Wir stopften die beiden Plastiktüten mit unseren Klamotten in die Seitenkoffer. Mike hatte irgendwo noch eine halb vergammelte Straßenkarte ausgegraben, doch sie genügte, um Domenico den Weg zu erklären. Er fand es ziemlich leicht.
Bevor wir losfuhren, tankte Domenico seine Maschine noch voll. Weil er nicht mehr genug Geld dabeihatte, lieh ich ihm meine EC-Karte. Darauf kam es ja nun auch nicht mehr an. Ich hatte ihm schon so viel Geld gepumpt, aber das war mir im Moment alles nicht so wichtig …
Ich war froh, dass ich die Reise Domenico überlassen und mich einfach nur an ihm festhalten konnte. Es war richtig schön, endlich legal und mit gutem Gewissen mit ihm Motorrad zu fahren, ohne die dauernde unterschwellige Angst im Nacken, irgendwann erwischt zu werden. Gleichzeitig verdrängte ich den Gedanken, was wir wohl machen würden, wenn der Schlüssel zum Haus nicht mehr an seinem gewohnten Ort wäre …
Domenico verfuhr sich zum Glück kein einziges Mal. Sein Orientierungssinn war außergewöhnlich gut, und ich atmete auf, als ich endlich den kleinen Seitenpfad erkannte, der zu Tante Lenas Haus führte. Ich war in meinem ganzen Leben nicht mehr als dreimal hier gewesen, aber ich konnte mich an alles sehr genau erinnern.
Das Haus lag unmittelbar an einem kleinen ehemaligen Baggersee, umgeben von einer idyllischen Schilf-Landschaft. Es war nicht das einzige Haus hier, aber dasjenige, das dem See am nächsten war. Domenico befuhr den schmalen und holperigen Pfad langsam und mit der nötigen Umsicht und parkte direkt neben dem Haus. Ich war erlöst, als ich absteigen konnte. So lange hatte ich noch nie auf einem Motorrad gesessen. Durch meine Beine und durch mein Gesäß krabbelten Tausende von «Ameisen».
«Ist ja voll schön hier», staunte Domenico.
Ich reckte mich und schaute in den Himmel. Noch war es ein wenig bewölkt, aber ich hoffte, die Sonne würde bald mal durchdringen.
Meine größere Sorge war allerdings, ob der Schlüssel überhaupt noch hier war! Ich rannte voraus zu dem kleinen, verwilderten Vorgarten und begann, fieberhaft in den Steinen herumzuwühlen. Erleichtert jubelte ich auf, als ich den täuschend echt nachgemachten Plastikstein in der Hand hielt. Hastig öffnete ich die kleine Klappe auf der Unterseite, und tatsächlich war der Schlüssel drin!
Auch Domenicos Miene erhellte sich. Doch als ich zur Haustür laufen und sie aufschließen wollte, legte er zögernd die Hand auf meine Schulter.
«Warte …»
Ich wirbelte herum. «Was ist denn?»
Er senkte seinen Blick. «Ich … hab übrigens keine Pillen dabei. Überhaupt nix, auch keine Schlaftabletten. Nur damit du es weißt …»
Ich schaute ihn an und versuchte zu ergründen, was er mir damit erklären wollte.
Als wir das Haus betraten, beschlich mich zuallererst das unangenehme Gefühl, ein Eindringling zu sein. Schließlich suchten wir hier Unterschlupf, ohne um Erlaubnis gefragt zu haben. Ich nahm mir fest vor, Tante Lena später anzurufen und das Haus auf alle Fälle so sauber zu hinterlassen, wie wir es jetzt vorfinden würden.
Alles war immer noch so, wie ich es in Erinnerung hatte. Meine Tante veränderte ja auch nie etwas. Ich sah mich nach Domenico um, der ganz dicht hinter mir war. In dem Moment, als ich ihn anschaute, wusste ich wieder, wie sehr ich ihn liebte. Es gab einfach keinen Zweifel. Nichts und niemand konnte die Liebe zu ihm aus meinem Herzen reißen.
Er lächelte, als er meinen Blick bemerkte.
Obwohl das Haus nicht mehr in allerbestem Zustand und alles andere als geräumig war, wirkte es sehr heimelig. Im unteren Stock gab es einen kleinen Wohnbereich mit offenem Kamin und einer gemütlichen Polstergruppe. Die Küche war ebenfalls recht bescheiden und funktionierte noch mit Gasherd. Ein winziges Klokabinett gab es noch auf diesem Stockwerk, das war dann auch schon alles. Eine kleine Holztreppe führte hinauf in die obere Etage, die mit zwei kleinen Schlafzimmern und einem Badezimmer ausgestattet war.
«Voll gemütlich», meinte Nicki. «Ich würde wahnsinnig gern mit dir in so 'nem Häuschen leben. Nur wir zwei. Weit weg von all dem kranken Mist.»
Er zog mich an sich, und eine Weile lang hielten wir uns einfach fest und schauten einander tief in die Augen. Zum ersten Mal seit langem empfand ich wieder diese einzigartige Verbundenheit zwischen uns beiden, diese innige Vertrautheit, die sich einfach nicht beschreiben ließ und die ich auch noch niemals sonst mit einem Menschen in dieser Art erlebt hatte.
Wir packten erst mal unsere Sachen aus. Es war noch immer Vormittag. Ich inspizierte die Klamotten, die Suleika mir eingepackt hatte. Sie hatte gut gewählt: drei T-Shirts in Rot, Schwarz und Weiß, einen dünnen Pullover, Unterwäsche und Socken für drei Tage. Sogar an ein kleines Fläschchen Shampoo und Duschmittel hatte sie gedacht. Auch meine Größe hatte sie ziemlich gut getroffen. Meine Jeans würde jetzt eben für drei Tage herhalten müssen.
Weil wir beide ziemlich hungrig waren, beschlossen wir, erst mal zum Einkaufen in den nächstgelegenen Ort zu fahren, wo es gemäß meinen Erinnerungen einen größeren Lebensmittelladen und sogar einen Drogeriemarkt gab.
Domenico wollte unbedingt meine Lieblingsgerichte kochen, also kauften wir sämtliche Zutaten dafür ein. Und weil uns das Einkaufen so Spaß machte, landeten auch lauter Delikatessen und Süßigkeiten in unserem Korb – wobei Letztere natürlich Domenicos Idee waren. Es machte richtig Spaß, zur Abwechslung mal unvernünftig zu sein, was das Essen betraf. Domenico bestand darauf, zumindest einen Teil der Einkäufe mit dem wenigen Geld, das er noch hatte, zu finanzieren.
«Wir bleiben doch das ganze Wochenende hier, oder?», erkundigte er sich etwas ängstlich. Ich überlegte und nickte dann. Ja – sofern Tante Lena es uns erlaubte, konnten wir durchaus bis Sonntag hierbleiben.
Dann gingen wir in den Drogeriemarkt, wo wir uns mit den fehlenden Kosmetikartikeln wie Zahnbürsten, Deos und so weiter eindeckten. Während Nicki seinen Einkaufskorb mit einer Unmenge von Kerzen füllte, wanderte ich in der Sanitätsabteilung umher, wo ich nach weiterem Verbandszeug suchte, und blieb unwillkürlich vor einem kleinen Regal mit Kondomen stehen.
Mamas Ermahnungen schossen mir mit einem Mal durch den Kopf. Immerhin war ich mit Domenico ganz allein hier, und es war nichts da, was uns stören konnte. Vielleicht … würde Nicki unter diesen Umständen eher …
Andererseits … Wie weit wollten wir gehen? Wie weit durften wir gehen? Früher war ich stets eine Befürworterin des Wartens bis zur Ehe gewesen. Jetzt aber … war ich mir über meine Haltung dazu nicht mehr so sicher … Meine Gefühle schrien nach mehr, mehr, mehr, während eine leise innere Stimme eher zur langsamen Gangart mahnte. Machte ich einen Fehler, wenn ich …?
Etwas zögernd zog ich eine Sechserpackung vom Ständer und legte sie in meinen Korb. Lieber einmal zu viel Sicherheit als einmal zu wenig …
Schnell huschte ich damit zur Kasse und bezahlte die Kondome, ehe Domenico es mitkriegen würde. Ich konnte die Packung gerade noch in meine Manteltasche gleiten lassen, als Nicki wieder zu mir stieß, den Korb bis obenhin gefüllt mit Kerzen.
«Was hast du da Schönes gekauft?», grinste er. Ich wurde wohl ziemlich rot.
«Nichts … ähm … hast du alles? Brauchst du noch Zigaretten?»
Er zögerte und schüttelte dann den Kopf. «Nee, hab noch 'ne fast volle Schachtel dabei … das muss erst mal reichen.»
Zum Glück fragte er nicht mehr weiter nach meinen Einkäufen. Während er etwas später in der Küche all die Lebensmittel auspackte, huschte ich schnell ins Schlafzimmer und versteckte die Kondome in der Schublade des Nachtschränkchens. Dann düste ich runter in die Küche, um Domenico beim Kochen zu helfen. Er wollte jedoch nichts davon wissen und beharrte darauf, dass ich mich einfach nur an den Tisch setzte und gar nichts machte.
«Ich will dich richtig verwöhnen dieses Wochenende», sagte er sanft. «Du hast wegen mir wieder so viel durchgemacht.»
Also schaute ich ihm einfach zu und hing dabei meinen Gedanken nach. Ich stellte mir vor, wie schön es wäre, hier mit ihm zu wohnen, nur wir beide. Wo nichts, keine Gefahren, keine Gangs und keine Isabelles und keine Krebsgeschwüre oder sonstige Feinde uns das Leben schwermachen konnten.
Ich spürte, wie sehr Nicki das Kochen entspannte. Und als ich sah, wie zufrieden und ruhig er beim Kochen wirkte, stellte ich mir sogar vor, wie es wäre, eines Tages mit ihm verheiratet zu sein. Der Gedanke gefiel mir irgendwie wahnsinnig gut, trotz all der Widrigkeiten, die sich in letzter Zeit angehäuft hatten.
Ich musste auf einmal an jenen Schultag zurückdenken, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Wie unnahbar war er mir damals erschienen, supercool und über alles erhaben. Nie im Leben hätte ich mir damals träumen lassen, dass sich dieser gut aussehende Typ eines Tages in mich, das damalige Mauerblümchen vom Dienst, verlieben würde … Und nun waren wir hier zusammen in diesem Haus am See, und er machte für mich meine Lieblings-Lasagne.
Obwohl sich bei uns beiden der Schlafmangel nach der größtenteils durchwachten Nacht bemerkbar machte, entschlossen wir uns nach dem Essen trotzdem zu einem kleinen Spaziergang am See – zumal die Sonne es endlich geschafft hatte, durchzubrechen.
Nicki schlang fest den Arm um mich, und ich fühlte mich in diesem Augenblick richtig glücklich – sofern ich die ganzen Probleme, die wir zu Hause gelassen hatten, aus meinen Gedanken ausklammerte.
Wir wanderten ein wenig durch das Schilf und ließen uns an einer besonders verborgenen Stelle nieder. Nicht, dass wir Angst hatten, jemandem zu begegnen – es waren kaum Leute unterwegs hier –, doch unser Bedürfnis, uns nach den ganzen Strapazen von allen störenden Elementen fernzuhalten, war immer noch stark ausgeprägt.
Und hier, abgeschirmt von der Umwelt, von den Menschen und dem ganzen Gewusel, saßen wir engumschlungen da und verharrten lange Zeit in dieser Stellung. Wir hielten einander fest, während eine frische Brise mit unseren Haaren spielte. Ich legte meinen Kopf auf Nickis Schulter und spürte, wie tief seine Liebe zu mir ging, wie sie mitten in mein Herz kroch und es in Wärme einhüllte. Ich konnte fühlen, wie leichte Zuckungen über sein Gesicht huschten, ja wie sein ganzer Körper in vibrierender Erregung war. Ich wandte ihm mein Gesicht zu mit der stummen Bitte, mich zu küssen, und seine Lippen näherten sich zaghaft den meinen, bis sie einander fanden und berührten.
«Nicki», flüsterte ich, und ich wollte etwas sagen, doch ich schaffte es nicht, es auszusprechen, weil ich selber nicht mal wusste, was ich eigentlich ausdrücken wollte.
Mein ganzer Körper wurde auf einmal in einen noch nie dagewesenen Rauschzustand versetzt.
Er schob seine Hand unter mein T-Shirt und streichelte meine nackte Haut. Ich zitterte, wurde fast ohnmächtig.
Und ehe ich mich versah, hob er mich hoch und trug mich auf seinen Armen zum Haus. Er hatte zwar immer noch Mühe, auf seinem verletzten Bein zu gehen, doch ich fühlte mich fast wie eine Königin, als er mich die Treppen zu den Schlafzimmern hochtrug und mich behutsam aufs Bett legte. Er beugte sich über mich und sah mit seinen blaugrauen Augen auf mich runter.
«Nicki …»
Und dann, ganz sachte, zog er mein T-Shirt hoch.
Einen Moment lang hatte ich Angst, furchtbare Angst. Er war Tiger-X, der Junge, der so viele Mädchen gehabt hatte.
«Hab keine Angst», flüsterte er zärtlich, als könne er meine Gedanken lesen. «Ich tu dir nicht weh!»
Und ich ließ es geschehen.
Dann lag ich nur noch in Jeans und BH vor ihm, und er streichelte sanft meine vor Erregung erhitzte Haut. Seine Hände näherten sich zaghaft meinem Büstenhalter, doch dann hielten sie wieder inne.
«Sciuri mia … ich …»
Auf einmal spürte ich, dass er selbst auch Bedenken hatte.
Ich dachte an die Kondome, die ich in der Schublade versteckt hatte. Vielleicht würden wir sie bald brauchen …
«Mach weiter …», flüsterte ich.
Vorsichtig beugte er sich wieder über mich und berührte mit seinen Lippen meinen Hals, glitt ganz sachte mit seiner Zungenspitze über mein Schlüsselbein und setzte seine Küsse dann weiter unten auf meinem Bauch fort. Ich erschauerte vor Ekstase, das Blut rauschte in Hochgeschwindigkeit durch meinen Körper und benebelte meine Sinne. Nicki lächelte ein wenig, richtig verlegen und süß, und machte weiter, selber furchtbar nervös. Ohne zu überlegen, streckte ich meine Hände aus und schob sein T-Shirt hoch.
«Nicht …» Sofort hielt er inne und verdeckte fast etwas panisch mit seinen Händen seinen nackten Bauch.
«Komm, zieh dein T-Shirt aus», bat ich.
«No … non ci riesco …»
«Bitte.» Ich zerrte an seinen Händen.
Und dann, ich konnte mir nicht erklären, weshalb, brach auf einmal jeglicher Widerstand in ihm. Langsam hob er seine Arme und ließ zu, dass ich ihm das T-Shirt ganz auszog. Mit nacktem Oberkörper saß er vor mir und schloss die Augen, während ich ihn einfach nur anschaute. Er fühlte sich sichtlich unwohl, so vor meinem Blick entblößt zu sein.
Sein wunderschöner Oberkörper hätte wahrscheinlich sämtliche Voraussetzungen für ein Fotomodel erfüllt, wenn nicht all die Narben von seinen Ritzereien ihn so verunstaltet hätten. Auch wenn ich diese Narben schon zweimal gesehen und mehrmals betastet hatte, war ich wieder aufs Neue von dem Anblick erschüttert. Mein Gedächtnis hatte unbewusst immer versucht, sie zu verschönern. Und Nicki hatte das geahnt.
Er hatte es instinktiv ganz genau gewusst. Darum hatte er sie mir nie von sich aus gezeigt.
Mit einer vagen Geste deutete ich ihm an, sich neben mich zu legen, und dann war ich es, die sich über ihn beugte, die ihre Lippen vorsichtig seinem Körper näherte und ihn schließlich berührte. Er stöhnte leicht, und ich wusste nicht, ob es aus Schmerz oder aus Angst oder aus Lust war, als ich jede Erhebung und jede Mulde, jede tiefe und jede weniger tiefe Narbe und sogar die wulstigen Hautteile, die offenbar genäht worden waren, ganz sachte und voller Hingabe küsste. Auch die Narbe von seiner Lungenoperation ließ ich nicht aus.
Er verkrampfte sich total dabei, das spürte ich. Ich fragte mich, ob ihm die Narben wohl ab und zu auch wehtaten. Oder ob er an einigen Stellen vielleicht gar nichts mehr fühlte, weil er sich die Nervenbahnen zerstört hatte?
Schließlich umfasste er mich mit seinen starken Armen und zog mich an sich, so dass wir Haut an Haut lagen. Er drehte uns um, so dass er nun wieder oben war. Sein Gesicht näherte sich dem meinen, und ich schloss die Augen und warf den Kopf nach hinten. Doch dieses Mal berührten seine Lippen nicht meinen Hals oder mein Ohrläppchen, sondern meinen Mund.
All meine Schleusen waren jetzt durchbrochen. Die Gefühle hielten jetzt jeden Gedanken, jeden Zweifel, jede Warnung in Schach. Die Hormone tanzten wie wild …
Ich schlang meine Beine um ihn, erst das eine und dann das andere. Ich hatte zwar eine Riesenangst, dass das erste Mal wehtun würde, aber ich war zu liebestrunken, um einen Rückzieher zu machen. Und eigentlich wollte ich auch gar nichts mehr denken jetzt. Ohne mir dessen noch bewusst zu sein, hatte ich die ganze Verantwortung für das, was jetzt geschehen würde, auf Nicki abgewälzt. Ich lieferte mich ihm völlig aus …
Nickis Hände wanderten wieder zu meinem BH und fummelten an dem Verschluss. Meine Hand tastete Richtung Nachtschränkchen und suchte den Griff der Schublade.
Und dann, auf einmal, schoss Nicki in die Höhe und starrte mit erschrockenen und angsterfüllten Augen auf mich runter. Meine Hand, die immer noch den Schubladengriff festhielt, erschlaffte und rutschte langsam nach unten.
Nicki schaute mich an und schüttelte leicht den Kopf. In seinen Augen war noch immer pure Furcht zu sehen. Mein Gesicht verzog sich vor Schmerz. Was war denn jetzt schon wieder?
«Ich … ich kann nicht …», stammelte er.
«Hab ich was falsch gemacht?», fragte ich gekränkt.
«Nein … das ist es nicht … es ist nicht richtig …» Wieder schüttelte er den Kopf, offenbar selber nicht im Klaren darüber, was gerade in ihm abging.
«Warum denn nicht?»
«Warte kurz.» Er stand eilends auf, griff sich sein T-Shirt und verließ den Raum. Ich richtete mich verwirrt auf und strich mein zerzaustes Haar glatt.
Ich hörte, wie nach einiger Zeit die Dusche ging, und wartete mit klopfendem Herzen, bis er wieder zurückkam. Er hatte sich das T-Shirt wieder übergezogen und fühlte sich nun sichtlich wohler.
Vorsichtig setzte er sich neben mich auf die Bettkante.
«Ich kann das einfach nicht machen», sagte er bekümmert.
«Was ist denn los?»
«Es … geht einfach nicht bei dir …»
«Was?» Ich sah ihn verständnislos an. «Bin ich denn … nicht … gut genug, oder was?»
«Es liegt doch nicht an dir», erwiderte er mit gequälter Stimme. «Es liegt an mir. Und an der Situation …» Er schloss die Augen, als er fieberhaft nach den richtigen Worten suchte.
«Ich … ich hab es bis jetzt einfach nicht mit Liebe verbunden», brachte er schließlich hervor. «U facia … era … e volia struppiare, mi capisci?»
«Nicht ganz», gestand ich. «Kannst du es auf Deutsch sagen?»
«Nee, ist auch nicht so wichtig. Weil das für dich sowieso nicht zählt.»
«Ich möchte es aber gern verstehen.» Ich hatte es ja die längste Zeit beiseitegeschoben, um ihn nicht damit zu quälen, doch es würde mich nie in Ruhe lassen.
«Ich weiß es selber nicht genau … es ist … ich …» Seine Stimme klang, als hätte ihn etwas im Würgegriff. Er brauchte noch etwas Zeit, bis er endlich wieder ein paar Worte fand.
«Die anderen … die konnte man so richtig easy flachlegen, verstehst du? Ich konnte mit ihnen machen, was ich wollte.» Er lachte bitter. «Es war mir völlig egal, wie sie sich fühlten. Im Gegenteil, ich wollte, dass sie … denselben Schmerz fühlten … so wie ich …»
Er streckte seine Hand aus und berührte meine Wange.
«Aber du … du bist nicht wie die anderen … Ich würde dir niemals wehtun wollen … Aber ich hab 'ne Riesenangst … weil ich nicht weiß, wie ich … wie ich damit klarkommen soll. È … troppu difficile, tutto chistu …»
«Kannst du es mir nicht etwas deutlicher erklären?», ermunterte ich ihn.
«Nee, ich …» Er schüttelte etwas resigniert den Kopf.
«Hmm. Hast du denn in der Therapie mit jemandem darüber geredet?», fragte ich vorsichtig.
«Nee, wir … haben andere Sachen behandelt. Kann man ja nicht alles in 'nem halben Jahr machen. Ich kann auch gar nicht über so was reden. Aber du …» Er strich mir zaghaft das Haar aus der immer noch erhitzten Stirn.
«Ich will dir dein erstes Mal nicht kaputt machen», flüsterte er leise. «Ich könnte mir das nie verzeihen. Es wäre auch deiner Tante gegenüber nicht fair, die ja noch nicht mal weiß, dass wir hier sind. Und deinen Eltern gegenüber, die mir … so viel Vertrauen entgegenbringen. Und deinem Glauben gegenüber, Principessa … Es ist einfach nicht okay.»
«Aber du hast doch überhaupt nichts falsch gemacht …»
«Lass es uns aufheben», bat er. «Ich möchte … ich möchte einfach wenigstens etwas in meinem Leben richtig machen. Und ich möchte, dass du was richtig Schönes erlebst bei deinem ersten Mal.»
Er schloss die Augen. Offenbar waren ihm gerade wieder ein paar Worte in den Sinn gekommen.
«Weißt du, ich hab … ich hab zum ersten Mal erlebt, wie es ist, wenn … es Liebe ist, verstehst du, und ich muss damit erst mal klarkommen. Ich will nicht noch mehr Wunden in dir hinterlassen … Du bist so wahnsinnig sensibel … und ich … ich möchte erst mit dir schlafen, wenn ich dir alles andere geben kann. Außerdem hab ich deinen Eltern das mit dem Aids-Test versprochen.» Er streichelte immer noch über mein Haar. Seine Unterlippe bebte verdächtig, fast als wäre er drauf und dran, loszuheulen.
«Und ich glaub … es klingt zwar komisch, aber ich glaub … in mir drin kann das nur wieder heil werden, wenn ich … das hier mit dir richtig mache», schloss er.
«Hast du … wirklich mit zweihundert Mädchen geschlafen?» Jetzt war der Zeitpunkt da, ihm diese Frage zu stellen.
«Nein», sagte er. «Ich weiß nicht, wer diesen Quatsch behauptet.»
«Viele sagen das.»
«Ich hab sie nicht gezählt, Maya. Und ich hab auch nicht mit jeder gepennt. Echt nicht. Hör nicht auf den ganzen Mist, den Mike und die anderen Tussen verzapfen. Manchmal ist es halt auch im Suff passiert. Aber … ach!» Er wandte sich von mir ab und stand auf. Er ging zum Fenster und schaute schweigend hinaus. Nach einer Weile drehte er sich wieder zu mir um. Er lächelte vorsichtig und schaute meinen Körper an.
«Du bist so was von schön, weißt du das?»
«Schön? Ich?»
«Warum glaubst du das denn nicht?»
«Weil ich … na ja, sieh doch, ich hab doch kaum Oberweite und dafür viel zu breite Hüften … ich bin nicht das, worauf Jungs normalerweise stehen.»
Er lächelte. «Tu ssi locca.» Er trat wieder zu mir ans Bett, nahm meine Hand und zog mich behutsam hoch. Er führte mich zu dem großen Spiegel am Schrank.
«Du bist so wunderschön», flüsterte er in mein Ohr. «Sieh dich doch an.»
Und ich sah mich an.
Doch ich war immer noch nicht wirklich begeistert von dem, was ich sah. Nicht, dass ich mich hässlich fand – das hatte Nicki mir vor Urzeiten schon ausgetrieben. Aber ich war in meinen Augen einfach purer Durchschnitt. Meine Klamotten saßen nie perfekt – ganz egal, was ich trug, immer zeichnete sich eine gewisse Unförmigkeit ab. Bei Delia saß immer alles wie angegossen. Wenn man ständig so ein Supermodel neben sich hatte, war das manchmal eine ziemliche Tortur. Ganz zu schweigen von meinem Busen, der einfach nicht so richtig in Form kommen wollte. Und wenn ich mir Mama anschaute, wusste ich, dass ich auch nicht Aussicht auf viel mehr hatte.
«Du musst doch nicht perfekt sein, um mir zu gefallen», sagte er leise, als hätte er meine Gedanken schon wieder erraten.
«Was findest du denn schön an mir?», wollte ich wissen.
«Ich liebe deine Augen. Die sind so wunderschön. Und deine weiche, zarte Haut. Und dein Schlüsselbein.» Er berührte die eben genannte Stelle sanft mit seinen Lippen. «Und deine Sommersprossen. Und dein Lächeln. Und dein Haar.» Er legte seine Hand darum und hob es zu einem Pferdeschwanz hoch. Im nächsten Augenblick ließ er es wieder auf meine Schultern gleiten.
«Pi mmia ssi a chiù sapurita do munno.»
«Ich weiß nicht. Es ist so frustrierend, wenn ich mit Delia shoppen gehe», klagte ich. «Sie hat Größe XS und passt in alles rein. Ihr stehen die Klamotten sogar besser als jeder Schaufensterpuppe. Und ich steh wie ein Volltrottel daneben, und an mir schlabbert alles rum. Ehrlich, ich könnte manchmal heulen! Wenn ich all das Fett, das an meinen Hüften klebt, an meiner Oberweite hätte, dann … ja, dann wäre es richtig toll!»
Nicki lachte aus voller Kehle. Er lachte so sehr, dass er fast Schluckauf kriegte.
«Das ist überhaupt nicht lustig», fuhr ich ihn empört an.
«Doch. Ich find das so süß. Ich glaub, ich hab bis jetzt noch keine Frau getroffen, die keine Schönheitsprobleme hat», grinste er und legte behutsam den Arm um mich.
«Süße, das ist mir alles nicht so wichtig, ehrlich.»
Ich sah im Spiegelbild, wie er seine kräftigen, sonnengebräunten Arme um meinen eher blassen Oberkörper geschlungen hatte. Der Tigerzahn sah richtig weiß aus auf seiner Haut.
«Aber … du hast mich sicher nicht von Anfang an schön gefunden, stimmt's?», fragte ich leise.
Er überlegte. «Du bist mir ehrlich gesagt gar nicht so aufgefallen, glaub ich. Irgendwie warst du für mich wie 'n kleines Mädchen, das meilenweit von mir weg war.»
«Echt?», sagte ich betrübt. «So hab ich auf dich gewirkt? Wie ein einfältiges kleines Mädchen?»
Er zuckte mit den Schultern. «Das kann ich nicht mehr so genau sagen. Ich war doch selber so fertig, und Mingo ging es auch dreckig. Erst als ich dann gesehen hab, wie fies die anderen zu dir waren, da dachte ich, nee, echt, so nicht, ich muss dir helfen.»
«Ich glaub, ich war schon ziemlich naiv früher», gab ich nach einiger Überlegung offen zu.
Er grinste, so dass seine ausgeprägten Wangengrübchen sichtbar wurden.
«Ja, aber genau das fand ich ja so süß. Wenn du nur all die abgeklärten Tussen um dich herum hast, die meinen, sie wüssten mit fünfzehn schon alles, dann ist das die beste Abwechslung, die so 'nem Typen wie mir passieren kann.»
«Ich möchte aber nicht naiv sein.»
«Und ich möchte nicht, dass du so wirst wie alle anderen», sagte er leise. «Ich möchte, dass du kindlich und unschuldig bleibst. Und träumen kannst. Und weinen kannst. Und Freude hast an kitschigem Zeug. Damit ich dich immer beschützen kann.» Er lächelte wehmütig.
«Der Tiger braucht doch sein Kätzchen. A so palumma duci.»
Auf einmal verdüsterten sich seine Augen. «Außerdem, was soll ich denn sagen, hm? Ich kann doch froh sein, dass du so 'nen Typen wie mich überhaupt willst. Wenn jemand hässlich ist, dann bin ich das …»
Es war nicht das erste Mal, dass er das sagte.
«Aber du bist der coolste und hübscheste Junge weit und breit!», seufzte ich.
«So ein Quatsch! Ich weiß gar nicht, was ihr Frauen an mir so toll findet.» Er ließ kopfschüttelnd sein Haar in die Stirn hängen. «In Wahrheit hab ich mich sogar immer geschämt, ein Mädchen zu küssen … wegen meinen Zähnen … Sind ja wirklich nicht mehr die schönsten …»
«Die Zahnlücke vorne ist aber süß», sagte ich.
Er knurrte nur.
«Komm, Nicki, du weißt, dass du gut ankommst. Das kannst du echt nicht leugnen!», beharrte ich.
Er sagte nichts. Er hatte seinen Kopf leicht zur Seite geneigt und starrte ins Leere, und ich betrachtete sein schönes Profil im Spiegelbild, das dem seines Vaters so ähnlich war.
«Und wann hast du eigentlich gemerkt, dass du dich in mich verliebt hast?», fragte ich weiter. Das hatte ich nämlich schon immer wissen wollen.
«Du stellst Fragen.» Er vergrub sein Gesicht in meinem Haar. «Spielt das 'ne Rolle?»
«Ich würde es gerne wissen …»
Er dachte eine Weile nach. «Ich weiß es nicht», gab er dann zu. «Es war einfach plötzlich da.»
Damit musste ich mich wohl begnügen.
«Und wann hast du dich in mich verliebt?» Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
«Tja, fasziniert war ich ja schon von Anfang an von dir, aber ich glaub, so richtig eingeschlagen hat es, als du Patrik verteidigt hast.»
Er sagte nichts, sondern legte seine Arme fester um mich, weil ich auf einmal zu frösteln begann.
«Du frierst. Komm, zieh dich wieder an.»
Er warf mir mein T-Shirt zu, und ich schlüpfte rasch hinein.
Plötzlich merkten wir beide, dass wir wahnsinnig müde waren. Wir beschlossen, uns bis zum Abendbrot noch eine Runde schlafen zu legen. Wir schmissen uns aufs Bett und kuschelten uns aneinander, und als wir zwei Stunden später wieder erwachten, streichelten die warmen Strahlen der Abendsonne durch die Fensterscheibe unsere Gesichter.
«Zeit fürs Abendbrot», meinte Nicki.
Wir waren zwar beide noch satt von dem üppigen Mittagessen, doch er machte uns trotzdem ein paar Tramezzini. Wir nahmen uns richtig Zeit zum Essen und zündeten sogar ein paar Kerzen an.
Danach rief ich endlich nacheinander Tante Lena und Paps an und gestand ihnen, dass wir uns spontan zu einem Kurzurlaub in ihrem Ferienhäuschen entschieden hatten. Ich konnte Tante Lena nicht verübeln, dass sie zuerst ein wenig pikiert reagierte. Nachdem ich ihr mehrmals versichert hatte, dass wir das Haus wieder in tadellosem Zustand verlassen würden, erlaubte sie mir dann auch, bis Sonntag dazubleiben.
Paps hatte jedoch etwas mehr dagegen einzuwenden, dass ich mit Nicki hier in Tante Lenas Ferienhaus war. Es brauchte einige Überredungskunst und die Beteuerungen, dass wir wirklich aufpassen würden und dass ich Tante Lena wirklich Bescheid gesagt hätte. Schließlich willigte er ein und gab mir noch ein paar Ermahnungen mit.
Natürlich fühlte ich mich wieder einmal schäbig, weil ich ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Aber Domenico hatte mich gebeten, meinen Eltern vorerst noch nichts über unsere aktuellen Schwierigkeiten mit Toni zu sagen, ehe wir nicht eine brauchbare Lösung dafür gefunden hatten. Er fand, dass wir ihnen jegliche unnötige Aufregung ersparen sollten, besonders jetzt während Mamas Chemotherapie.
Ich war froh, als ich diese Anrufe hinter mir hatte. Domenico schlug vor, eine Spritztour mit dem Motorrad zu machen, irgendwohin, wo wir eine gute Aussicht auf den Sternenhimmel hatten. Denn mittlerweile war es halb neun und fast dunkel.
Etwas Besseres konnte ich mir nicht vorstellen, und so suchten wir im Schrank erst mal zwei alte Wolldecken, die wir mitnehmen konnten. Außerdem packten wir die ganzen Kerzen ein, die Nicki gekauft hatte.
Die Fahrt wurde ein wenig kühl, weil ich außer meinem Regenmantel, dem dünnen Pullover und dem T-Shirt nichts mehr darunter anhatte. Der Sommer war definitiv vorbei.
Wir fuhren fast eine Dreiviertelstunde, bis wir auf einem kleinen Hügel einen wunderschönen Platz nach unserem Geschmack gefunden hatten, der weite Sicht über die ganze Ebene, einen See und einige kleinere Ortschaften bot. Eine der Wolldecken breiteten wir auf dem Gras aus, in die andere wickelten wir uns zusammen ein. Domenico hatte ringsherum Kerzen aufgestellt und sie angezündet. Nun flackerten lauter kleine Lichter im Gras.
«Extrem schön», sagte ich. Er lächelte, und wir schmiegten uns eng aneinander, um uns gegenseitig Körperwärme abzugeben. Zum Glück war der Himmel fast wolkenlos, so dass wir tatsächlich ein paar Sterne sehen konnten. Domenico zündete sich an einer Kerzenflamme eine Zigarette an und rauchte sie schweigend, während wir beide eine Weile lang unseren eigenen Gedanken nachhingen. Zwischendurch beobachtete ich ihn aus den Augenwinkeln und schaute den Schattenspielen zu, die die Kerzen auf sein Gesicht warfen.
Auf einmal drängte der innige Wunsch wieder an die Oberfläche, mich nie mehr von ihm trennen zu müssen. Er war so intensiv, dass ich das Gefühl hatte, er würde mir mein ganzes Inneres versengen. Doch gleichzeitig fühlte ich so eine brennende Angst, dass ich beinahe aufgeschrien hätte.
Was, wenn wir eines Tages keine andere Wahl haben würden? Wenn es irgendwann irgendetwas gab, das uns gewaltsam auseinanderreißen würde?
Domenico spürte meine Angst sofort. Er legte die abgebrannte Kippe beiseite und berührte meine Wange.
«Maya … ich muss mit dir über einiges reden. Deswegen wollte ich ja mit dir herkommen …»
«Solange du mir nicht sagst, dass du dich von mir trennen willst, kann ich alles verkraften», flüsterte ich.
«Nee, das nicht, aber … ich hab mal wieder 'ne Menge gegrübelt letzte Nacht. Ich kann nicht länger in dieser Stadt bleiben.» Seine Augen ruhten fest auf mir, und im Schein der Kerzen sah ich ängstliche Funken darin tanzen.
Ich hatte geahnt, dass es darauf hinauslaufen würde.
«Sieh mal … das, was passiert ist … Toni wird nicht eher Ruhe geben, bis er mich kaltgemacht hat. Und dazu wird ihm jedes Mittel recht sein …»
Ein tiefer Seufzer bahnte sich den Weg aus meinem Herzen. «Was also bedeutet, dass du doch zurück nach Sizilien gehen wirst …»
Er schüttelte den Kopf. «Nein, ich … ich hab dir doch versprochen, dass ich bei dir bleibe, wenn du das möchtest. Aber ich muss auf alle Fälle weg aus der Stadt. So viel ist klar. Ich muss woanders hin. Und du bist auch nicht mehr sicher hier. Ich hab mir überlegt … da du ja bald achtzehn wirst, ob du vielleicht mit mir kommen magst?»
«Wohin denn?»
Er rückte etwas näher und legte seine Arme fest um mich. «Egal. Ich dachte, vielleicht Berlin oder so. Ne andere Stadt halt, wo du weiter aufs Gymnasium gehen kannst und wo ich 'nen Job finde und … wo wir Ruhe haben vor all dem Mist, vor den Gangs, vor den Dealern, vor meiner Mutter, vor allem … wo wir zwei ganz neu anfangen und endlich unser Leben genießen können.»
Darüber hatte ich noch gar nie nachgedacht …
«Es sei denn, wir machen wirklich für immer Schluss miteinander. Das heißt, ich mach mit dir Schluss und du machst 'ne Riesenszene, so dass alle wissen, dass Tiger-X auch dich sitzen gelassen hat. Dann bist du fein raus. Dann wirst du für immer Ruhe haben.» Er lachte wieder dieses bittere Lachen, das mir immer so wehtat.
Ich seufzte, weil ich genau wusste, dass uns tatsächlich kein anderer Ausweg blieb. Doch das kam alles so plötzlich, dass ich das Gefühl hatte, auf einmal nicht mehr genug Platz in der Lunge zum Atmen zu haben. Endgültig von zu Hause weggehen und in eine andere Stadt ziehen? Ich wusste nicht, ob ich dazu schon bereit war …
«Ich überlass dir die Wahl», sagte er leise. «Aber wenn du mit mir zusammenbleiben möchtest, bist du daheim nicht mehr sicher. Es wird nicht lange dauern, bis Toni rausgefunden hat, wo du zur Schule gehst. Er braucht ja nur Janet zu fragen.»
Ich nickte und vermochte erst mal nichts zu sagen. Ich überlegte fieberhaft, ob es nicht doch einen Mittelweg gab. Domenico rauchte eine weitere Zigarette, während er mir Zeit ließ, alles genau abzuwägen. Konnte er denn wirklich nicht dableiben? Gab es keine andere Möglichkeit?
Doch er gab mir die einleuchtende Antwort auf diese Frage gleich selbst: «Sieh mal, wenn ich dableiben würde … Du hast nämlich voll Recht gehabt: Ich hab mich nicht genug unter Kontrolle. Solange ich immer wieder mit meinem alten Umfeld konfrontiert werde, krieg ich meine Suchtprobleme nie in den Griff. Weiß ich genau. Ich muss wirklich endgültig brechen mit der ganzen Szene, wenn ich nicht dauernd wieder rückfällig werden will. Haben sie mir ja eigentlich alles in der Therapie schon gesagt, aber ich hab irgendwie gedacht, ich krieg das auch so hin. Ich mein, sieh mal, ich hätte doch eigentlich auch längst den Schulabschluss nachholen sollen, aber ich war einfach nicht in der Lage wegen all dem Stress, verstehst du?»
Ich starrte schweigend in den Sternenhimmel und versuchte zum ersten Mal seit langem wieder, vorsichtig über meine Zukunft nachzudenken. Etwas weiter zu sehen als bis zur nächsten Wegbiegung im Labyrinth … dorthin, wo sich der Weg auf einmal in zwei Abzweigungen aufspaltete …
«Falls du dich entscheidest … nicht mehr mit mir zusammen zu sein … dann … würde ich wahrscheinlich zurück nach Sizilien gehen.» Nickis Stimme war ganz dicht bei meinem Ohr. Sein Atem roch immer noch nach Zigarettenrauch.
Es gab also nur diese zwei Abzweigungen: Entweder ich ging mit ihm nach Berlin, oder er würde für immer aus meinem Leben verschwinden.
«Und was ist mit Manuel?», fragte ich. «Dann … dann könnten wir gar nicht mehr auf ihn aufpassen … und wenn Carrie weiterhin so drauf ist …»
Er seufzte, weil ihn dieses Thema immer noch enorm beschäftigte. «Es gibt vielleicht 'ne Lösung», sagte er heiser.
«Und die wäre?»
«Morten.»
«Du meinst, Morten könnte dir helfen, das Sorgerecht für Manuel zu kriegen oder so was in der Art?»
«Nee. Aber er ist der Einzige, der was machen kann. Er ist Manuels Großvater. Er könnte sich beim Jugendamt einschalten.»
«Und dann?»
Er schloss die Augen und legte seine Wange noch näher an meine. «Vielleicht könnte Manuel bei ihm in Norwegen aufwachsen.»
«Meinst du?» Auch auf die Idee war ich noch gar nie gekommen.
«Ich weiß nicht. Aber wenn … Morten und Liv sich vielleicht als Pflegefamilie anbieten würden, dann …»
Ich fühlte, wie es in seinem Herzen rumorte.
«Ich weiß nicht. Ist nur so 'ne Idee. Aber Morten hat mich schon nach ihm gefragt», sagte er.
«Dann müsstest du dich aber auch von ihm trennen. Schaffst du das denn?» Ich wusste, dass ein Abschied von Manuel für ihn fast so viel Qual bedeutete wie die Trennung von seinem Zwillingsbruder.
«Ich weiß», sagte er wehmütig. «Aber es wäre das Beste, was ich für ihn tun könnte. Wenn er bei Morten aufwachsen könnte, dann würde er 'ne richtige Familie kriegen – all das, was Mingo und ich nie hatten. Und sehen könnte ich ihn ja trotzdem in den Ferien … und er wäre für immer in Sicherheit vor den Gangs, verstehst du?»
Ich nickte. Ich fand diese Lösung richtig gut.
«Für Bianca kann ich leider nichts mehr tun», meinte er traurig. «Sie hat sich so verändert, seit sie sich mit meiner … Mutter trifft. Sie redet nicht mehr mit mir. Sie ist so komplett durcheinander. Sie weiß nicht mehr, wem sie vertrauen kann. Sie macht alles kaputt im Heim und terrorisiert die anderen Kinder. Nun wollen sie sie ja in ein Heim für Schwererziehbare stecken … arme kleine Piuma …»
«Kann man da gar nichts machen?», fragte ich und streichelte zärtlich seine Wange.
Er zuckte mit den Schultern.
«Ich hab alles versucht. Wahrscheinlich wird meine Alte darum kämpfen, dass sie Bianca wieder zurückkriegt, und mit ihr dann nach Sizilien durchbrennen. Oder so was Ähnliches. Und irgendwann wird Bianca vielleicht mal checken, dass unsere Mutter die hinterletzte Lügnerin ist.» Weil ich so nah an seiner Brust lag, konnte ich richtig spüren, wie sich seine Lunge vor Schmerz zusammenzog. Er hustete leise.
War das hier eine Geschichte, die ohne Happy End ausgehen würde? Ich fühlte mich so schuldig deswegen, obwohl ich gar nichts dafür konnte. Aber ich dachte daran, dass meine Eltern sich damals sogar als Pflegefamilie für Bianca beworben hatten. Doch dann war alles anders gekommen …
Unwillkürlich seufzte ich auf. Auf einmal tauchte das Bild meiner Mutter vor mir auf. Sofort blendete ich alles andere aus und fühlte, wie ich immer mehr auf einen dunklen Abgrund zusteuerte: meine Mutter, todkrank im Bett, nur noch wenige Wochen zu leben …
Domenico spürte sofort, dass etwas in mir abging. Er verstärkte den Druck seiner Arme, die mich fest umschlungen hielten. Ich konnte seinen Herzschlag fühlen.
«Meine Mutter wird sterben», sagte ich mit zittriger Stimme. «Ich weiß es genau …»
«No», flüsterte er. «Vedrai che non morirà …»
«Doch …» Seltsamerweise hatte ich verstanden, was er gesagt hatte. Tränen rannen aus meinen Augen, während er mich mit liebevollen sizilianischen Worten tröstete.
«Ich weiß es, Nicki. Paps sagt mir nichts … aber ich fühle, dass es ihr gar nicht gut geht …» Ich weinte lange in seine Brust, bis meine Tränendrüsen fürs Erste wieder geleert waren. Er streichelte mich die ganze Zeit.
Die Luft war kühler geworden, und ich fröstelte trotz Wolldecke und Nickis Körperwärme.
«Möchtest du, dass wir zurückfahren?», fragte er sanft. Ich nickte.
Er steckte sich eine letzte Zigarette an, während wir gemeinsam die Kerzen ausbliesen, die Wolldecken zusammenfalteten und alles in die Seitenkoffer packten. Ringsherum war alles in nächtliche Stille gehüllt. Wir waren tatsächlich ganz allein hier. Ich warf noch einen letzten Blick über die weite Ebene und die Lichter der Ortschaften. All die beleuchteten Fenster, die mir so unschuldig entgegenfunkelten … und dahinter Menschen, die alle ihre eigene Bürde trugen …
Domenico wandte sich zu mir um. «Kommst du?»
Ich stieg hinter ihm aufs Motorrad, und Nicki beeilte sich ziemlich, um mich so schnell wie möglich wieder ins Warme zu bringen.
Aber der wehmütige Hauch verließ mich nicht.
Veränderungen … ja, eine Riesenmenge Veränderungen würden auf mich zukommen. Eine große Wende stand meinem Leben bevor.
Es gab nicht den geringsten Zweifel. Ich wusste nur noch nicht genau, wohin mich diese Wende führen würde …
Wir gingen zu Hause gleich zu Bett, nachdem ich Domenicos Wunde am Bein nochmals desinfiziert und mit einem neuen Verband versehen hatte.
Domenico deckte mich zu und blieb nachdenklich auf der Bettkante sitzen. Sein Gesicht zuckte nervös, als er etwas zögernd fragte: «Darf ich … bei dir bleiben heute Nacht? Ich hab … keine Pillen dabei … und …»
«Aber klar», sagte ich.
«Schon, aber ich hab keine Ahnung … wie das wird. Mit meinen beknackten Alpträumen und so. Und meinem Schwitzen und dem Husten in der Nacht. Wahrscheinlich werd ich dich um den Schlaf bringen …»
«Das macht nichts.» Ich streckte meine Hand nach ihm aus. «Ich möchte unbedingt, dass du bei mir bleibst.»
Er ließ Vorhang und Fensterläden offen, damit es nicht zu dunkel wurde, und kroch vorsichtig zu mir ins Bett. Er rückte ganz nah an mich ran und legte den Kopf an meine Schulter.
Ich löschte das Licht aus, und dann lagen wir einfach ruhig da und warteten auf den Schlaf.
Irgendwann erwachte ich, weil es einen heftigen Ruck gab. Zuerst dachte ich an ein Erdbeben und machte das Licht an. Mein Herz raste vor Schreck.
Und dann warf Nicki sich mit Karacho auf die andere Seite, so dass das Bett erneut erzitterte, und brüllte etwas auf Sizilianisch. Es klang richtig panisch, fast so, als würde er um Hilfe rufen.
«Schscht, ist ja gut», flüsterte ich zutiefst erschrocken und streckte meine Hand nach ihm aus. Ich wollte seine schweißnasse Stirn berühren, doch mit einer blitzschnellen Bewegung schlug er meine Hand weg.
«No!»
«Es ist nur ein Traum, Nicki», wisperte ich.
Er rollte sich wieder zusammen und fing krampfhaft an zu heulen. Es war ein markerschütterndes, unheimliches Weinen, und stammelnde Wortfetzen sprudelten dabei aus seinem Mund; Worte, die sich anhörten, als stammten sie aus fernsten Kindheitstagen.
«Mamma … vògghiu tornari in Sicilia … 'unn ne pozzu chiù … ti prego, ma', amuninne in Sicilia …»
Wieder gingen seine Worte in ein herzzerbrechendes Weinen über. Er wurde regelrecht durchgeschüttelt vor innerem Schmerz. Ich saß hilflos da und wusste nicht, was ich tun sollte. Wie ich ihm helfen sollte. Und ob ich ihm überhaupt helfen konnte.
Ganz offensichtlich träumte er von Sizilien und von der Nonne, die ihn und Mingo damals großgezogen hatte – Mamma Rosalia, von der ich kaum etwas wusste, nur dass sie den Zwillingen näher gestanden hatte als ihre leibliche Mutter. All die Erinnerungen an Sizilien, die so tief in ihm verschüttet waren … nur in seinen Träumen traten sie zu Tage, und sie machten ihm offenbar Angst … Angst, weil er nicht wusste, was er mit ihnen anfangen sollte, wie er sie einordnen musste … weil sie ein Teil seines Lebens waren, den er bis heute nicht richtig verstand.
Kein Wunder folglich, dass er diese doofen Schlaftabletten brauchte.
Weitere Worte kamen aus seinem Mund, und ich lauschte angestrengt und versuchte, etwas zu verstehen.
«Mamma … amuninne in Sicilia … ti prego, ma'… haju persu a me frate … Mingo … l'haju persu … Mamma, aiùteme, ma'! Me sta suffocannu, 'unn me fa respirari …»
Meine Italienisch-Kenntnisse boten mir zwar nur eine bescheidene Hilfe, aber eines war unverkennbar: Außer der ihn fast zerreißenden Furcht lag auch noch etwas anderes in diesen Worten, eine brennende Sehnsucht, ein tiefes Verlangen nach jemandem, der ihn einst vor langer Zeit verlassen hatte.
Der Augenblick der Erkenntnis währte nur den Bruchteil einer Sekunde.
Es machte zwar absolut keinen Sinn, ja, es gab nichts auf dieser Welt, was meiner Meinung nach unsinniger war. Und doch … aus einem mir selber unverständlichen Grund wusste ich auf einmal, dass es die Wahrheit war.
Die Schreie nach der Mutter, die aus seinem Herzen kamen, galten nicht Mamma Rosalia. Sie galten auch nicht meiner Mutter, die für ihn ebenfalls eine Ersatzmutter geworden war.
Nein, sie galten seiner Mutter. Seiner leiblichen Mutter. Maria di Loreno. Lady Cat.
Ich schüttelte den Kopf, weil ich diesen Gedanken wieder aus mir verbannen wollte, doch er klammerte sich störrisch an mir fest und begann sich in mir zu verästeln wie ein Baum, der seine Wurzeln schlug. Auf einmal fügten sich Fragmente von Erinnerungen in mir zusammen. Ein neues, kleines Puzzle entstand in Sekundenschnelle in meinem Kopf. Der kleine Junge, der als Acht- oder Neunjähriger mit dem Kettenrauchen angefangen hatte, weil seine Mutter sich nicht um ihn kümmern konnte … ein kleiner, verwirrter Junge, der damit die Aufmerksamkeit seiner Mutter gewinnen wollte … später die unerklärlichen Ritzereien … du willst, dass man dich findet und sich um dich kümmert … das Blut auf dem Teppich in seiner alten Wohnung … du willst, dass es jemanden kümmert, dass man da ist … der brüllende Tiger, der den Freier von seiner Mutter weggerissen hatte, weil er ihr offensichtlich wehgetan hatte … denn in Wahrheit sehnst du dich nach ihr …
Es war in all den Jahren nicht Mamma Rosalia gewesen, nach der er sich gesehnt hatte, obwohl sie gewiss eine wichtige Rolle in seinem Leben gespielt haben musste.
Nein, in Wahrheit war es seine leibliche Mutter gewesen, nach der er innerlich geschrien hatte.
Und all sein Hass, den er für sie empfand, war in Wirklichkeit nur tiefster Schmerz. Schmerz, der aus Sehnsucht entsprang. Sehnsucht, die aus Verlust entstanden war. Verlust, der voraussetzte, dass es eine Zeit der Vertrautheit gegeben haben musste.
Wieso sonst waren Domenico und Mingo immer wieder aus den Heimen abgehauen und zu ihrer Mutter nach Hause zurückgekehrt? Wieso hatten sie sich immer noch bei ihr daheim aufgehalten, obwohl sie auch im Bandenkeller hätten rumhängen können? Wieso hatten sie im Wäldchen bei der Laterne übernachtet, anstatt sich irgendwo bei einem ihrer Kumpel einzunisten? Und warum hatte er Sheena Rose gebeten, ihm Informationen über Toni zu besorgen?
Weil er in Wahrheit Informationen über seine Mutter haben wollte! Er wollte es sich einfach nicht eingestehen. Er wollte nicht zugeben, dass er in Wirklichkeit geradezu vor Sehnsucht nach seiner Mutter schrie.
Ich musste aufstehen und ans Fenster gehen. Nach diesem Gedankenwirbel brauchte ich dringend frische Luft. Ich konnte mir immer noch nicht erklären, woher ich diese Erkenntnis auf einmal hatte, aber ich wusste irgendwie, dass sie die Wahrheit darstellte. Auch wenn immer noch viele Lücken in dem Bild klafften.
Ich drehte mich um und schaute Domenicos Umrisse an. Er hatte sich wieder zusammengerollt und stöhnte leise, und jetzt vermisste er offenbar wieder seinen Zwillingsbruder, der immer nachts an seiner Brust gelegen hatte.
«Mingo … unne ssi … Mingo …»
Und dann bekam ich die zweite Eingebung.
Ich wusste auf einmal, wie ich ihm helfen konnte!
Vorsichtig kroch ich wieder zu ihm ins Bett und schlüpfte zu ihm unter die Decke. Sein Körper war in Schweiß gebadet, aber es störte mich nicht. Ich wollte ihm einfach nur helfen. Ich hob seinen Arm etwas an, so dass ich mich fest an seinen Körper schmiegen konnte. Er murmelte etwas, als ich meinen Kopf ganz vorsichtig an seine Brust legte.
«Ich bin hier, Nicki», sagte ich leise.
Offenbar nahm er meine Gegenwart wahr, denn er rückte sich ein bisschen zurecht, so dass ich weniger eingequetscht war. Dann presste er mich fest an seine Brust, und augenblicklich wurde er ruhig. Es war, als hätte er genau das gefunden, was ihm gefehlt hatte.
Für den Rest der Nacht schlief Nicki ziemlich ruhig, bis auf ein paarmal Husten, und wir wurden erst wach, als von draußen bereits das silbergraue Licht des Tages hereinfiel. Ich lag immer noch an Nickis Brust und war nun ebenso verschwitzt wie er. Das Rauschen von draußen klang verdächtig nach Regen.
Vorsichtig lösten wir uns voneinander. Mein T-Shirt war richtig nass und klebte an meinem Körper.
Domenico lag da und schaute mich an, und ich konnte ihm ansehen, dass es ihm furchtbar peinlich war.
«War ich schlimm heute Nacht?», fragte er zerknirscht. «Hab ich irgendwas … angestellt oder so?»
Ich überlegte, was ich ihm antworten sollte. Offenbar hatte er wirklich keine Ahnung, was er so getrieben hatte.
«Du hast die ganze Zeit Sizilianisch gesprochen. Ich hab nicht sehr viel verstanden», antwortete ich schließlich taktvoll.
Er schwieg und starrte an die Decke.
«Du hast mir nie erzählt, wovon deine Träume handeln», bemerkte ich leise und berührte seine warme Stirn. Ich wollte so gern mit ihm darüber reden, wollte einen Weg zu seinem innersten Geheimnis finden, doch es gab diese eine Seite an ihm, die zerbrechlicher war als Porzellan. Man musste wahnsinnig aufpassen, dass man ihn nicht verletzte.
Er zuckte mit den Schultern. «Verschieden», meinte er nur. «Kann ich selber nicht erklären. Nicht mal die in der Therapie konnten das.»
«Hmm», machte ich.
Er kaute auf seiner Unterlippe rum. «Wenn wir zu Hause sind, werd ich mir Mühe geben, die Antidepressiva wieder regelmäßiger einzunehmen. Dann … ist es leichter für dich.»
Ich schüttelte entschieden den Kopf. «Nein. Wegen mir musst du das nicht tun.»
«Doch, muss ich. Weil ich ‹psychotisch gefährdet› bin. Und sowieso muss ich ja mal wieder richtig pennen nachts.»
«Ich wüsste einen Weg, wie ich dir helfen kann, ohne Pillen zu schlafen», bemerkte ich leise.
Er sah mich fragend an.
«Hast du denn nicht gespürt, dass ich heute Nacht an deiner Brust lag? So wie Mingo früher? Du bist augenblicklich ruhig geworden.»
Seine Augen blitzten ganz kurz auf, doch dann erstarb das Leuchten gleich wieder. «Nein», sagte er mit fester Stimme. «Das ist unmöglich, Maya. Ich nehm schon viel zu lange Schlafpillen. Mein Körper schafft das gar nicht ohne. Ich wär froh, wenn ich eines Tages für immer ohne Zigaretten auskommen würde, ja, das pack ich vielleicht noch. Aber das hier …»
«Du hast es aber geschafft», sagte ich.
Er schüttelte leise den Kopf. «Mach dir keine falschen Hoffnungen. Außerdem können wir doch nicht jede Nacht so eng zusammen schlafen. Ich mein, ist doch voll peinlich, wenn ich dauernd so schwitze.»
Ich beschloss, nicht mehr weiter in ihn vorzudringen. Einen Anfang hatte ich immerhin gemacht. Doch ich würde diese Idee hartnäckig weiterverfolgen. Ich würde nicht aufgeben. Ich würde nicht eher ruhen, bis ich alle Süchte aus ihm ausgetrieben hatte.
«Meine Mutter hat dich vor Toni gerettet, richtig?», kam es auf einmal ganz unerwartet von ihm.
«Ja, warum?»
«Nur so …» Er schälte sich aus der Decke und setzte sich auf. Er rieb sich kurz die Augen, dann stand er auf und verschwand Richtung Dusche. Das Thema war beendet.
Später gingen wir in die Küche, um nach etwas Essbarem Ausschau zu halten. Es war natürlich noch mehr als genug da. Weil es den ganzen Tag regnete, machten wir es uns drinnen vor dem Fernseher gemütlich, zappten uns durch die Programme, aßen und kuschelten. Ich verbannte wieder jeglichen Gedanken an die Zukunft aus meinem Sinn. Ich wollte diesen Tag einfach noch einigermaßen unbeschwert genießen, bevor ich mich der Tortur meiner gegenwärtigen Situation erneut hingab.
Am Abend machte Domenico mir ein Schaumbad. Ich versank fast darin. Nur mein Kopf ragte daraus hervor. Nicki ließ immer wieder Wasser und neues Schaumbad einfließen, wenn der Schaum sich aufzulösen drohte. Es machte ihm einen Heidenspaß, mir das Haar zu waschen und es hinterher zu föhnen und zu stylen. In unserem Übermut verspritzten wir das ganze Badezimmer und waren hinterher fast eine halbe Stunde mit Putzen beschäftigt.
Wir gingen erst in den frühen Morgenstunden schlafen, damit Nicki nicht von seinen Alpträumen heimgesucht würde. Trotz meines Drängens hatte er sich geweigert, es ein weiteres Mal mit meiner neuen Schlafmethode zu versuchen, weil er sich einfach zu sehr schämte. Aber irgendwann würde ich es schaffen, ihn erneut dazu zu überreden. So viel stand fest.
Weil wir dadurch jedoch bis Mittag schliefen, ließen wir das Frühstück aus, und Domenico improvisierte mit den Resten, die noch vorhanden waren, ein Mittagessen.
Da das Wetter immer noch nicht viel freundlicher war als am Vortag, legten wir uns nochmals eine Runde ins Bett. Ich lag in Domenicos Arm und starrte an die Decke, während ich hoffnungslos versuchte, die Sekunden und Minuten, die unerbittlich verflossen, dadurch aufzuhalten, dass ich pausenlos kontrollierte, wie viele Stunden uns noch bis zur Heimfahrt verblieben. Ich wollte nicht zurückkehren. Ich wollte für immer mit ihm hierbleiben. Doch natürlich konnte ich die Zeit nicht aufhalten, und der Zeiger rückte schließlich erbarmungslos auf die Ziffer Vier vor. Ich musste spätestens um sieben Uhr bei Tante Lena sein, was bedeutete, dass wir um fünf losfahren mussten. Und vorher mussten wir das Haus wieder in tadellosen Zustand versetzen.
In Windeseile packten wir unsere Sachen (und auch die Kondome) zusammen, räumten das Haus auf, drehten das Gas wieder ab und versteckten den Schlüssel wieder schön säuberlich in dem Plastikstein, nachdem wir die Tür zweimal verriegelt hatten. Dennoch wurde es halb sechs, bis wir losfahren konnten. Gemeinerweise schien jetzt wieder die Sonne von einem beinahe wolkenlosen Himmel, doch wenigstens wurden wir so bei der Heimfahrt nicht nass.
Domenico brachte mich direkt zu meiner Tante. Er hatte sich extra beeilt, so dass wir Punkt viertel nach sieben vor ihrem Haus hielten.
«Es war so wunderschön», sagte ich wehmütig, als ich abgestiegen war, den Helm verstaut hatte und dann meine Arme um Domenico legte.
Wir küssten uns innig und hielten uns noch lange fest.
«Soll ich dich morgen zur Schule bringen?», fragte er. «Oder möchtest du lieber, dass Leon das macht?»
Natürlich hörte ich den leisen, traurigen Unterton.
«Du weißt, dass das mit Leon nur eine aus der Not geborene Lösung war, um dich zu entlasten», flüsterte ich ihm zu und streichelte liebevoll seine Wange. «Wenn du mich abholen kannst, würde es mir wahnsinnig viel bedeuten.»
Er drückte einen letzten Kuss auf meine Handfläche, dann verschwand er wieder unter dem Helm und ließ den Motor aufröhren – ein Ausdruck seines eigenen Kummers, mich verlassen zu müssen.
Es tat so weh, als er davonfuhr und im Sonnenuntergang verschwand. Es war, als hätte er ein tiefes Loch hinterlassen.
Tante Lena kam und fragte, ob alles in Ordnung sei.
Ich nickte, obwohl ich wusste, dass es nicht so war.
Irgendetwas in mir drin sagte mir nämlich, dass meine Mutter nicht mehr nach Hause kommen würde …