19. Schwindelerregende Zukunftspläne

Meine Eltern erwarteten uns in Basel in ihrer Wohnung. Seit meinen Sommerferien hatte sich dort einiges verändert. Ganz eindeutig hatte Mama versucht, der eher asketischen Einrichtung eine etwas persönlichere Note zu verleihen. Wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, standen nun überall Pflanzen und Blumen herum. Neue, selbstgehäkelte Vorhänge zierten die Fenster, und die Kissen auf der Couch steckten statt in den langweiligen beigen Überzügen nun in einem petrolblauen Satinbezug.

Zumindest war ich fürs Erste erleichtert, als ich all die Kleinigkeiten wahrnahm. Sie zeigten, dass Mama immer noch da war und ihr Leben aktiv gestaltete und sich nicht einfach kampflos der Krankheit ergab.

Doch als ich Mama zum ersten Mal seit einigen Wochen wieder leibhaftig vor mir sah, erschrak ich trotz allem, sobald ich erkannte, wie blass und dünn sie geworden war. Ihr hübsches Gesicht war richtig eingefallen, und dass sie mir kleiner vorkam als sonst, lag sicher nicht nur daran, dass ich vielleicht ein kleines Stück gewachsen war.

Dass es ihr nicht besonders gut ging, konnte selbst ihre gepflegte Erscheinung nicht verbergen.

Doch sie lächelte tapfer. «Keine Sorge. Das ist nur wegen der Chemotherapie und der Ernährungsumstellung. Das kommt schon wieder. Zeig mal lieber deine Beule!»

Sie fasste mir mit ihrer dünnen Hand an den Kopf, der immer noch mit einem dicken Verband umwickelt war.

Ich musste mich einen Augenblick an Domenico festhalten, weil mich wieder mal ein paar Schwindelgefühle übermannten.

«Esther, jetzt blick endlich den Tatsachen ins Gesicht», sagte mein Vater. «Wir wollen nichts mehr beschönigen.»

Domenico setzte sich schnell auf die Couch und zog mich auf seinen Schoß. Ich klammerte mich an ihm fest und spürte, wie auch er innerlich bebte.

Es war also so weit.

Meine Eltern nahmen uns gegenüber auf den zwei Lederstühlen Platz. In ihren Gesichtern war kein Ausdruck des Sieges. Ich legte meinen Kopf auf Domenicos Schulter, bereit, mir das Todesurteil anzuhören.

Paps räusperte sich – sein typisches Räuspern, mit dem er immer eine ernste Ansage ankündigte.

«Also, die Sache ist die: Trotz Chemotherapie ist es nicht gelungen, dem Tumor auch nur im Geringsten beizukommen. Obwohl die Therapie noch nicht zu Ende ist, müssen wir sie leider abbrechen, weil sie deiner Mutter enorm an die Substanz geht. Sie hat sich gestern den ganzen Tag nur erbrochen. Es geht beim besten Willen nicht mehr, und Doktor Falke meint, es sei sinnlos, sie weiterzuführen.»

Ich schloss die Augen und krallte meine Finger fest in Nickis Haut. Ich fühlte sogar, dass ich ihm wehtat, aber er wand sich nicht aus meinem Griff.

Ich hatte es also geahnt. Mama ging es wirklich schlecht. Meine innere Stimme hatte sich nicht geirrt …

«Eine Operation scheidet nach wie vor aus, was leider bedeutet, dass …», Paps holte tief Luft, «wir wohl oder übel den Tatsachen ins Auge blicken müssen, dass eine Heilung … wahrscheinlich nicht möglich ist.»

Ich wollte mich vor Schmerz winden. Waren denn alle meine Gebete für die Katz gewesen? Ich presste meine Nägel noch tiefer in Nickis Fleisch, und jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als meine Hände sanft zu lösen.

«Was bedeutet das genau?», fragte er an meiner Stelle heiser.

Paps zögerte. Mama schwieg und starrte zu Boden.

«Das bedeutet … dass wir gegen den Tumor wohl kaum eine Chance haben. Im schlimmsten Fall bedeutet das, dass sie … nur noch wenige Monate zu leben hat.»

«Martin, solange ich lebe, gebe ich den Glauben an Gott nicht auf», kam Mamas Stimme leise. Ihre zartgliedrigen Hände waren zu Fäusten geballt. «Ich glaube immer noch daran, dass es eine Möglichkeit gibt. Außerdem habe ich die Bitte an Gott gerichtet, dass er mich zumindest eines Tages noch die Hochzeit meiner Tochter erleben lässt … Also, ein paar Jahre muss er mich schon noch hier lassen!»

Halt mich fest, Nicki … bitte, halt mich fest. Ich falle sonst endgültig in ein schwarzes Loch … bitte … Irgendwer muss mich festhalten …

Fast automatisch zogen sich Nickis Arme enger um mich.

Paps seufzte und sah mich mit gequälter Miene an. «Tja, deine Mutter glaubt immer noch, dass Gott sie heilen kann, aber … er hat es bis jetzt nicht getan. Warum sollte er es also in Zukunft tun? Ich habe auch lange Zeit gehofft, aber … ich sehe einfach keine Resultate. Also bereite ich mich lieber auf das Schlimmste vor. Wir … nun, wir haben noch eine allerletzte Möglichkeit, aber ich … ich weiß nicht, ob ich daran noch glauben soll … Trotzdem … wir werden es natürlich versuchen.»

«Und was für 'ne Möglichkeit?»

Ich war so froh, dass Nicki immer genau die Fragen stellte, die mir auf den Lippen brannten, zumal ich momentan nicht sprechen konnte.

Paps räusperte sich wieder.

«Sie testen gerade ein neuartiges Medikament, von dem Doktor Falke sich eine gewisse Wirkung verspricht. Anfang Januar soll es an weiteren Probanden getestet werden. Man hat mit diesem Prototypen schon einige nennenswerte Erfolge erzielt, und es wurde nun noch einiges optimiert. Wir wären einverstanden, das Medikament an deiner Mutter testen zu lassen.»

«Was ist das für 'n Medikament?», fragte Domenico weiter.

«Es ist auch auf dem Prinzip der Chemotherapie aufgebaut, aber mit weniger aggressiven Nebenwirkungen. Wenn das klappen würde, hätten wir möglicherweise noch eine geringe Chance. Aber ich sage mir: Verlieren können wir nichts mehr.»

Domenicos weiche Lippen legten sich auf meinen Nacken, weil er mich nicht noch fester halten konnte, ohne meine Eingeweide zu zerdrücken.

«Es gäbe nun noch einige organisatorische Dinge zu besprechen», fuhr Paps nach einem weiteren Räuspern fort. «Deswegen haben wir euch hergebeten.»

Ich nahm all meine Kraft zusammen, um mich für das Endgültige zu wappnen.

«Schieß los», sagte Domenico nervös.

«Wir werden in etwa zwei Wochen nach Hause zurückkehren und zumindest bis zum Ende des Jahres dableiben. Doktor Ulrich wird weiterhin bei mir in der Praxis tätig sein, und ich werde auch Teilzeitarbeit machen. Anfang des nächsten Jahres werden wir uns ein weiteres Mal hierher nach Basel zur Therapie begeben.»

Paps holte tief Luft, denn jetzt kam offensichtlich der schwierige Part. Er richtete seinen Blick fest auf mich.

«Ändern wird sich allerdings so oder so einiges für dich, Maya. Gesetzt den Fall, die Therapie hat keinen Erfolg … womit wir leider rechnen müssen …» Er kam ins Stocken. «Also, was ich eigentlich sagen will: Ich habe mich entschieden, die Praxis und das Haus an Doktor Ulrich zu verkaufen. Er ist sehr daran interessiert, und ich sehe es als ein Riesenglück, so jemanden wie ihn gefunden zu haben. Das ist keine Selbstverständlichkeit.»

Ein paar ewige Sekunden lang konnte ich nicht fassen, was Paps da soeben gesagt hatte.

«Du … du willst alles verkaufen?», hauchte ich. Noch nie in meinem Leben hatte ich das Gefühl gehabt, so vollkommen in der Leere zu schweben wie in diesem Augenblick, wo mir quasi meine Kindheit unter den Füßen entrissen wurde.

Paps zückte sein Taschentuch und gab vor, sich zu schnäuzen, doch ich wusste, dass er in Wahrheit dahinter seine eigenen Tränen verbarg. Ich würde mich wohl nie an den Anblick gewöhnen, meinen Vater weinen zu sehen.

«Es liegt nicht mehr drin, dass ich so viel arbeite wie bisher. Die Krankheit deiner Mutter hat mich einiges gelehrt. Das Leben ist viel zu kurz, um …» Seine Stimme brach.

«Nun, die Sache ist die: Falls deine Mutter wirklich nur noch wenige Monate zu leben hat oder im besten Fall vielleicht noch ein, zwei Jahre, dann möchte ich gern mit ihr die Weltreise machen, die sie sich immer gewünscht hat, sofern ihre Verfassung es zulässt. Irgendwie müssen wir das ja auch finanzieren. Zudem kann ich mir nicht vorstellen, allein in dem großen Haus zu leben – zumal auch du ja vermutlich in naher Zukunft ausziehen wirst, Maya. Spätestens dann, wenn dein Studium beginnt …»

Zukunft … was redete Paps da von der Zukunft? … Die Zukunft war für mich so vage wie ein Blick durch ein nicht scharf gestelltes Fernglas, ohne Konturen und ohne Details.

«Sollte die eher geringere, aber immerhin nicht ganz unmögliche Wahrscheinlichkeit eintreffen, dass wir den Tumor eindämmen können, dann … nun, auch dann wird sich unser Leben ändern. Denn dann würden wir irgendwohin in eine hübsche kleine Wohnung ziehen, und ich würde eine Stelle im Krankenhaus annehmen, so dass wir auch zukünftig mehr Zeit und Geld für Reisen zur Verfügung haben werden. Ich müsste ja dann nicht mehr alle Finanzen in Haus und Praxis stecken. Das heißt, wir alle – und das betrifft auch dich – werden uns in jedem Fall neu orientieren müssen.»

Neu orientieren … wie denn? In diesem Irrgarten, in dem ich verzweifelt herumraste?

Ich schaute aus dem Fenster in den grauen Himmel.

«Wann wird denn das Haus verkauft?» Domenico hatte das Fragen wieder für mich übernommen.

«Vermutlich Anfang des nächsten Jahres, wenn wir wieder nach Basel kommen. Was Maya betrifft … Sie wird ja im März achtzehn. Rein theoretisch darf sie dann selber entscheiden, was sie machen möchte.»

«Das heißt, sie könnte sich 'ne eigene Wohnung nehmen oder so?» Ich glaubte, einen hoffnungsvollen Unterton in Nickis Stimme zu hören.

«Zum Beispiel. Natürlich kann sie auch weiterhin bei uns bleiben, halt in einer kleineren Wohnung. Oder sie könnte eine WG mit Freundinnen gründen. Sie … ist ja in letzter Zeit so selbständig geworden.»

«Hmm», machte Domenico nachdenklich und rieb zärtlich seine Nase an meinem Nacken.

Paps' Augen nahmen Nicki nun fest in Beschlag. Mama, die die ganze Zeit sehr still und mit gesenktem Blick auf ihrem Stuhl gesessen hatte, schaute ebenfalls auf.

«Ich … nun, ich habe auch noch ein paar Worte an dich zu richten, Nicki …», sagte nun Paps. «Ich weiß, dass mir oft das Verständnis für dich gefehlt hat, aber … du hast mir dennoch gezeigt, dass es in der Liebe noch eine andere Ebene gibt … dass eine Frau mehr braucht als nur einen gesicherten Lebensunterhalt. Das hat nicht unwesentlich zu meinem Entschluss beigetragen, dass ich Esthers Wunsch nach einer Weltreise erfüllen möchte.»

Schweigen erfüllte den Raum. Nicki hob seinen Kopf und strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht; offenbar wollte er Paps' Blick erwidern.

«Ich … nun, besser gesagt, wir brauchen weiterhin deine Hilfe, Nicki», fuhr Paps mit ungewohnt leiser Stimme fort. «Deswegen habe ich darauf bestanden, dass du mitkommst. Wir wissen, dass das alles nicht leicht ist für unsere Tochter. Ihr ganzes Leben wird einfach mir nichts, dir nichts auf den Kopf gestellt. Und da braucht sie jemanden, der für sie da ist. Dem sie vertraut. Und das bist offenbar du. Wenn sie mit dir glücklich ist, soll es mir recht sein. Du hast dich sehr positiv entwickelt. Wir wären froh, wenn du dich auch weiterhin um sie kümmern könntest.»

«Klar», antwortete Domenico.

«Finanziell kann ich dich leider nicht mehr unterstützen, das habe ich dir ja schon mal erklärt», entschuldigte sich Paps. «Ich hoffe, du kommst zurecht.»

«Easy. Verlang ich ja gar nicht. Außerdem … ist Morten ja auch noch da …», beeilte sich Nicki, das Thema zu beenden.

«Das heißt also, dass sich so oder so einiges ändern wird. Für uns alle», schloss Paps seine Rede.

Ich traute mich kaum, weitere Fragen zu stellen, weil ich die Antworten darauf fürchtete. Mamas Augen ruhten fest auf mir. Sie waren trotz allem immer noch voller Glanz.

Nicki wühlte sein Gesicht in mein Haar.

Lange Zeit war nur das leise Ticken der Uhr an der Wand zu hören, bis Paps schließlich aufstand und das Wohnzimmer verließ. Ich starrte geistesabwesend aus dem Fenster auf das gegenüberliegende Rheinufer und betrachtete die schmalen Häuser, die zusammengepfercht in Reih und Glied standen. Der Rhein hatte eine richtig schlammgrüne Farbe. Offenbar hatte es hier in den letzten Tagen viel geregnet.

Mama lächelte uns an.

«Ich würde mich gern noch ein wenig hinlegen … ich bin immer noch müde», sagte sie.

Domenico nickte und ließ mich vorsichtig neben sich aufs Sofa gleiten. Sein Blick fiel auf ein Kissen, das auf den Boden gefallen war. Er hob es auf und brachte es meiner Mutter. Ich rappelte mich schwerfällig auf und wankte zum Fenster. Der ganze Raum schien sich zu drehen. Ich presste meine Handflächen und meine Wange gegen die kühle Glasscheibe, während Mama es sich auf der Couch bequem machte und Domenico ihr eine Decke holte.

«Danke, Nicki. Du bist so lieb. Was macht ihr in der Zwischenzeit?», wollte sie wissen. «Habt ihr Hunger? Möchtet ihr …?»

«Ich weiß nicht …» Domenico drehte sich um und suchte meinen Blick. Ich löste mich von der Scheibe und taumelte auf ihn zu. Er breitete seine Arme aus und fing mich auf.

«Magst du ein wenig mit mir rausgehen an die frische Luft, Maya?», fragte er sanft. Ich hörte eine gewisse Spur Nervosität in seiner Stimme. «Das tut dir bestimmt gut.»

Ich konnte nur nicken.

Draußen war es kalt und nass. Der Herbst hatte auch in Basel Einzug gehalten. Ich kuschelte mich fest in meine Jacke. Nicki legte seinen Arm um mich. Ich spürte meine Füße kaum noch. Als wenn sich überhaupt kein Boden mehr unter ihnen befinden würde.

Es gab keine Zukunft und keine Vergangenheit mehr.

Alles war einfach ausgelöscht. Verschwunden.

Wir gingen das idyllische Rheinufer entlang bis zur sogenannten Mittleren Brücke. Ich hatte keine Ahnung, wo Domenico mit mir hinwollte, und ließ mich einfach von ihm führen. Er schien es irgendwie furchtbar eilig zu haben, obwohl seine Wunde am Bein immer noch schmerzte.

Bei der Brücke angekommen, haute er eine Passantin an.

«Können Sie mir sagen, wo der romantischste Platz von Basel ist?», fragte er, von dem schnellen Laufen ganz außer Atem. «Irgendwas, wo Laternen stehen?»

«Tja, ich weiß nicht. Oben auf der Pfalz beim Münster vielleicht?», antwortete die Frau und deutete mit einem Kopfnicken zu den beiden Turmspitzen, die über den alten Hausdächern auf der anderen Rheinseite emporragten. «Gleich da drüben bei der Schifflände links den Rheinsprung rauf. Rheinsprung und dann Augustinergasse. Dann gelangt ihr direkt dorthin.»

Ich wusste auf einmal, welchen Ort diese Frau meinte.

Nicki bedankte sich und sah mich an.

«Hast du 'ne Ahnung, was für ein Platz das ist?»

«Ja, es ist nicht weit. Und er ist wirklich schön.» Dank den vielen Rundreisen mit Paps während den Sommerferien kannte ich mich mittlerweile in Basel ziemlich gut aus.

«E amunì.» Domenico packte meine Hand, und wir gingen zügig weiter. Ich verstand immer noch nicht, warum er es auf einmal so eilig hatte.

Links, unmittelbar nach der Brücke, führte zwischen einer Buchhandlung und einem Café eine Gasse den Berg hinauf. Domenico steuerte zielstrebig darauf zu. Wegen der dichten Wolken dämmerte es früher als gewöhnlich. Mein Kopf tat weh und schien unter dem engen Verband regelrecht zu platzen. Ich senkte meine Augen, schaute auf den dunklen, nassen Asphalt – eine ruhige Fläche, die mich für einen Moment von den unregelmäßigen Farben und Formen der mittelalterlichen Fachwerkhäuser und der Menschen um mich herum ablenkte und etwas beruhigte.

«Geht's?», fragte Domenico besorgt. «Bin ich zu schnell?»

«Hmja. Einigermaßen», sagte ich.

«Vielleicht machen sie ja die Lichter bald an», meinte er.

Ich stolperte ihm weiter hinterher, immer noch auf den Boden starrend. Erst als der grauschwarze Asphalt sich in ein unruhiges, rostbraunes Kopfsteinpflaster verwandelte, hob ich meinen Kopf wieder.

Domenico hatte Recht gehabt: Kurz nachdem die beiden Türme des Münsters in Sicht kamen, war es dunkel genug für die Straßenbeleuchtung. Sein Talent, den richtigen Weg auf Anhieb zu finden, kam einmal mehr zum Zug, denn er führte mich instinktiv unter den Kastanienbäumen hindurch zu dem mit Sitzbänken ausgestatteten Platz hinter dem Münster. Langsam nahm ich die Welt wieder deutlicher wahr. Die frische Luft hatte den Nebel in meinem Kopf tatsächlich etwas vertrieben. Ich merkte erst jetzt, dass es leicht zu nieseln angefangen hatte.

Das Wetter war viel zu schlecht, als dass es die Leute aus ihren Häusern herauslocken konnte. Im Sommer hatte ich diesen Platz, den die Basler «Pfalz» nennen, als belebten Ort kennengelernt, jetzt war er fast menschenleer.

Umso besser.

Denn ich begann zu ahnen, dass Nicki etwas vorhatte, was nicht für Zuschauer bestimmt war.

«Ist ja voll ähnlich wie bei uns auf dem Domplatz», stellte er fest. «Nur schöner irgendwie.» Er schaute zu dem aus rotem Sandstein gebauten Münster hoch, das sich mit seinen bunten Ziegeldächern gewaltig über uns auftürmte. Ich hob meinen Kopf ebenfalls und ließ mein Gesicht von dem Nieselregen besprühen. Eine Laterne berührte direkt über mir mit ihrem Lichtkegel die Blattspitzen der Kastanienbäume.

Dann ließ ich mich von Domenico zu der Mauer führen, die den Platz wie eine Balustrade vor dem furchteinflößenden Gefälle, das steil hinunter zum Rhein abfiel, abschirmte.

Domenico kletterte auf die Mauer und setzte sich auf die Brüstung. Er zog mich an sich heran, so dass ich mich auf den kleinen Steinsitz davor zwischen seine Beine knien konnte.

Als wir uns so einander gegenüber waren, sahen wir uns tief in die Augen. Zaghaft streckte er seine Hände aus und legte sie um meine Wangen.

Was kam jetzt?

Der Wind spielte mit meinem Haar, während Domenicos blaugraue Augen mich anschauten, so klar und hell und entschlossen wie noch nie zuvor. Seine Lippen formten etwas, doch ich konnte die Worte nicht lesen. Ein paar fette Regentropfen klatschten auf meine Stirn, rannen meine Wangen herunter und sickerten durch den Spalt zwischen seinen Fingern und meiner Haut.

Domenico zog kurz seine Hände weg, um mein Gesicht mit meinem Schal abzutrocknen und mir sorgsam die Kapuze meiner Jacke hochzuziehen.

Sein Blick ließ mich keine einzige Sekunde los.

Mit einer sanften Bewegung strich er mir ein paar Haarsträhnen, die sich aus dem Verband gelöst hatten, aus dem Gesicht.

Dann nahm er meine Hände und drückte sie fest.

«Maya … Principessa …»

Ich schaute ihn bebend an. Mein Herz setzte ein paar Takte lang aus.

«Maya … vuoi tu …»

Er stockte und drückte meine Hände noch intensiver. Ich fühlte, wie sein Puls fiebrig raste. Feuchte kupferbraune Haarsträhnen hingen ihm in die Stirn und drohten über seine Augen zu rutschen. Eine letzte kurze Bewegung folgte, um sie zur Seite zu streichen. Dann fasste er endlich den Mut.

«Vuoi sposarmi? Ich mein … ti vo' maritari cu' mmia?»

Er schloss die Augen; er schien viel zu aufgeregt zu sein, um die deutschen Worte zu finden.

«Möchtest du … mich heiraten?», brachte er schließlich hervor.

Raum und Zeit standen für einen Moment still, während innerhalb weniger Sekunden eine ganze Menge Dinge in mir passierten. Die Worte schwirrten irgendwo in der Luft herum, vermischten sich mit dem Regen und prasselten sanft und warm auf mich nieder.

«Ey … ich mein's ernst.» Nickis Finger, die sich um die meinen klammerten, waren ganz heiß geworden.

Ich schloss die Augen, und auf einmal hatte ich das seltsame Gefühl, als würde die Sonne scheinen. Aber das konnte ja nicht sein, eben erst hatte ich doch noch im Regen gesessen. Ich öffnete die Augen wieder, sah den dunkelgrauen Himmel über uns und schaute hinunter in das trübbraune Wasser des Rheins, wo gerade eine Fähre ablegte. Weit entfernt bewegten sich winzig kleine Lichter auf der Mittleren Rheinbrücke: Trams, die hin und her fuhren, Autos, die im Feierabendverkehr dichtgedrängt die Brücke passierten.

Ich hatte Domenicos Frage wohl vernommen, konnte aber einfach nicht glauben, dass sie zu meiner Wirklichkeit gehörte.

Sein Blick war immer noch fest auf mich gerichtet, verlegen und ängstlich, aber irgendwie auch entschlossen.

«Principessa, ich weiß … das klingt verrückt, aber …» Er musste seine ganze Anstrengung aufwenden, um seine raue Stimme einigermaßen klar klingen zu lassen. «Ich mein's wirklich ernst, ey. Ich dachte … so könnte deine Mutter wenigstens deine Hochzeit noch erleben, verstehst du? Sie … sie wünscht sich das doch so.»

Obwohl momentan weder Zukunft noch Vergangenheit existierten und mein Herz noch immer schmerzte von all dem, was gewesen war, hatte ich das Gefühl, noch nie in meinem Leben etwas so Schönes gefühlt zu haben. Meine Lippen formten Buchstaben, die Worte ergeben sollten, aber keines davon sprach ich aus.

Domenico lockerte den Griff um meine Hände ein wenig.

«Weißt du, ich dachte … jetzt, wo dein Vater ja das Haus verkauft … Wenn du möchtest, könnten wir uns zusammen 'ne Wohnung in Berlin nehmen. Du könntest dort dein Abitur machen. Und ich würde Geld verdienen und für dich sorgen. Und wir wären die Gangs los und all den ganzen Mist … und könnten ganz von vorne anfangen …»

Ich war viel zu aufgeregt, um regelmäßig atmen, geschweige denn klar denken zu können. Doch wie die Nacht um uns herum mit jeder Sekunde mehr einbrach, so schien es auf einmal auch in mir drin wieder dunkler zu werden. Ich wollte Ja sagen, wollte nur dieses eine, kurze Wort aussprechen, aber ich konnte nicht. Mein vernunfttrainierter Verstand meldete sich zu Wort, schob eine Wolke nach der anderen über die eben erst aufgegangene innere Sonne. Erneut schloss ich die Augen, spürte Domenicos Finger, die sich in meine verflochten hatten, fühlte den Regen in meinem Gesicht und den Wind, der kalt über meine Wangen streifte.

«Ich … ey, Maya … ich versprech dir … ich versprech dir wirklich, und ich werde es schaffen … Morten wird mir auch helfen … und ich kann in Berlin 'nen Fernkurs machen und den Schulabschluss nachholen … Du musst echt keine Angst haben, Principessa … ey, ich mein's wirklich ernst mit dir! Ich werd dich doch nie sitzenlassen oder so …» Seine Stimme, die so deutlich und klar klang, kam mir vor wie ein heller Blitz in der Dunkelheit.

Ich blinzelte. Angst? Nein, das war es nicht. Es war einfach nur, dass es sich zu fantastisch anhörte, um wahr zu sein … es konnte einfach nicht Wirklichkeit sein. Domenico war immer nur ein ferner, unrealistischer Traum gewesen, ein Märchen, das irgendwann zu Ende sein musste, das nicht ewig weitergehen konnte – eine Illusion, aus der ich früher oder später aufwachen musste, weil sie eigentlich ganz und gar unmöglich war.

«Und ich werde auch endgültig mit dem Rauchen aufhören», hörte ich Nicki weiterreden. «Ganz bestimmt. In Berlin werde ich das packen. Ey, ich hab ja langsam Übung darin. Sieben Mal hab ich in der Therapie aufgehört. Und Morten hat mir versprochen, dass er … na ja … dass er mir den Zahnarzt finanziert, wenn ich es schaffe. Dann könnte ich endlich meine Zähne reparieren lassen. Sag mir einfach, was du möchtest …» Seine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern.

«Ich kann … Nicki, es ist …» Vorsichtig machte ich die Augen wieder auf. Fast hatte ich Angst, dass er sich vor mir in Luft auflösen würde. Nein, es war zu utopisch, es war unmöglich … Von einem inneren Taumel erfasst, schlang ich meine Finger fester um die seinen.

«Na ja, ist ja nur … 'ne Idee.» Seine raue Stimme hörte sich auf einmal so zerbrechlich an wie dürres Laub. «Du musst nicht, wenn du nicht willst …»

Er löste seine Hände langsam aus meiner Umklammerung. «Du … kannst es dir ja überlegen», meinte er heiser und berührte zaghaft mein Gesicht. «Ich … also, wegen mir brauchst du nicht … ich würde dir ja jede Freiheit lassen, die du dir wünschst. Ich würde dir alle Zeit geben … um alles zu machen, was du möchtest und so. Ich würde dich nie bedrängen …»

«Das ist es nicht», flüsterte ich heiser.

«Was ist es dann?», fragte er unsicher.

«Ich bin … im Moment einfach … völlig überrumpelt», stotterte ich.

Er senkte seinen Blick. «Verstehe», sagte er leise. Schweigend stand er auf und sprang von der Mauer, dann reichte er mir den Arm und zog mich sanft auf die Beine. Unter einer kleinen Arkade suchten wir Schutz vor dem immer stärker werdenden Regen. Nicki nahm erneut mein Gesicht in seine Hände und legte vorsichtig seine Lippen auf die meinen. Ich spürte, dass er sich mit aller Kraft die Zigarette verkniff, nach der es ihn im Moment dringend verlangte.

Ich schmiegte mich an ihn, und er küsste mich sanft. Der warme Pulsschlag seines Körpers hüllte mich mit wohliger Geborgenheit ein, während links und rechts das Wasser von den Mauern triefte.

«Ich liebe dich», sagte er leise.

Ich atmete tief ein und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Ich fühlte, wie seine starken Arme mich fest umschlossen. Und hier standen wir nun, näher, als ich es mir vor langer Zeit je zu träumen gewagt hätte, und ich fühlte mich, als ob ein süßes, aber auch schmerzvolles Geheimnis in mein Herz verpackt worden wäre.

«Komm», meinte er nach einer Weile. «Lass uns irgendwo reingehen. Du frierst.»

Dass ich tatsächlich fror, hatte ich bis jetzt gar nicht wahrgenommen. Er nahm mich wieder an der Hand und führte mich zurück zur vorderen Seite des Münsters. Der Haupteingang war durch eine Baustelle versperrt. Die einzige Möglichkeit, die sich uns auf die Schnelle bot, war ein kleiner bogenförmiger Eingang, der ins Innere der Kirche führte. Wo wir zuerst damit rechneten, dass er uns vielleicht eine kleine Seitenkapelle als Unterschlupf bieten würde, bog der Gang auf einmal ab und weitete sich zu unserer Überraschung zu einem prachtvollen Kirchenraum. Die Leuchter, die von der Decke hingen, tauchten die Halle in gedämpftes Licht. Bis auf ein paar wenige Touristen waren die Stuhlreihen fast leer.

«Krass», meinte Domenico leise.

Zaghaft wagten wir uns ein paar Meter weiter hinein und blieben andächtig im Mittelgang stehen, die Hände immer noch ineinander verschlungen. Links und rechts von uns erhoben sich meterhohe Säulen und liefen auf die spitz gewölbte Decke zu. Unmittelbar vor uns, umgeben von prunkvollen bunten Glasfenstern, stand nun der Altar, geschmückt mit gelben Sonnenblumen.

Domenico ließ meine Hand los und legte den Arm um meine Taille.

Von einer feierlichen Ehrfurcht gepackt, schritten wir ganz langsam darauf zu. Schwindel erfasste mich, als ich hinauf zu den bunten Glasfenstern blickte, die immer näher auf mich zukamen.

Und dann standen wir direkt davor, und einen Augenblick vergaß ich alles um mich herum, als Domenico mich sachte losließ, sich zu mir umdrehte und etwas zögernd meine Hände nahm.

Wir schauten uns an, und ich bekam eine unglaubliche Gänsehaut. In dem Moment stellte ich mir plötzlich vor, dass der ganze Saal gefüllt wäre mit Menschen. Menschen, die mir nahe standen. Meine Eltern. Morten und Hendrik. Liv und Kjetil und Solvej. Alle meine Freunde und Verwandten, auch Carrie und Manuel … und vielleicht sogar Maria di Loreno … Und auf der Kanzel Pfarrer Siebold, mit seinen lustigen abstehenden Haarbüscheln hinter den Ohren und den hellen, freundlichen Augen … und ich hier, in einem weißen Kleid, Nickis Hand haltend … Nicki selbst in einem schwarzen Smoking … und gleich würde Pfarrer Siebold uns die eine Frage stellen, die uns auf immer und ewig vereinigen würde …

Meine Lippen bebten. Domenico lächelte. Ich ahnte, dass er sich eben eine ähnliche Szene vorgestellt hatte.

Kann das eines Tages wahr werden, Nicki? Oder ist es nur ein Traum, aus dem ich irgendwann bitterböse erwachen werde? Werden wir für immer zusammen sein? Und eines Tages gemeinsam hier vor dem Altar stehen?

Er schloss die Augen und drückte sanft meine Hände.

Jetzt habe ich dir alles gegeben, alles, was ich habe, Principessa. Ich habe dir damals gesagt, dass es nur ein Traum ist. Aber ich glaube jetzt, dass es mehr als das ist. Du bist mein Leben. Mein Atem. Du bist alles, was ich habe. Du bist ein Teil von mir, so wie Mingo ein Teil von mir war. Und wenn du nicht mehr da bist, so wird es auch mich nicht mehr geben … ich kann nicht mehr anders, als für immer dir zu gehören …

Ich zuckte richtig zusammen, als ich seine Gedanken auf einmal so deutlich vernahm. Er öffnete die Augen wieder. Noch einmal schenkten wir uns gegenseitig ein schüchternes Lächeln. Keiner von uns wagte, diese zarten Gedanken auszusprechen.

Als wir später, immer noch voller Ehrfurcht, das Münster verließen, hatte es aufgehört zu regnen.

Nicki legte seinen Arm ganz fest um mich, als wir schweigend und erfüllt den Rückweg antraten.