichste Frage geben konnte. Nämlich, ob Nicki noch am Leben war …

Aber ich konnte und wollte nicht einfach gehen, ohne zu wissen, was mit ihm passiert war! Doch ebenso genau wusste ich, dass eine Umkehr lebensgefährlich war. Und dass ich Domenico auf diese Art und Weise sowieso nicht mehr retten konnte …

Es gab nur noch eines, was ich tun konnte: mich so schnell wie möglich erst mal selbst in Sicherheit zu bringen und die Polizei anzurufen. Hastig zog ich meine Kapuze wieder hoch und setzte mich in Bewegung, ohne zu wissen, wohin ich laufen sollte. Ich hatte noch nicht mal die leiseste Idee, wie ich überhaupt nach Hause kommen sollte. Wenn ich Glück hatte, erwischte ich vielleicht noch die letzte U-Bahn. Geld für ein Taxi hatte ich keines, nur meine EC-Karte, die meine Eltern mir extra für mein Konto bestellt hatten, damit ich zur Not an Geld herankommen würde.

Ich ging in die nächste U-Bahn-Station und las den Fahrplan ab. Bis auf ein paar zugedröhnte Junkies waren um die Uhrzeit kaum noch Leute da. Ich verschwendete keinen Gedanken an die Gangs oder an irgendwelche Gefahren, die hier auf mich lauern konnten. Ich dachte nur an Domenico.

Mein Handy klingelte. Meine zitternden Finger brauchten drei Anläufe, bis sie es endlich aus der Jackentasche gefischt hatten. Beinahe ließ ich es in hektischer Aufregung wieder fallen, als ich auf dem Display «Nicki» las.

Er war am Leben! Gott sei Dank!

«Nicki?», meldete ich mich atemlos.

Doch anstelle von Nickis leicht heiserer Stimme antwortete mir am anderen Ende ein dröhnendes, boshaftes Lachen.

Ich fuhr zusammen und hätte beinahe erneut die Kontrolle über meine Finger verloren. Ich krampfte sie dermaßen zusammen, dass die Muskeln in meinem Arm schmerzten. Das war doch nicht wahr … das war gewiss nur eine Einbildung …

Doch die böse Stimme redete unbeirrt weiter.

«Wo immer er ist, richte ihm aus, dass ich ihn kaltmache, wenn er mir je wieder über den Weg läuft. Hast du mich verstanden?»

Ich stand mit bebenden Lippen da, zu einer Salzsäule erstarrt.

«Hast du verstanden?», bellte die Stimme.

Ich hörte sie zwar, begriff aber immer noch nicht, dass von mir eine Antwort erwartet wurde.

«Antworte gefälligst!»

Endlich fuhr ich zusammen. «Was?»

«Hast du mich nicht gehört? Ich mach ihn fertig, den Hurensohn. Denn das ist er doch, oder etwa nicht? Un figlio di puttana. Der Sohn einer Hure. Ein dreckiger kleiner Bastard. Mehr nicht.» Wieder wurde ich von diesem fiesen Lachen gemartert.

Panisch drückte ich den Auflegen-Knopf. Einen Moment lang traute ich mich kaum, Luft zu holen. Mein Magen drückte fürchterlich, und mir war speiübel. Ich krümmte mich und kauerte mich wie die Drogensüchtigen auf dem Fußboden zusammen. Das zuckende Licht einer Leuchtreklame war das einzige bisschen Bewegung in dieser tristen, grauen Umgebung.

Erneut wurde ich durch das Klingeln meines Handys aufgeschreckt. Eiskaltes Grausen erfasste mich. Doch als ich auf dem Display Suleikas Namen las, hätte ich beinahe aufgejubelt. Mit einem Satz war ich wieder auf den Beinen.

«Maya, bist du's?» Suleikas Stimme vibrierte in höchster Erregung.

«Ja …»

«Könntest du irgendwie zum Xenon kommen? Jetzt gleich?»

«Ja … warum?»

«Nicki ist bei uns. Er braucht dich ziemlich dringend. Gina und Mike holen dich bei der Station ab.»

«Wie … wie geht es ihm?»

«Er ist schon okay. Er ist ein bisschen durcheinander und hat einen Streifschuss abbekommen, aber er ist okay. Doch er hat gesagt, dass wir dich dringend holen sollen.»

«Okay. Ich bin schon unterwegs», sagte ich.

Mit einer Erleichterung, wie ich sie vermutlich noch nie in meinem Leben verspürt hatte, verließ ich die öde U-Bahn-Station und fing an zu laufen. Ich wusste, dass mir kein anderer Weg blieb als der zu Fuß, Gefahr hin oder her. Doch meine Beine flogen quasi über das Bordsteinpflaster. Nicki war am Leben, das war wichtiger als alles andere! Und kein Hindernis dieser Welt konnte mich nun noch davon abhalten, so schnell wie möglich bei ihm zu sein!

Ich brauchte nur zehn Minuten, bis ich an der U-Bahn-Station stand, die dem Xenon am nächsten war. Mike und Gina warteten wie vereinbart oben an der Treppe. Sie nahmen mich in die Mitte, fast wie zwei Leibwächter, und führten mich Richtung Fabrikareal.

«Keine Angst, die haben heute gerade Polizeirazzia im Xenon», klärte mich Gina auf. «Sind also nicht viele von den Gangs da.»

Mike schwieg die ganze Zeit. Seine Miene war wie in Stein gemeißelt.

«Schnell», sagte Gina, als wir in eine kleine Seitengasse einbogen. «Es darf uns niemand sehen.»

Sie schob mich an ein paar Mülleimern vorbei, in einen kleinen, unscheinbaren und dunklen Eingang.

«Treppe runter!»

Etwas nervös versuchte ich in dieser Dunkelheit ein paar Treppenstufen auszumachen. Mike zog schweigend sein Handy aus der Hosentasche und schaltete das Display ein, so dass ich dank dieser minimalen Lichtquelle etwas sehen konnte. Sie ließen mich vorausgehen. Es ging nur ein paar wenige Stufen hinunter, bis wir vor einer verschlossenen Tür standen. Dort lagen lauter Schrottteile von ausgedienten Maschinen herum, die offenbar mal zur Fabrik gehört hatten. In einer Ecke neben der Tür erkannte ich Domenicos Motorrad.

Gina überholte mich und hielt mich am Arm zurück.

«Da darf niemand rein, der nicht Teil der Clique ist. Also kein Wort zu irgendjemandem, der nicht dazugehört, okay?», flüsterte sie. Ich versprach es ihr mit einem Kopfnicken.

Gina klopfte zweimal kurz und dreimal lang an die Tür und wiederholte es noch dreimal, ehe jemand öffnete.

Der kleine Raum, den wir betraten, war vollständig in giftgrünes Licht getaucht. Das mir unbekannte Mädchen, das uns hereingelassen hatte, trat zur Seite und ließ uns durch.

Das Erste, was meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte, war der mächtige Graffiti-Tiger an der Wand. Zahnbleckend schaute er auf mich hinunter und sollte wohl bedrohlich wirken, doch fast kam es mir so vor, als wolle er mich viel eher beschützen. Ein silbernes X prangte über seinem Kopf.

Es war keine Frage, wer dieses Kunstwerk gesprayt hatte.

Ich war ein paar Sekunden lang richtig wütend auf diesen Actionkünstler, weil er mir nie etwas von diesem Raum erzählt hatte. Das sah ihm wieder mal ähnlich! Er war einfach Meister darin, seine Geheimnisse zu hüten.

Ich zog meine Nase kraus, als ich den üblen, abgestandenen Mief einatmete. Nur ein kleines Kellerfenster ließ ein wenig Luft herein, doch es war direkt unter einem Schacht. Ich ging an einem abgewetzten Billardtisch vorbei und an einem kleinen Bartisch, auf dem irgendein Spaßvogel eine Skulptur aus leeren Bierflaschen gebastelt hatte. Das Licht sprang auf einmal schlagartig auf Blau, und nun konnte ich sehen, dass es von einer kleinen Lichtorgel kam. In einer Ecke hockten ein paar Leute und zogen genüsslich an einer Shisha-Pfeife. Aus einem kleinen Radio kam Techno-Sound.

Suleika trat hinter einer Trennwand hervor. «Maya?»

«Ja, ich bin hier.»

«Komm.» Sie nahm meine Hände und führte mich hinter die Wand. Domenico saß dort auf einer Matratze, zusammengekauert und vermummt in seine Kapuze.

«Nicki. Maya ist da!»

Er hob seinen Kopf. Als er mich erblickte, rappelte er sich auf und hinkte heran. Wir fielen uns in die Arme.

«Da bist du ja. Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Ich dachte, du seist tot!» Ich zerquetschte mit meinen Lidern ein paar Tränen, die sich verstohlen den Weg aus meinen Augenwinkeln bahnten.

«Das dachte ich auch von dir», flüsterte er heiser.

«Sieh mal, Maya, er wurde hier am Bein angeschossen», sagte Suleika. «Kannst du dir das mal anschauen? Du bist doch Arzttochter. Ich hab versucht, einen Verband zu machen, aber du kannst das sicher besser als ich.»

Wir ließen uns auf der Matte nieder, und ich krempelte vorsichtig Domenicos Hosenbein hoch.

In dem Moment wechselte das Licht auf Violett.

«Gibt es hier kein vernünftiges Licht?», fragte ich. «Ich kann gar nichts sehen.»

Suleika erhob sich und lief zu der Lichtorgel, und für ein paar Sekunden war das Licht ganz weg. Dann wurde eine kleine Glühbirne an der Decke eingeschaltet. Ein schwacher Protest ging durch die Gruppe, die an der Shisha-Pfeife nuckelte, doch Suleika bedachte die Leute nur mit einem erhabenen Nicken.

Vorsichtig löste ich den notdürftigen Verband, den Suleika aus einem Handtuch gemacht hatte. Ich erschrak, als ich sah, dass es voller Blut war. An der Stelle, wo ihn die Kugel getroffen hatte, war das Fleisch richtig zerfetzt, aber die Wunde war offenbar nicht tief.

«Sieht schlimmer aus, als es ist», murmelte Domenico.

«Nicki, du musst sofort in die Notfallaufnahme.»

«Nee, geht nicht. Ich kann hier nicht weg.»

«Kannst du das nicht machen, Maya?», sagte Suleika.

«Ich weiß nicht. Ist da noch eine Kugel drin?», fragte ich.

«Ich glaub nicht», sagte Suleika. «Ich hab schon geschaut.»

«Habt ihr irgendwelchen vernünftigen Verbandsstoff hier? Und Desinfektionsmittel?»

«Nein, aber ich sag Gina, dass sie zu Hause was holen soll. Wir hatten leider keine Zeit. Sag mir, was du brauchst. Meine Mutter hat 'ne ganze Apotheke.»

«Okay, dann brauch ich Wasser, Kochsalz, Verbandsstoff, Gaze, Desinfektionsmittel, Desinfektionssalbe und Schmerztabletten», zählte ich auf.

«Wird gemacht», sagte Suleika und winkte ihre Schwester Gina herbei. Gina machte sich mit einem Zettel gleich auf den Weg. In der Zwischenzeit legte ich Nickis Kopf auf meinen Schoß und streichelte seinen Bauch – nicht zuletzt, um zu überprüfen, ob er sich keine neuen Wunden geritzt hatte. Ich wusste ja noch nicht, was das Zusammentreffen mit seiner Mutter in ihm ausgelöst hatte.

Als Gina etwa zwanzig Minuten später wieder zurückkam und mir alles, was ich bestellt hatte, in einer Plastiktüte überreichte, machte ich mich gleich an die Arbeit. Nicki biss tapfer auf die Zähne, als ich ihm die Wunde zuerst mit einer Kochsalz-Lösung säuberte. Doch als ich danach Desinfektionsmittel darauf träufelte, konnte selbst der starke Tiger einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken. Zuletzt legte ich ihm einen professionellen Verband an, ganz so, wie ich es von meinem Vater gelernt hatte.

Suleika ließ uns allein, so dass wir uns nebeneinander auf die Matratze legen konnten. Domenico hob seinen Arm mit der stummen Bitte, dass ich meinen Kopf darauf betten sollte. Ich kuschelte mich fest an ihn. Mit einem weiteren Blick bat er mich, meine Hand wieder auf seinen Bauch zu legen.

Eine Weile blieben wir so beieinander liegen und ruhten uns einfach nur aus. Ich wollte nicht denken, ich wollte nicht fühlen – ich wollte einfach nur eins: bei ihm sein und mich von all diesen Strapazen erholen. Ich wäre beinahe eingeschlafen, als ich auf einmal fühlte, wie seine Hand zart über meine Wangen glitt.

«Maya …»

«Hmmm?» Ich schlug die Augen auf.

«Maya … ich glaub, ich hab es … nicht mehr unter Kontrolle … ich …» Seine heisere Stimme schaffte kaum ein Flüstern. Er hustete ein bisschen.

Ich rutschte etwas näher an ihn heran und begann, zärtlich sein Gesicht zu küssen. Dabei berührten meine Lippen ein paar eingetrocknete Blutkrusten.

Er braucht sie … und sie braucht ihn …

Von Neuem wurde es mir wieder klar.

Es war einfach ein unsichtbares Band da, das uns festhielt und immer wieder zusammenfügte.

Egal, was passierte. Egal, welche Katastrophen dauernd versuchten, uns auseinanderzureißen. Es gab einfach nichts, was uns trennen konnte. Weder Jähzorn noch Schmerz, weder Gangs noch Gewalt, weder Geheimnisse der Vergangenheit noch die Ungewissheit der Zukunft, weder Suchtprobleme noch Missverständnisse, noch Mädchengeschichten. Einfach nichts.

Unsere beiden Leben waren unwiderruflich und fest ineinander verschlungen.

Ich war ein Teil von ihm, und er war ein Teil von mir.

«Du musst nie Angst haben vor mir», hauchte er in mein Ohr. «Nie. Ich versprech dir das. Egal, was du über mich hörst, ich bin …» Doch er war zu übermüdet, als dass er den Satz noch zu Ende sprechen konnte.

Auf einmal stand Mike vor uns. «Ich will ja nicht stören, aber an eurer Stelle würd ich die Trennwand 'n bisschen rüberschieben. Euch gucken inzwischen mindestens zehn Leute zu.»

Ich schaute auf. Tatsächlich hatten wir komplett vergessen, dass wir hier gar nicht allein waren. Ein paar Mädchen standen hinten beim Bartisch und starrten mich an wie Geier – mich, die Freundin von Tiger-X.

«Ist sie das?», hörte ich die eine flüstern.

«Ja, es heißt, der soll richtig mit ihr zusammen sein.»

Mike grinste und verschob die Trennwand, so dass wir vor weiteren schaulustigen Blicken geschützt waren.

«Kannst du heute Nacht mit mir dableiben?», bat Domenico ganz leise, als wir wieder unter uns waren.

«Wo soll ich denn sonst hin?»

Ja, wo sollte ich hin? Ich hatte ja Tante Lena gesagt, dass ich ausnahmsweise bei Domenico übernachten würde …

«Du hast Recht.» Er ließ seinen Zeigefinger sanft über meine Wange kreisen. «Du kannst nirgends hin.»

Sein Gesicht zuckte vor Schmerz zusammen, als er hinzufügte: «Wir können nämlich gar nicht mehr nach Hause.»

Ich nickte. Irgendwie war mir das klar, obwohl ich noch nicht alle Zusammenhänge erfasst hatte.

«Toni wird nicht lange brauchen, bis er herausgefunden hat, wo ich wohne. Und dann hab ich zu allem Übel auch noch den ganzen Zuhälter-Clan am Hals. Die stecken ja alle unter derselben Decke. Es ist nur noch 'ne Frage der Zeit, bis sie mich finden. Und dich auch. Wir sind nirgends mehr sicher.»

«Warum … wolltest du eigentlich Infos über Toni kriegen?» Ich durchschaute die Sache immer noch nicht. Ich hatte überhaupt keine Übersicht, wer nun alles hinter ihm her war, aber ich bekam ja auch keine handfesten Infos.

Er schloss die Augen, und ich sah, dass er mit dieser Frage selber überfordert war. Dass sie zu dem allertiefsten Geheimnis seines Herzens führte, dorthin, wo er sich selber noch nie hingewagt hatte.

Es war das letzte Siegel, das gebrochen werden musste.

Und ich musste sehr, sehr vorsichtig sein.

«Was machen wir denn nun?», fragte ich behutsam.

«Schlaf ein bisschen, Maya. Ich denk mir was aus.»

Schlafen, ja, das war das, wonach ich mich im Augenblick am allermeisten sehnte. Müde rollte ich mich in Nickis Armen zusammen und ergab mich meinen Traumbildern, die sich in rasanter Reihenfolge abwechselten, genauso wie die Lichtorgel, die nun wieder in allen Farben zuckte und jedem meiner Bilder eine eigene Farbe verlieh: meiner Mutter, Nickis Mutter, Toni, Manuel, die Gangs, Morten, Solvej, Hendrik … Lila, Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Violett, Weiß.

Ich wusste nicht, wie lange ich wirklich geschlafen hatte. Aber als Nicki mich vorsichtig weckte, war die Lichtorgel wieder aus und der Raum bis auf zwei, drei andere Leute fast leer.

«Maya», flüsterte Nicki. «Bist du wach?»

«Mhmmm …»

Seine Fingerspitzen strichen sanft mein Haar zur Seite, und er beugte sich über mich. «Können wir irgendwo hinfahren? Raus aus der Stadt? An einen Ort, wo wir in Sicherheit sind? Nur wir zwei. Ich möchte allein sein mit dir. Ganz allein. Bitte.»

Mit einem Schlag war ich hellwach und setzte mich auf.

«Und wohin?», fragte ich, während ich mir noch die Augen rieb.

«Ich weiß nicht … ich dachte, vielleicht … kennst du … irgend 'nen Ort außerhalb der Stadt … wo wir 'n paar Tage hinkönnen? Und ungestört sind? Ich muss nämlich mit dir reden. Dringend.»

Ich überlegte. Und hatte seltsamerweise auch gleich einen Einfall.

«Meine Tante besitzt ein kleines Haus, außerhalb der Stadt an einem kleinen See in einem ganz winzigen Kaff. Sie hat es mal zusammen mit ihrem Mann gekauft. Früher haben meine Eltern und ich manchmal unsere Ferien dort verbracht.»

«Können wir dahin fahren? Jetzt gleich?»

«Jetzt gleich?» Ich schaute auf meine Uhr und sah, dass es schon fast fünf war. Freitagmorgen. Zweieinhalb Stunden bis zum Schulbeginn.

«Das geht nicht … ich hab Schule …»

Außerdem war die Frage, ob Tante Lena uns das überhaupt erlauben würde …

«Kannst du dich nicht … ausnahmsweise krank melden?», fragte Domenico vorsichtig.

«Das geht nicht. Ich muss in der Deutschstunde für unsere Projektarbeit recherchieren. Das ist meine Aufgabe. Isabelle wird mich umbringen, wenn ich kneife … Die nimmt das alles furchtbar ernst …»

«Bitte, Maya.» Domenico sah mich flehend an. «Ich muss hier dringend weg … wir müssen weg. Wir sind in Gefahr. Du und ich. Und ich muss erst mal in Ruhe nachdenken, wie ich uns da wieder raushole.» Er zog eine Zigarette und sein Feuerzeug aus der Schachtel in seiner Hosentasche und zündete sich den Glimmstängel nervös an. Er rappelte sich auf und ging ein bisschen von mir weg, um den Qualm so gut wie möglich von mir fernzuhalten.

«Ich muss auch jemand finden, der für mich am Pizzaofen einspringt und Service macht», sagte er nach einer Weile. «Aber wir haben echt keine andere Wahl, Maya …»

Ich nickte schließlich. Ich wusste, dass Tante Lena immer einen Schlüssel direkt bei dem Ferienhäuschen unter einem Stein versteckte. Vielleicht … brauchten wir sie gar nicht erst zu fragen. Jedenfalls nicht vorher. Wir konnten sie hinterher von dort aus anrufen. Ich konnte sie ja um diese Uhrzeit schlecht aus dem Bett klingeln …

Nur: Was sollte ich mit Isabelle und der Schule machen?

Doch Domenicos eindringlicher Blick überzeugte mich, dass die Lage wirklich ernst war und wir in höchster Gefahr schwebten.

«Okay … aber wie sollen wir unsere Sachen holen?», fragte ich. «Ich habe überhaupt nichts zum Wechseln dabei. Wir können ja unmöglich jetzt noch zu dir oder zu meiner Tante fahren und ein paar Klamotten holen …»

«Suleika kann dir sicher was besorgen. Hast du dein Handy dabei?»

Ich nickte.

«Okay, lass uns gleich mal zu Mike fahren. Weißt du denn eigentlich, wie man zu diesem Ferienhaus da kommt?»

«Wenn ich eine Karte habe, kann ich es dir zeigen», sagte ich.

«Easy. Treiben wir alles auf.» Er stieß den letzten Rauch aus der Nase und schob die abgebrannte Kippe zu den anderen alten Zigarettenstummeln, die allesamt in den eigens dafür gebohrten Löchern in der Kellerwand steckten. Offenbar dienten sie als Aschenbecher. Ich packte das ganze Verbandsmaterial zurück in die Tüte und nahm es mit.

Als wir den Kellerraum verließen, stellte ich fest, dass Nicki ziemlich arg humpelte.

«Kannst du mit deinem verletzten Bein überhaupt Motorrad fahren?», fragte ich.

«Geht schon», sagte er. Es kostete ihn allerdings ziemlich viel Kraft, das Motorrad die kleine Treppe hinauf zum Ausgang zu schieben. Ohne die schmale Schräge, die die Stufen in der Mitte unterbrach, wäre es überhaupt nicht gegangen.

«Komm, steig auf», sagte er, als wir uns wieder im Freien in der engen Seitenstraße befanden, und holte unsere beiden Helme aus den Seitenkoffern.

«Wie bist du eigentlich entkommen?», fragte ich, bevor ich aufstieg.

«Sheena Rose kam mir zu Hilfe. Als Toni bei … bei meiner Alten im Zimmer war, hat sie mir aufgeholfen und mich runter zur Bar gebracht. Da war's dann nicht mehr weit bis zum Motorrad …»

Irgendwann musste ich Sheena Rose mal einen besonderen Dank zukommen lassen …

Etwas später parkten wir vor dem Haus, in dem Mike wohnte. Domenico lief zur Tür und klingelte Sturm. Es dauerte nicht lange, und die Jalousie ging hoch.

«Siamo noi!», rief Domenico hoch.

«Alter, ich glaub, mein Schwein pfeift. Was macht'n ihr um die Uhrzeit hier?»

«Lass uns einfach rein und stell keine blöden Fragen!»

«Mann, hast du 'n Rad ab? Es ist mitten der Nacht.»

«Exakt halb sechs», sagte Domenico nach einem Blick auf meine Armbanduhr.

«Sag ich ja: mitten in der Nacht!»

«Quatsch nicht so viel und mach endlich auf!»

Mike zog stöhnend seinen Kopf zurück. Etwas später kam der Summton, und wir gingen rein.

Oben im dritten Stock angekommen, stand Mike im Unterhemd vor uns und sah ziemlich verkatert aus.

«Menschenskind, Nico, ich fass das einfach nicht.» Er kratzte sich immer noch ziemlich verpennt am Kopf.

«Fass es oder fass es nicht, schau einfach, dass es in deinen glatzköpfigen Schädel reinpasst.»

«Und, schönes Beischläfchen gehabt?» Mike grinste uns wichtigtuerisch an.

«Depp!» Domenico sah sich nach etwas um, das er Mike an den Kopf werfen könnte, und entschied sich für eine gelbe Gummi-Ente, die irrtümlicherweise auf dem Schuhschrank herumstand.

«Yo! Was wird das denn, Alter?»

«Ne Beule mehr.»

«Man wird ja wohl noch fragen dürfen. Junge-Junge, ich muss mir die ganze Zeit von den schönsten Frauen der Stadt anhören, dass sie dich gern treffen würden, während unsereiner fast den Affen macht, um eine von denen ins Bett zu kriegen.»

«Sag mal, du bescheuerter Sack, geht's dir eigentlich nur darum?»

Mike sah Domenico fassungslos an und sagte schließlich mit ungewohnt ernster Stimme: «Alter, ich kann's echt nicht glauben, wie sehr du dich verändert hast. Geht uns allen irgendwie nicht in den Schädel rein. Du bist nicht mehr der Tiger von früher.»

Täuschte ich mich, oder schwang da sogar eine Prise Bewunderung in seiner Stimme mit?

«Nee, da hast du voll Recht.» Domenico sah sich suchend in der Wohnung um.

Mike folgte ihm. «Also, jetzt mal im Ernst, Alter: Wie kommt das denn? Ist das alles nur wegen deiner Puppe?»

«Wenn du sie noch einmal Puppe nennst, wirst du heute Abend deine Beulen nicht mehr zählen können», knurrte Domenico. «Themenwechsel: Kann ich mir 'n paar Klamotten von dir leihen?»

«Was hast'n jetzt wieder vor?»

«Romantische Ferien am See.»

Domenico schob Mike zur Seite und verschwand Richtung Schlafzimmer. Mike schaute ihm nach und kratzte sich wieder am Kopf.

«Willst'n Bier, Puppe?»

«Danke, nein», sagte ich. Bah pfui! Bier schon am frühen Morgen!

Mike schlurfte zum Kühlschrank, machte sich eine Dose auf und verpestete gleichzeitig die Küche mit seiner Morgenzigarette.

Domenico kam mit ein paar Klamotten aus Mikes Schlafzimmer zurück und stopfte sie in eine herumliegende Plastiktüte. Offensichtlich war es für ihn selbstverständlich, sich einfach bei Mike zu bedienen. Durch die langjährige Freundschaft war wohl schon so was wie eine ganz besondere Vertrautheit entstanden.

Domenico lieh sich mein Handy aus und rief Suleika an, die offenbar trotz der frühen Morgenstunde schon wach war. Ein paar Minuten später war alles geregelt, und zwanzig Minuten später stand Suleika auch schon mit einer Tüte voll Klamotten an der Tür.

«Ich hoffe, sie passen. Hab sie meiner Mutter stibitzt», sagte sie mit schelmischem Grinsen. «Aber sie hat ungefähr deine Größe.»

Ich nahm die Tüte dankend an.

Suleika wollte wieder gehen, doch Domenico hielt sie auf.

«Warte. Nur kurz. Sula … kannst du Carrie ausrichten, dass sie besonders gut auf Manuel aufpassen soll? Sie soll sich auf keinen Fall mit ihm allein draußen rumtreiben. Wir haben jetzt echt 'n ernsthaftes Problem. Sagst du ihr das?»

Suleika versprach es.

Bevor wir endgültig loszogen, musste ich noch das tun, wovor mir am meisten graute: nämlich Isabelle anrufen. Wegen der Projektarbeit hatte ich ihre Nummer sogar in meinem Handy gespeichert.

Domenico legte einfühlsam seine Arme von hinten um mich, als ich meiner Erzfeindin stotternd die erfundene Erklärung für mein Fernbleiben rüberbrachte, die ich die letzten zehn Minuten mehrmals im Kopf herumgedreht hatte. Ich hasste es, lügen zu müssen, und natürlich glaubte mir Isabelle kein Wort. Sie unterbrach mich mit hysterischem Gelächter.

«Tja», spottete sie. «Weißt du, ich fühle mich ja heute auch nicht besonders wohl. Aber mir würde es nie einfallen, die Projektarbeit deswegen einfach im Stich zu lassen. Einer muss ja schließlich die Zähne zusammenbeißen. Tja, dann wünsch ich dir mal gute Besserung!»

Sie hatte es drauf, mir ein noch schlechteres Gewissen zu machen, als ich es ohnehin schon hatte.

Domenico küsste gedankenversunken meinen Nacken, dann nahm er mir das Telefon aus der Hand und wählte die Nummer von Emilio. Ich verstand nicht, was er ihm erzählte, da er Sizilianisch sprach, aber offenbar fand er tatsächlich eine Lösung.

Ich war immer noch ein wenig in Sorge, ob Domenico nach der durchwachten Nacht und mit den Schmerzen im Bein so eine weite Strecke mit dem Motorrad überhaupt fahren konnte, doch er versicherte mir immer wieder, dass es kein Problem sei.

Aber das sagte er ja sowieso jedes Mal …