3. Mamas Bitte

Ich schaute die ganze Zeit aus dem Fenster. Bei jedem Auto, das in unsere Straße einbog, zuckte ich zusammen. Und jedes Mal, wenn Domenico das Fahrzeug auch hörte, kam er aus der Küche und legte sanft seine Arme um mich.

«Schscht, amò, das können sie doch noch gar nicht sein. Sie sind erst vor drei Stunden losgefahren.»

Trotzdem hatte er schon alles in der Küche vorbereitet, damit er, wenn meine Eltern eintreffen würden, nur noch das Fleisch braten musste.

Als Paps' schwarzer Mercedes endlich vorfuhr, rührte ich mich nicht von der Stelle.

Domenico trat schweigend an mich heran, und gemeinsam sahen wir aus dem Fenster.

Als Erstes stieg Mama aus. In dem Moment, als ich sie sah, geschah etwas mit mir … Die Welt um mich herum fing auf einmal wieder an, aus ihrem Schattendasein zu erwachen, denn Mama sah ganz normal aus, so wie immer – nicht wie in meinen Träumen, in denen ich sie schon halb tot gesehen hatte. Ich stand nur da, starrte sie an und riss dabei ungläubig die Augen auf.

Nun stieg auch Paps aus und ging zum Kofferraum, um das Gepäck herauszuholen. Mama blieb stehen und schaute sich um, als suche sie irgendwas – und als sie uns am Fenster stehen sah, erhellte sich ihr Gesicht, und sie winkte uns zu.

Für einen klitzekleinen Moment hatte ich das Gefühl, dass tatsächlich alles normal war. Dass es keinen Krebs gab. Dass meine Eltern ganz einfach nur von einem Urlaub zurückkehrten und dass das Leben nun so weitergehen würde wie früher.

Domenico zog mich vom Fenster weg und schob mich sanft Richtung Haustür.

Und da stand Mama direkt vor mir und strahlte mich an, und in dem Moment kam sie mir vor wie ein Engel. Da war nicht mehr die Verzweiflung und Hilflosigkeit, die mich die ganze letzte Woche verfolgt hatten. Sie trat vor, um mich zu umarmen. Und auch wenn ich fühlen konnte, dass ihre Schultern etwas schmaler geworden waren – so war sie doch lebendig! Lebendig, nicht tot. Und sie bewegte sich und redete, und ich konnte sie fühlen und konnte ihr Parfum riechen. Die Welt um mich herum wurde von Sekunde zu Sekunde heller.

«Du siehst ja … ganz normal aus», sagte ich, und beinahe zuckte ich zusammen, als ich meine Stimme wieder hörte.

«Was denkst du denn? Sie haben mich ganz schön verwöhnt im Krankenhaus. Aber du … du bist sehr blass …?» Mama sah mich besorgt an. «Und so dünn. Isst du nicht genug?»

«Doch …» Ich runzelte die Stirn. Ich hatte doch die ganze Zeit gegessen? Nicki hatte doch dauernd gekocht …

Mein Vater ließ uns allein und trug das Gepäck ins Haus, und Domenico ging hin, um ihm zu helfen. Währenddessen kochte in der Küche das Wasser über, und Domenico raste rasch wieder zurück, um die Misere zu beseitigen und das Hackfleisch in die Bratpfanne zu geben.

Das Leben war zurückgekehrt.

Mit Schürze und Kochlöffel bewaffnet, trat Domenico wieder aus der Küche. Paps murmelte irgendwas und verschwand im Bad.

«Unser kleiner Koch», lächelte Mama und nahm Nicki in die Arme. Er legte kurz den Kopf auf ihre Schulter, wie er es immer machte, wenn sie ihn begrüßte. Das waren die flüchtigen Augenblicke in seinem Leben, in denen er ein wenig von der verpassten Mutterliebe tanken konnte …

«Ich hoffe, du hast Hunger», sagte er verlegen. «Ich mache Fusilli alla Bolognese und Salat.»

Sie nickte. «Ich bin ehrlich gesagt froh, dass ich endlich mal wieder anständig essen kann. Die Kost im Krankenhaus war ziemlich fad.»

Hatte sie vorher nicht gerade das Gegenteil gesagt? Dass man sie verwöhnt hatte? Ich runzelte die Stirn. Das gefiel mir nicht. Mama widersprach sich sonst nie …

«Willst du dich nicht setzen?», fragte Domenico und reichte ihr den Arm, um sie zum Esstisch zu führen. Er hatte extra den großen Tisch im Wohnzimmer gedeckt.

«Nicki, ich bin nicht so krank, dass ich nicht allein gehen kann», protestierte sie und machte sich von ihm los. «Ich möchte nicht, dass ihr mich wie eine Schwerkranke behandelt. Ich bin vielleicht etwas müde von den Medikamenten, aber ich brauche keinen Rollstuhl!»

«Verstehe», sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken.

Mama stand mitten im Wohnzimmer und schaute sich suchend um, fast so, als würde sie sich in ihrem eigenen Haushalt nicht mehr auskennen. Dann trat sie entschlossen zum Geschirrschrank und riss betont energisch die Tür auf. Ich beobachtete ängstlich jeden ihrer Schritte. Ich wollte unbedingt kontrollieren, ob sie sich normal verhielt, bewegte und äußerte.

«Also, dann lasst uns mal den Tisch decken.»

«Hab ich doch schon», sagte Domenico und machte eine lässige Handbewegung zum Esstisch hin.

«Ach so.» Mama schüttelte den Kopf, lächelte beschämt und machte den Schrank wieder zu.

Nein, das war nicht normal …

«Du machst jetzt mal gar nix», bestimmte Domenico. «Du setzt dich einfach hin und ruhst dich aus.»

«Ich habe mich schon die ganze Zeit ausgeruht», widersprach Mama.

Paps erschien wieder und schnupperte neugierig. Er sah den perfekt gedeckten Tisch an und Mama, die sich schließlich etwas widerwillig gesetzt hatte. Nicki war schon wieder in der Küche und werkelte dort weiter.

«Schon alles bereit?», fragte mein Vater.

«Hab ich doch gesagt!», rief Nicki aus der Küche. «Ey, Leute, jetzt setzt euch einfach mal hin, okay? Ich mach das hier schon! Du auch, bedda mi'.» Er kam zu mir, packte mich am Arm und schob mich energisch an den Tisch. Dann sammelte er die leeren Teller ein und brachte sie in die Küche, um sie zu füllen.

«Warte, ich hole noch was zu trinken!» Mama wollte schon wieder aufspringen.

«Stai, stai! Ich hab doch alles hier!», rief Domenico. Er sauste mit zwei Flaschen Mineralwasser heran und stellte sie auf den Tisch.

«Vielen Dank, Nicki», sagte Paps. «Das ist wirklich lieb von dir.»

Domenico brachte zwei gut gefüllte Teller und stellte sie vor meinen Eltern hin.

«Das sieht sehr lecker aus», murmelte Paps anerkennend. Mama sagte gar nichts, aber sie beobachtete Nicki. Es gefiel ihr offenbar ganz und gar nicht, dass sie untätig herumsitzen musste.

«Ich hoffe, es schmeckt», sagte Domenico, nachdem er uns alle bedient hatte.

«Hervorragend», lobte Paps anerkennend. «Du wirst immer besser im Kochen.»

«Ja, hab in Rimini in der Mensa gearbeitet. Hab einiges gelernt.»

Ich hatte weniger Lust, übers Essen zu reden als vielmehr über die ganz dringenden Fragen, die ich endlich beantwortet haben wollte.

Paps, der mir das offenbar ansah, meinte: «Ich schlage vor, wir essen jetzt erst mal gemütlich. Nachher würde ich mich sehr gerne ein wenig von der langen Reise ausruhen, und danach besprechen wir alles in aller Ruhe.»

Ich ließ seufzend meine Gabel sinken. Noch mehr Warten … aber es war ja klar, dass Paps nach dieser strapaziösen Fahrt erst mal seine Ruhe brauchte. Domenico tastete unter dem Tisch nach meiner Hand und streichelte sie beruhigend.

«Eines möchte ich noch mal deutlich klarstellen», meldete sich Mama mit etwas zittriger Stimme zu Wort. «Ich möchte nicht, dass ihr mich wie eine Schwerkranke behandelt. Ich würde nachher gern die Küche aufräumen. Ich brauche das einfach, versteht ihr das? Ich wäre froh, wenn ihr euch so benehmen würdet, als sei ich gesund. Schließlich tut mir nichts weh, kapiert?»

«Capiu», sagte Domenico. «Schon okay.»

Und so verzogen wir uns nach dem Essen erst mal alle zum Ausruhen. Nicki ließ auf Mamas Wunsch die Unordnung in der Küche stehen und folgte mir in mein Zimmer, wo wir uns zusammen auf mein Bett quetschten und einmal mehr den versäumten Schlaf nachholten. Während ich mich fest an Nicki kuschelte und langsam in den Schlaf hinüberglitt, dachte ich die ganze Zeit daran, dass vielleicht doch ein Wunder geschehen und Mama auf unerklärliche Weise wieder gesund geworden war und dass Nicki so gut roch, irgendwie anders als sonst … Aber ich kam nicht mehr dazu, den Gedanken zu Ende zu verfolgen, weil ich mittendrin einschlief.

Zwei Stunden später saßen wir alle zusammen im Wohnzimmer und warteten darauf, dass Paps das Wort ergriff. Und natürlich war Mama nicht einfach über Nacht gesund geworden, aber trotzdem befand ich mich jetzt wieder in der Wirklichkeit. Vielleicht lag es einfach daran, dass Mama wieder in Fleisch und Blut vor mir saß und nicht einfach nur ein Schatten ihrer selbst war, so wie in meinen Vorstellungen. Vielleicht trug auch Paps' erstaunlich ruhige Stimme, mit der er uns die ganze Sachlage erklärte, dazu bei. Und nicht zuletzt Domenico, der mich fest in seinen Armen hielt.

«Also, wie ihr ja wisst, haben die Untersuchungen ergeben, dass der Tumor an der Bauchspeicheldrüse noch in einem Vorstadium ist und höchstwahrscheinlich operativ entfernt werden kann. Mit der Leber sieht es leider weniger gut aus. Wir haben also zwei Tumore im Körper, anstatt nur einen, wie zuerst angenommen. Der Tumor in der Leber sitzt leider direkt bei einer Arterie, wo man ihn nicht operativ entfernen kann. Dort haben wir nur mit einer Chemotherapie eine Chance. Das Hauptproblem, vor dem wir nun stehen, ist: Wie gehen wir vor? Operieren wir erst und machen dann Chemotherapie, oder umgekehrt? Eine Operation könnte den Körper so schwächen, dass er hinterher die Chemotherapie nicht mehr verkraftet, genauso, wie es umgekehrt der Fall sein könnte.»

Nun konnte Paps ein tiefes Seufzen doch nicht mehr unterdrücken.

«Bei Krebs darf man sich ja nicht allzu lange Zeit lassen. Es muss immer alles sehr schnell gehen. Wir stehen also einerseits enorm unter Zeitdruck, andererseits dürfen wir in dieser heiklen Situation auch nicht überstürzt handeln. Es hängt wirklich alles davon ab, dass wir hier keinen Fehler machen.»

Wieder folgte eine Pause. Und ich kannte diese Unterbrechungen gut genug, um zu wissen, dass darauf eine Hiobsbotschaft folgte.

«Deswegen haben wir uns entschieden, die Behandlung von Doktor Falke in Basel durchführen zu lassen. Er ist einer der besten Fachärzte auf diesem Gebiet und arbeitet in der Schweiz. Ich denke, es ist das Beste, was wir tun können.»

Eine Weile war es ruhig. Noch hatte ich die Quintessenz dieser Nachricht nicht ganz erfasst. Mama wollte gerade etwas einwenden, doch Paps kam ihr zuvor. Seine Stimme klang nun nicht mehr so beherrscht.

«Es wird in jedem Fall eine lange und sehr schwierige Sache werden, und ich …» Nun versagte seine Stimme, und er schaute mich mit schuldbewusster Miene an. «Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll, Maya … Ich habe lange hin und her überlegt, und ich habe … nun, ich habe beschlossen, dass ich mit deiner Mutter nach Basel reisen und ihr in dieser Zeit beistehen möchte. Sie soll das nicht alles allein durchmachen.»

Ich nickte mechanisch, weil ich immer noch nicht ganz kapierte, was das für mich bedeutete. Mein Gehirn war lediglich damit beschäftigt, die Aussage betreffend Mamas Genesungschancen auszuwerten. Domenico, der offenbar bereits verstanden hatte, verstärkte seinen Griff um mich.

Wieder wollte Mama was sagen, und wieder fiel Paps ihr ins Wort.

«Ich … nun, ich kann es mir nicht erlauben, die Fehler zu wiederholen, die ich in den vergangenen Jahren gemacht habe. Mir sind viele Dinge klar geworden. Ich würde jede Sekunde bereuen, die ich nicht … nun ja, falls das hier … schiefgehen sollte …» Paps brauchte nun sein Taschentuch. Ein weiteres Mal holte Mama Luft, und schon wieder war Paps schneller.

«Falls das hier … wirklich … einen Abschied bedeutet, dann möchte ich mir hinterher nicht noch mehr Vorwürfe machen müssen, als ich es jetzt schon tue.»

«Ey, möchtest du sie nicht mal reden lassen?», warf Domenico ein.

«Entschuldige.» Paps wandte sich ganz erschrocken an Mama. «Was möchtest du sagen?»

«Ich wollte nur darauf hinweisen, dass es immer noch Wunder gibt, und dass ich … in erster Linie auf Gott vertrauen möchte. Ich danke ihm für gute Ärzte, und ich weiß, dass Doktor Falke ein hervorragender Arzt ist. Ich bin froh, die Behandlung bei ihm durchführen lassen zu können. Aber letztendlich … möchte ich euch einfach bitten … ja, euch beide, Maya und Nicki … dass ihr in dieser Zeit viel für mich betet. Ich werde es brauchen. Ich habe Angst. Große Angst vor dem, was auf mich zukommt.»

Sie senkte den Blick und kämpfte eindeutig gegen die aufkommenden Tränen. «Ich wünschte, ich könnte das Ganze schlichtweg umgehen, könnte mit dem Finger schnipsen und einfach aufwachen, könnte die Zeit zurückdrehen und mich viel früher untersuchen lassen – aber nun muss ich da durch. Ich habe keine andere Wahl.»

Sie hob ihre Augen wieder, die nun auffällig glänzten – aber sie wollte mich offenbar unbedingt ansehen.

«Zu all dem quält mich der Gedanke, dass ich dich, Maya, nun für mehrere Wochen allein lassen muss … bei Tante Lena … und …»

Mir wuchs ein Kloß im Hals – nicht wegen Tante Lena, sondern wegen dieser tiefen Besorgtheit, diesem Schmerz in Mamas Augen. Ich wollte diese Sorge nicht sehen, ich ertrug sie nicht, sie war die reinste Folter. Sie war der Schmerz, der mich die letzten Tage verfolgt hatte.

Ich wollte ihn bekämpfen, ihn auslöschen; ich wollte nicht nochmals dasselbe Martyrium durchmachen wie vergangene Woche – und auf einmal stieg etwas aus meinem Innern in mir auf, eine wilde, tiefe Entschlossenheit.

Ehe ich mich versah, riss ich mich aus Nickis Umklammerung los und sprang auf die Füße.

«Mama – bitte, bitte mach dir keine Sorgen um mich», flehte ich mit bebender Stimme. «Bitte denk jetzt einfach nur an dich. Ich werde klarkommen mit Tante Lena. Du musst in allererster Linie gesund werden, und ich finde es völlig richtig, dass Paps bei dir bleibt.»

Ja, wenn ich nur einen Wunsch auf dieser Erde frei hätte, dann wäre es der, dass meine Mutter wieder gesund würde. Und wenn das bedeutet hätte, dass ich noch ein Jahr lang bei Tante Lena wohnen musste … dann hätte ich das eben getan! Dazu war ich jetzt fest entschlossen, und diese Entschlossenheit half mir. Ich fühlte mich der Situation nicht mehr länger hilflos ausgeliefert.

«Danke, Maya», sagte Paps. «Das hilft uns sehr.»

Ja, wo vorher Nebel und Verzweiflung geherrscht hatten, regierte nun ein Kämpfergeist, der bereit war, dem Schicksal die Stirn zu bieten. Ja, ich würde beten, dass sich die Balken biegen würden … ich würde das nicht einfach alles so hinnehmen …

Erschöpft ließ ich mich wieder neben Domenico aufs Sofa sinken.

Mama wandte sich nun an ihn.

«Du kümmerst dich doch weiter um sie, Nicki, nicht wahr?»

Er nickte, doch seine Augen zogen sich düster zusammen.

«Wir können ja tagsüber weiterhin hier sein, oder?» Ich schaute Paps erwartungsvoll an. «Nicki kann für mich kochen und mich dann abends zu Tante Lena bringen …»

«Sciatu mia – ich fang am Dienstag mit meinem neuen Job an. Ich bin dann nicht mehr so viel da», sagte Domenico zögernd und legte vorsorglich wieder den Arm um mich. «Ich arbeite dann meistens am Nachmittag und am Abend.»

Das hatte ich komplett vergessen! Aber ich hatte ja sowieso den Überblick über das Leben außerhalb meiner Gedankenwelt verloren und musste mich erst mal wieder neu orientieren.

Doch was sollte ich dann bloß den lieben langen Tag ohne ihn anfangen? Das erschwerte die Sache natürlich ungemein. Trotzdem … ich wollte tapfer bleiben.

«Übrigens, wo wohnst du eigentlich momentan, Nicki?», wollte Mama wissen. «In einer WG?»

«Nee, erst ab Anfang Juli, weil mein Vorgänger 'nen Monat später auszieht als geplant.»

Wie bitte? Auch das hatte ich überhaupt nicht mitbekommen …

«Davon hast du mir gar nichts gesagt», fuhr ich ihn vorwurfsvoll an.

«Du warst doch gar nicht wirklich da.» Er berührte meine erhitzte Wange mit seinen Fingerspitzen.

«Ach ja? Und wo wohnst du denn in der Zwischenzeit?», fragte Mama ganz überrascht. Paps räusperte sich verlegen. Offenbar war ihm klar geworden, dass er Nicki eigentlich etwas schuldig war.

Domenico zuckte mit den Schultern. «Überall 'n bisschen.»

Mama schaute Paps stirnrunzelnd an. «Hat sich da niemand drum gekümmert?»

«Ey, easy.» Domenico schaltete wie üblich auf Abwehr, wenn es um sein eigenes Wohl ging. «Ich hab genug Kumpels und so, bei denen ich mal für 'ne Nacht pennen kann.»

«Hmm.» Mama versank in Gedanken und ließ dabei Domenico nicht aus ihren Augen. Auf einmal blitzte etwas in ihrem Gesicht auf.

«Sag mal, Nicki, du hast uns ja gar nicht erzählt, dass du den Führerschein gemacht hast?»

Domenico schüttelte gekonnt ein paar Haarsträhnen ins Gesicht, um seine Augen dahinter zu verstecken.

«Hab ich auch nicht …», murmelte er mit hochrotem Kopf.

«Nicht? Ist das denn nicht dein Motorrad draußen vor dem Haus?»

«Doch …»

Ein weiteres Leck, das mir erst jetzt auffiel: Ich hatte ihn überhaupt nicht gefragt, woher er das Motorrad eigentlich hatte. Nicki hatte Recht: Ich war letzte Woche wirklich überhaupt nicht da gewesen …

Meine Eltern tauschten einen bedeutungsvollen Blick.

«Ich hab die Kiste von Mike ausgeliehen. Na ja, bis ich halt 'ne eigene hab … Ich wollte doch Maya zur Schule bringen, sie hat doch sonst so 'nen weiten Weg …»

«Ohne Führerschein?» Paps beugte sich mit grimmiger Miene vor. Domenico kniff die Augen zusammen.

«Hab ja vor, ihn zu machen. Melde mich sobald wie möglich in der Fahrschule an.»

Paps schnaubte aufgebracht. «Hör zu, Nicki, ich rechne es dir ja hoch an, dass du dich so um Maya kümmerst, aber würdest du bitte in Zukunft mal etwas mehrdimensionaler denken? Ist dir klar, wie viel Ärger du uns allen einhandelst, wenn meiner Tochter etwas zustößt, nur weil sie mit jemandem rumfährt, der keinen Führerschein hat?»

«Ey … ist mir ja voll klar, aber … sie war doch so fertig. Und ich fahr gut. Brauchst dir echt keine Sorgen zu machen.»

«Das Wort rechtswidrig hast du aber auch schon gehört, oder? Ich meine, das sollte dir ja inzwischen längst ein Begriff sein.» Paps musste sich anstrengen, seine Stimme nicht allzu aufgebracht klingen zu lassen. Mit solchen Aktionen konnte Domenico ihn echt auf die Palme treiben.

«Ey, weiß ich doch alles. Drum will ich ja den Führerschein machen. Hab ich doch gesagt. Ich wollte doch nur …» Nickis Stimme schwankte, und er schloss die Augen.

«Martin, lass gut sein», bat Mama leise.

«Okay, ich will ja nicht weiter schimpfen. Was du machst, geht mich nichts an, aber Maya fährt nicht mit dir mit, solange du illegal herumfährst. Hast du mich verstanden?»

«Ja …», murmelte Domenico.

«Du auch, Maya?»

«Ja …»

«Wie willst du dir den Führerschein finanzieren?», wollte Mama wissen.

«Mal sehen … ein bisschen was kann ich sicher von meinem ersten Lohn abzwacken … und dann schau ich weiter …»

Ich merkte sofort, dass Domenico der Frage auswich.

«Also, ich kann dich finanziell nicht mehr unterstützen», warf Paps sofort ein. «Es tut mir leid. Aber auf uns werden nun sehr große Ausgaben zukommen. Ich möchte die erstklassigste Behandlung für meine Frau haben. Dazu kommt die Unterkunft in Basel und sonst so allerlei. Außerdem muss ich einen Stellvertreter für die Praxis finden und werde selbst die nächsten Wochen keine Einnahmen haben. Wir werden also von unseren Ersparnissen leben müssen.»

«Schon okay», sagte Domenico. «Dass das mal klar ist: Um mich müsst ihr euch keinen Kopf machen, okay?» Er stand auf und verließ den Raum; die vielen Fragen wurden ihm zu brenzlig. Er redete nicht gern über sich selber, das war immer so gewesen und würde sich vermutlich auch nie ändern. Wir alle kannten ihn gut genug, um zu wissen, dass man ihn in solchen Situationen in Ruhe lassen und warten musste, bis er von selbst aus sich herauskam und etwas erzählen wollte.

Paps regelte die letzten Sachen mit mir. Mama machte sich immer noch Sorgen um mich.

«Ein Jammer, dass du nie in einen Kurs oder eine Gruppe gegangen bist», meinte sie. «Dann könntest du dir die Zeit viel besser vertreiben. Ich hoffe doch, dass du dich viel mit deinen Freunden treffen wirst.»

Meine Eltern verstanden das nicht so, aber ich war nun mal eher eine Einzelgängerin. Ich hatte nie das Bedürfnis verspürt, ein Instrument oder Reiten zu lernen oder in einen Sportverein oder eine Pfadfindergruppe zu gehen. Ich wollte neben der Schule und dem Lernen und dem Helfen im Haushalt nicht noch mehr Verpflichtungen haben. Ich hatte mich nun mal in meiner Freizeit immer am liebsten zum Nachdenken und Träumen und Schreiben in mein Zimmer verzogen.