Es war eine ausgemachte Sache, dass Nicki die Nacht hier verbringen durfte, und Paps brachte ihm sogar ein paar Schlafpillen aus der Praxis. Und ich genoss es, zur Abwechslung mal wieder in meinem frühlingsfarbenen Zimmer übernachten zu dürfen, nachdem ich eine Woche lang diese trüben Siebziger-Jahre-Farben bei Tante Lena gesehen hatte.
Meine Eltern waren das ganze Wochenende fast ausschließlich mit Planen und Organisieren beschäftigt. Während Paps sich damit abmühte, einen Stellvertreter zu finden, der so kurzfristig die Praxis übernehmen konnte, packte Mama ihre Sachen und räumte die Wohnung auf, nachdem sie uns mehrmals versichert hatte, dass sie keine Hilfe wünschte. Weil am Sonntag die Sonne in voller Pracht vom Himmel strahlte, schickte sie uns kurzerhand aus dem Haus mit der Aufforderung, dass wir uns einen schönen Tag machen sollten.
Domenico schlug vor, in den Park zu gehen, doch weil ich ja meine Umwelt nun wieder wahrnahm, hatte ich meine eigenen Wünsche. Und in meinem Bewusstsein trat eine weitere Tatsache zum Vorschein, nämlich dass wir vergangene Woche andauernd im Park gewesen waren!
«Können wir zur Abwechslung mal woanders hin?», fragte ich. «Mir hängt der Park ehrlich gesagt langsam zum Hals raus.»
Domenico biss sich auf die Lippen. Seine Augen zeigten das typisch nervöse Flackern, das stets eine bisher verschwiegene Tatsache ankündigte.
«Können wir nicht … als Alternative mal in die Stadt gehen? Zum Dom? Oder am Fluss entlangspazieren?»
«Keine gute Idee», meinte Domenico mit versteinerter Miene. «Da treiben sich die Gangs rum.»
«Aber die können doch nicht überall sein», wandte ich ein.
Er seufzte nur.
«Können wir nicht wenigstens ins Kino? Der Filmpalast ist ja sonntags geöffnet», drängelte ich weiter, obwohl ich bei dem schönen Wetter eigentlich lieber draußen sein wollte. Aber ich brauchte jetzt einfach Leben und hatte das Bedürfnis, mal was anderes zu sehen als immer nur den Botanischen Garten und die ewig gleichen Rentner, die dort spazieren gingen.
«Principessa … echt … na gut. Von mir aus.» Die Idee gefiel ihm nicht, das war mir schon klar. Überhaupt war er seit dem Gespräch mit meinen Eltern mal wieder ziemlich verstimmt.
«Hast du irgendwas?», fragte ich ihn deshalb auf dem Weg zur U-Bahn.
«Nee, warum?» Er schälte scheinbar konzentriert einen Kaugummi aus der Alufolie. Seine Finger zitterten ein wenig.
«Du bist …» Ich schaute ihn an, und als er meinen Blick erwiderte, ging mir endlich ein Licht auf. Noch eine Lücke!
«Du bist auf Nikotinentzug, hab ich Recht?»
Er verdrehte die Augen.
«Schon gut. Das ist doch … super, Nicki!»
Er sagte nichts. Seine Augen drohten mir, ihm im Moment besser nicht zu nahe zu kommen.
Ich schüttelte den Kopf. Dass mir das nicht vorher aufgefallen war! Er war die ganze vergangene Woche auf Entzug gewesen, und ich hatte es nicht bemerkt!
«Wenn du Unterstützung brauchst, sag es bitte», bat ich. Ich wusste, wie schwer es für ihn war, und wollte mein Versäumnis wiedergutmachen.
«Wenn du nicht alles persönlich nimmst und mich ab und zu in Ruhe lässt, ist mir schon gedient», meinte er mit kratziger Stimme.
Bevor wir in die U-Bahn einstiegen, schlüpfte Domenico schnell in seinen schwarzen Kapuzenpullover, den er trotz des warmen Wetters mitgenommen hatte. Ich wusste, dass er darunter seine rötlichbraunen Haare und seine auffällige Tätowierung am Oberarm verstecken wollte – beides Merkmale, die sein Aussehen stark prägten. Garantiert würde ihm jemand über den Weg laufen, den er kannte. So war es ja häufig.
Jedenfalls war während der Fahrt Schweigen angesagt. Domenico musste sich darauf konzentrieren, bei jeder Haltestelle sämtliche Türen im Auge zu behalten. Als bei der hintersten Tür vier Typen in Lederjacken einstiegen, schnellte er wie der Blitz von seinem Sitz hoch.
«Was ist?»
«Genau, was ich vermeiden wollte!» Er drehte sich mit dem Rücken in Richtung der vier Jungs, die langsam näher und genau auf uns zu kamen.
«Tu einfach so, als würdest du mich nicht kennen. Und bleib hier drin. Steig nicht aus. Egal, was ich jetzt mache.» Er sah mich beim Reden nicht an.
Seine nervöse Stimme überzeugte mich, dass es klüger war, ihm zu gehorchen. Ich wandte mein Gesicht zum Fenster und tat, als würde ich in die Dunkelheit des Tunnels starren, aber in Wahrheit beobachtete ich natürlich im Spiegelbild der Scheibe, was da ablief.
Die Jungs hatten Domenico offenbar trotz seiner Maskerade erkannt und blieben direkt vor ihm stehen. Zwei von ihnen hatten glänzende grüne Schlangen auf ihren Lederjacken.
«Ey Tiger! Was machst'n da in unsrem Revier?», dröhnte der Größte unter ihnen, ein Typ mit einer schweren Goldkette und starkem Balkan-Akzent.
Domenico lehnte sich lässig an die Scheibe neben einer Tür. «Das war bis jetzt mein Revier!»
Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Ich fand es immer noch unheimlich, wie er den Ton seiner Stimme in Sekundenschnelle von sanft auf gefährlich umstellen konnte. Mit seinem italienischen Akzent hörte sich das noch krasser an.
«Falsch, Mann! Eure Bande existiert konkret nicht mehr! Jetzt haben wir hier das Sagen.»
«Falsch», konterte Domenico, ohne mit der Wimper zu zucken. «Und wenn ihr keinen Ärger bekommen wollt, würde ich an eurer Stelle subito euren Hintern hier wegschieben.»
Ich sah in der Scheibe, wie ich meine Augen aufriss. Es verblüffte mich immer wieder aufs Neue, was für Nerven aus Stahl Domenico hatte, wenn es darum ging, jemandem aus seiner alten Welt Paroli zu bieten.
Jetzt hörte ich eine andere Stimme – es war ein dreckiges, freches Lachen, das mir durch Mark und Bein ging.
«Ey, Leute, ist doch konkret egal. Tiger ist sowieso bald Geschichte. Gibt da nämlich einige, die ziemlich Interesse dran haben, ihn kaltzumachen.»
Wieder zuckte ich zusammen. Mein Atem hatte die Scheibe beschlagen lassen, weil ich viel zu nahe davor klebte. Schnell wischte ich mit dem Ärmel darüber und merkte erst hinterher, dass das viel zu auffällig war.
Jetzt sah ich, wie Domenico scheinbar gelangweilt an seinem Fingernagel herumknibbelte, als ob ihn die eben gemachte Äußerung überhaupt nichts anging.
«Ey, Tiger!»
«Ja?»
«Haste nicht gehört? Dich wollen 'n paar kaltmachen.»
Domenico zuckte mit den Schultern. «Interessiert mich nicht.»
«Sollte es aber. Schuldest einigen Dealern nämlich noch 'ne Menge Kohle.»
«Müssen die mir erst mal beweisen», sagte Domenico, und ich nahm ihm den desinteressierten Ausdruck sogar ab. «Leute, ich muss hier raus. Wir sehen uns.»
Ich merkte erst jetzt, dass die U-Bahn wieder angehalten hatte. Ehe ich mich versah, war Domenico schon draußen. Ich sah ihn durchs Fenster Richtung Rolltreppe verschwinden. Auch die vier Typen waren offenbar über seinen schnellen Abgang verblüfft und stierten ihm nach. Die Türen schlossen sich wieder, und die Bahn setzte sich in Bewegung. Ich tat, was er mir gesagt hatte, und blieb stocksteif sitzen – die schweißnassen Hände auf meinem Schoß.
Ein paar Sekunden lang hatte ich Angst, dass die Jungs irgendwie kapieren würden, dass ich zu Domenico gehörte, aber das war offensichtlich nicht der Fall. Ich rührte mich erst wieder, als die ganze Truppe zwei Stationen später ausstieg.
Sicherheitshalber blieb ich noch ein paar Stationen lang sitzen und stieg erst aus, als die Bahn den Tunnel verließ und wieder oberirdisch fuhr.
Nun stand ich hier irgendwo in einem Vorort und überlegte, was ich tun sollte. Ich holte mein Handy hervor und starrte es unschlüssig an. Machte es Sinn, Nicki anzurufen und ihn zu fragen, wo er steckte? Oder unterließ ich das besser? Ich hatte ja keine Ahnung, mit wem er sich gerade herumschlug. Das waren die Momente, in denen ich mir wünschte, mit einem normalen Jungen befreundet zu sein, der ein ganz gewöhnliches Leben führte. Oder wo ich sogar ein langweiliges Leben in Kauf genommen hätte anstelle dieses ewigen Nervenkitzels …
Die gleich darauf folgende SMS von Nicki nahm mir die Entscheidung ab.
Geh heim. Muss dringent was checken. Komme speter. Nicki
Damit fiel also unser schöner Nachmittag ins Wasser.
Auf der Heimfahrt hatte ich genügend Zeit, erneut meinen Luftschlössern nachzuhängen. Es war eine Illusion, zu glauben, dass die Freundschaft mit Domenico nach seiner Therapie auf einmal ohne Schwierigkeiten verlaufen würde. Dazu stand er immer noch zu sehr mit einem Fuß in seiner alten Welt.
Als ich den Flur betrat, hörte ich leise Klänge aus Mamas Klavierzimmer. Sofort hielt ich inne und wagte mich keinen Schritt mehr vor.
Wie lange hatte ich sie schon nicht mehr spielen gehört!
Vorsichtig lehnte ich mich an die Wand im Flur, sorgsam darauf bedacht, keinen Lärm zu machen. Ich wollte keinesfalls, dass Mama ihr Klavierspiel unterbrach, nur weil sie mich gehört hatte. Paps schien sich drüben in seiner Praxis aufzuhalten, denn ich wusste, dass Mama am liebsten musizierte, wenn sie allein war.
Auf einmal drang diese schreckliche Idee in mein Bewusstsein, dass es vielleicht das allerletzte Mal war, dass sie an diesem Klavier saß und spielte … Hörte sich diese Melodie eben nicht an wie ein verzweifelter Hilfeschrei zu Gott?
Wie auf Kommando stiegen die Bilder aus meiner Kindheit wieder in mir hoch … und das gab mir den Rest! Bevor die Tränen aus meinen Augen purzeln konnten, flüchtete ich schnell hinauf in mein Zimmer und igelte mich ein. Ich kroch unter die Decke, und dort blieb ich liegen, bis Domenico nach einer gefühlten Ewigkeit mein Zimmer betrat.
Ich wühlte mich wieder aus der Decke heraus und sah ihn an. Er war zögernd bei der Tür stehengeblieben und schaute bestürzt auf mich runter.
«Darf ich?», fragte er leise.
«Klar.»
Er fragte nicht, was los war, sondern kam zu mir und setzte sich zu mir aufs Bett. Ich warf die Decke beiseite, damit ich mich an ihn lehnen konnte. Schon ging es mir besser, und der Anflug von Traurigkeit verflüchtigte sich wieder. Schließlich hatte ich mir doch vorgenommen zu kämpfen …
Zudem mischte sich nun auch pure Neugier in meinen Gemütszustand, und darüber war ich sehr froh. Ich war über jedes Gefühl froh, das nichts mit der Trauer um Mama zu tun hatte.
Ich wollte nämlich unbedingt wissen, was Domenico vorhin getrieben hatte.
«Was waren das für Jungs?», fragte ich.
«Snakes», erwiderte er knapp.
«Die Gang von Janet?»
«Janet ist nicht mehr der Boss.» Er wandte sein Gesicht ab und starrte offenbar konzentriert aus dem Fenster, aber das nahm ich ihm nicht ab.
«Und wer ist nun der Boss?» Ich würde ihm die Würmer aus der Nase ziehen müssen.
Er stöhnte leise.
«Bitte, lass es mich wissen», bat ich nachdrücklich.
«Ist … nicht wichtig …»
«Du hättest nicht gestöhnt, wenn es nicht wichtig wäre.» Ich hatte keine Lust, mit noch einem Steinchen mehr im Schuh herumzulaufen.
Er seufzte tief auf und sah mich endlich für eine kurze Weile an.
«Die Snakes … haben sich während meiner Abwesenheit mit einem der Drogenclans verbündet. Bei denen hat Mingo noch einige Schulden offen. Irgendwie hat sich das jetzt alles zugespitzt, falls du kapierst, was das für mich bedeutet.»
Schon war sein Blick wieder weg und stattdessen auf seine Jeans gerichtet, die ausnahmsweise in einem intakten Zustand waren. Ich hätte gern weiter in seine Augen geschaut, aber das ging nicht. Er wusste offenbar um die Intensität seiner Blicke. Mein heimlicher Verdacht war, dass er sich auch deshalb seine Haare immer lang ins Gesicht hängen ließ.
«Du meinst, die wollen dir ziemlich an den Kragen?»
«Exakt. Inzwischen wissen die ja alle, dass die Xenon-Tigers sich aufgelöst haben und ich keine Rückendeckung mehr hab.»
«Aber was für Schulden sind denn noch offen? Es geht doch nicht mehr um diese zweihundert Euro, oder?»
Er lachte bitter auf. «Maya … Mingos Schulden sind weit größer als diese verflixten zweihundert Euro.»
«Aber ich dachte, du hättest einiges abbezahlt? Du hast dir doch ziemlich viel bei Paps abverdient …»
«Schon …» Er konzentrierte sich darauf, einen losen Faden aus seiner Jeans zu ziehen. Schließlich raffte er sich zu seinem letzten Geständnis auf und dazu, mich wieder anzusehen.
«Fakt ist, das kann man nicht einfach so abzahlen. Es ist … ich nenn dir lieber keine Zahl. Es ist eh unmöglich.» Seine Stimme klang ziemlich gepresst.
«Wieso hast du uns das nie gesagt?» Ich berührte vorsichtig seine Wange.
Er schloss die Augen. «Weil ich euch doch alle nicht in meine Vergangenheit mit reinziehen will. Das ist allein mein Problem.»
«Und was machst du jetzt damit?» Langsam wurde mir klar, dass wir es hier wirklich mit einem ernsthaften Dilemma zu tun hatten.
«Jetzt? Mal sehen. Ich regel das schon irgendwie.» Er widmete sich wieder dem Faden an seiner Jeans, den er immer noch nicht abgerissen hatte.
«Was ist eigentlich mit Mila und ihrer Gang?», fragte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend. Ich konnte mich noch zu gut an das wuchtige Mädchen erinnern, das mich noch vor Nickis Therapie in Italien und unserer Norwegen-Reise mit ihrer Bande in den Fluss geschubst hatte. Ich hatte keine große Lust auf eine weitere Begegnung mit ihr.
«Steckt die nicht auch mit den Snakes unter einer Decke?»
Er winkte ab. «Ach … von der fang ich lieber gar nicht an zu reden. Aber hab keine Angst. Wenn die dir jemals wieder ein Haar krümmt, ist sie Geschichte. Aber deswegen will ich ja nicht unbedingt mit dir in der Stadt rumhängen», erklärte er. «Verstehst du das nun? Die wissen alle, dass ich keine Clique mehr hab. Früher hatten die noch Respekt vor mir, weil ich sie durch einige Deals in der Hand hatte. Ich bin da ziemlich gut drin. Aber jetzt …»
«Dass du mir das nie erzählt hast!» Ich wunderte mich immer wieder darüber, wie wenig ich über sein früheres Leben wusste.
«Ich will halt nicht, dass du was damit zu tun hast, kapier das doch endlich! Ich will mit dieser kranken Vergangenheit endlich abschließen!»
Der gequälte Unterton in seiner Stimme signalisierte mir, dass er nicht mehr viele Fragen ertrug. Trotzdem musste ich ihm noch eine stellen.
«Eine letzte Frage noch: Was musstest du checken?»
«Na, ein paar Sachen eben. Was so läuft. Bin halt nicht mehr ganz up to date.»
Eine ziemlich lange Weile blieben wir einfach so sitzen, schweigend und aneinandergelehnt. Als er mir wieder seinen Blick zuwandte, hatten sich seine Augen verändert. Wo vorher nervöse und zornige Funken getobt hatten, flackerte nun ein weiches und zaghaftes Flämmchen. Seine Augen wirkten auf einmal zerbrechlich wie Glas.
«Sag mal … wie ist das eigentlich?», fragte er zögernd. «Sicura ca … äh, ich mein, bist du sicher, dass du … trotzdem wieder … richtig mit mir zusammen sein willst?»
Wir schauten einander stumm in die Augen. Sahen beide das empfindlich zarte Netz, das von neuem zwischen uns gewoben wurde.
Obwohl mir das mit den Schulden und diesen Gangs ernsthafte Sorgen bereitete, konnte ich nicht anders, als zu nicken.
«Wirklich?» Sein Gesicht zuckte angespannt.
Ich nickte wieder, diesmal etwas zaghafter. Sein Blick schnitt mich mal wieder um ein Haar mitten entzwei.
«Weißt du, ich … hab einfach keinen Bock, für dich nur 'n Abenteuer zu sein», zischte er mit zusammengebissenen Zähnen. «Drum sag's lieber jetzt gleich ehrlich, wenn du nicht mehr willst. Ich möchte nämlich nicht, dass du mich dann wieder verlässt, weil es dir zu viel wird oder so.»
Ich konnte fast körperlich spüren, wie sehr er bei dem Gedanken daran litt. Es ging mir durch Mark und Bein. Eine völlig neue Erkenntnis stieg in mir hoch.
Er war nicht mehr der Tiger, der einfach aus meinem Leben verschwinden und mich zerbrechen konnte, so wie früher. Nein, er war nun der Tiger, der sein «Nest» gefunden hatte und bleiben wollte …
Das Blatt hatte sich gewendet …
«Ich versprech dir, dich vor den Gangs zu schützen», flüsterte er heiser. «Dir wird nix passieren, das schwör ich dir.»
Das Flehen in seiner Stimme ließ mein Herz erzittern, weil ich es genau übersetzen konnte. Es drückte aus, wie sehr er auf eine Antwort wartete.
«Ich habe doch in Norwegen gesagt … dass ich es mir wünsche, auch wenn es eigentlich unmöglich ist», wiederholte ich leise die Worte, die direkt aus meinem Herzen aufstiegen. Ich streckte meine Hand aus und spielte mit der Holzperlenkette, die ich ihm mal geschenkt hatte und die er zusammen mit seinem Tigerzahn um den Hals trug.
«Aber du musst mir versprechen, dass du nicht kriminell wirst oder so. Dass du dir einen guten Weg einfallen lässt, wie du das mit den Schulden regelst.»
«Klar. Mach dir mal keine Sorgen», murmelte er. «Und ich werd dich auch aus allem raushalten.»
«Könntest du nicht Morten um Hilfe bitten?», sprach ich den leisen Einfall aus, der mir eben in dieser Sekunde kam.
Doch davon wollte Domenico ganz und gar nichts wissen.
«Nee … meinst du, der hat Bock auf einen Sohn, der sich bei Drogendealern verschuldet hat? Nee, das braucht der gar nicht zu wissen … bin schon froh, dass er mir die Ausbildung finanzieren will. Ich glaub nicht, dass ich mehr verlangen kann.»
Ich unterließ es, ihn ein weiteres Mal zu fragen, wie er das denn anstellen wollte. Aber ich musste mir eingestehen, dass es mich mehr beunruhigte, als mir lieb war – nicht zuletzt, weil ich genau durchschaute, dass er die Lösung für sein Problem selbst noch nicht wusste.
Er spürte, dass ich Angst hatte.
«Hey», sagte er sanft. «Komm her.» Er breitete seine Arme aus, und ich legte mich vorsichtig hinein.
Er liebkoste mich zärtlich. «Brauchst doch keine Angst zu haben, bedda mi'.»
Ich lehnte mich an ihn und ließ mich von ihm streicheln. Ja, da waren nach wie vor so viele Dinge zwischen uns, die nicht geklärt waren.
Ich dachte an seinen Absturz vor der Therapie, wo er mich dauernd angebrüllt und sich selber mit dem Messer geschnitten hatte. Es war zwar schon über ein halbes Jahr her, aber noch immer konnte ich die Erinnerungen daran sehr lebendig werden lassen. Natürlich wollte ich das nicht noch ein weiteres Mal erleben. Ich musste auch an das denken, was meine ehemalige Klassenlehrerin, Frau Galiani, mir immer wieder gepredigt hatte: Dass es sehr, sehr schwierig sein würde, in Domenico je ganz stabile Gefühle aufzubauen. Dass der Tiger sein Nest gefunden hatte und bleiben wollte … hieß das auch, dass er es wirklich für immer tun würde? Wie schnell konnte sich die Situation wieder ändern?
Aber ich hatte gar keine Kraft, mir über all das Gedanken zu machen. Außerdem war es einfach zu schön, in seinen Armen zu liegen und von ihm liebkost zu werden. Ich wollte das nicht aufgeben und auch nicht verlieren. Ich konnte ja sowieso weder an die Zukunft noch an mein eigenes Leben denken momentan. Genau genommen konnte ich nicht weiter denken als bis zum nächsten Tag. Denn wohin sollten meine Wünsche auch gehen, ohne Mama?
Also wollte ich momentan nur eins: In Nickis Armen liegen.
«Ich möchte nicht, dass du mich verlässt», hauchte er mit heiserer Stimme in mein Ohr. «Ich brauch dich so, ey … Cori mia, ich werde dir alles geben, was mir möglich ist.»
Seine Lippen streiften meine Haut, wanderten hinunter zu meinem Hals und verharrten dort, direkt auf meiner empfindsamsten Stelle, die, wenn er sie nur ein bisschen berührte, mindestens einen 1000-Kilowatt-Stromstoß durch meinen Körper jagte. Er saugte ein wenig an meiner Haut, und es war so berauschend schön, dass ich in dem Moment auch Ja zu ihm gesagt hätte, wenn er für die nächsten zehn Jahre in den Knast gewandert wäre. Seine warme Hand lag auf einmal unter meinem T-Shirt auf meinem nackten Bauch. Als ich in mir eine drohende Ohnmacht aufkommen fühlte, war ich gezwungen, von ihm abzurücken.
Er grinste nur. «Du bist so unbeschreiblich süß. Ich brauch ja kaum was zu machen, und schon kippst du fast um.»
«Ja, vielen Dank», knurrte ich und schämte mich meiner Schwäche.
«Ich liebe es doch», flüsterte er lächelnd und nahm meine Hand. Sachte schob er sie unter sein T-Shirt und legte sie auf seinen Bauch. Ich spürte, wie es unter seinen Narben pochte. Ganz sanft streichelte ich über die Unebenheiten.
Er drückte sich fest an mich. Täuschte ich mich, oder bebte er innerlich?
«Du hast so schön kühle Hände», sagte er leise.
«Willst du nicht dein T-Shirt ein bisschen hochziehen?», fragte ich vorsichtig. «Ich könnte dich besser streicheln.»
«Nein», sagte er nur.
Meine Hand machte Halt, als ich mit meinen Fingern etwas ertastete, was sich nicht nach Haut anfühlte.
«Was ist das?»
«Nikotinpflaster.»
«Oh … wie geht es dir mit dem Entzug?»
«Süße, ich will nicht zählen, wie oft ich jetzt schon 'nen Entzug durchgemacht hab», stöhnte er. «Mal abgesehen von dem lästigen Husten nachts und dass ich manchmal die Wände raufgehen könnte, ist das inzwischen easy. Das Problem ist nicht mehr das Aufhören … darin hab ich langsam Übung. Das Problem ist, nicht wieder anzufangen …»
«Wenn ich dir irgendwie helfen kann …» Instinktiv wollte ich meine Hand wieder unter seinem T-Shirt hervorziehen.
«Lass sie noch 'ne Weile da», murmelte er.
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Etwas später rollten wir uns beide auf meinem Bett zusammen und verschliefen, fest ineinander verkeilt, einmal mehr den Rest des Nachmittags.
Ich ahnte, dass es für lange Zeit das letzte Mal sein sollte, dass ich in meinem eigenen Zimmer übernachtete.
Paps hatte tatsächlich dank seinen Beziehungen in Rekordzeit einen Stellvertreter für die Praxis gefunden, und meine Eltern hatten vor, Dr. Ulrich noch am Montag früh zu treffen und ihn einzuführen, bevor sie gegen Mittag abreisen würden.
Sie würden also nicht mehr da sein, wenn ich aus der Schule kam. Deswegen musste ich mich noch an diesem Abend vor dem Zubettgehen ausgiebig von Mama verabschieden – fürs Erste zumindest. Paps hatte mir jedoch versichert, dass ich sobald wie möglich für ein Wochenende zu ihnen nach Basel würde reisen dürfen.
Mama war gerade am Packen der letzten Kleinigkeiten, als ich spätabends zu ihr ins Schlafzimmer tappte. Und ich war ziemlich platt, als sie ohne Umschweife eine Sache ansprach, die sie offenbar ziemlich beschäftigte. Ich wusste nicht, wie sie so abrupt darauf kam – bis ich mich in ihrem Kommodenspiegel betrachtete und mit Schrecken feststellte, dass mein Haar ziemlich verstrubbelt war. Ich hatte vorhin eben noch ein bisschen mit Nicki geknutscht.
«Sag mal, Kind, hast du inzwischen mit Nicki geschlafen?»
Ihre braunen Augen schauten mich mit einem gewissen mütterlichen Ernst an. Aber anders als manchmal bei Paps oder Tante Lena wäre es mir nie eingefallen, ihr eine patzige Antwort zu geben.
«Nein», sagte ich wahrheitsgetreu.
«Gut. Aber ich weiß, dass es dir langsam unter den Nägeln brennt, nicht wahr? Und ich weiß auch, dass weder Paps noch ich euch daran hindern können – auch nicht mit tausend Verboten. Doch ich möchte dir trotzdem als Mutter noch einen guten Rat geben. Darf ich?»
«Klar.» Nie im Leben hätte ich einen von Mamas Ratschlägen abgewiesen.
«Ihr seid ja nun wieder richtig zusammen, hab ich Recht?»
Natürlich, Mama sah alles …
«Ja», sagte ich etwas zögernd.
«Weißt du, als Mutter ist es mir schon sehr wichtig, dir etwas mitzugeben, weil ich nicht möchte, dass du irgendwie enttäuscht und verletzt wirst.»
Wir setzten uns auf ihr Bett, und ich hörte ihr zu.
«Schau, das erste Mal mit einem Mann zu schlafen ist etwas ganz Besonderes. Vor allem, wenn es noch der Mann deines Lebens ist, für den du bewusst gewartet hast. Es ist einmalig. So bedeutend und wertvoll. Du wirst dich immer daran erinnern. Und … nun ja, es kann dich in deinem sexuellen Erleben auch prägen. Zum Negativen wie zum Positiven. Ich kenne viele Frauen, die schwärmten für irgendeinen Mann und gingen mit wahnsinnig großen Erwartungen in ihr erstes Mal, ja teilweise sogar mit unrealistischen Übererwartungen. Etliche meinten, das erste Mal wäre schön und lustvoll, das Nonplusultra, und mussten dann feststellen, dass es je nach Partner durchaus schmerzhaft und sehr unangenehm sein kann, in mancherlei Hinsicht. Und andere waren mit Männern zusammen, denen es wirklich nur um die eigene Befriedigung und um die eigene Sexualität ging. Mit Männern, die vom seelischen und körperlichen Erleben einer Frau und ihrer ganzen Gefühlswelt wenig bis gar keine Ahnung hatten. Und davon im Grunde auch gar nichts wissen wollten.»
Mama machte eine kleine Pause und strich dabei gedankenverloren ihre Bettdecke glatt.
«Dass das bei einer Frau körperlich und seelisch alles zusammenhängt, miteinander verbunden ist auf ganz spezielle Weise, wie auf der Rückseite die verwobenen Fäden eines handgeknüpften Teppichs, das war denen ganz egal. Manche von diesen Männern waren grob und aggressiv oder forderten im Bett abstruse Dinge, die ihnen diese Frauen eigentlich in dieser Form niemals geben wollten und die sie auch nie mitmachen wollten. Oft ging's auch nach dem Motto: Rein. Raus. Fertig. Danke und adieu. Und das war's dann. Für eine Frau unendlich frustrierend. Deswegen ist es so wichtig, dass du dabei nicht enttäuscht und vor den Kopf gestoßen wirst.»
Mama dachte wieder einen Moment lang nach, dann fuhr sie fort: «Es wäre für mich wirklich schön zu wissen, dass du da in den Händen eines sensiblen, verständnisvollen und eben auch liebesfähigen Mannes landest. Bei einem, der sich über die körperlichen Abläufe bei einer Frau auch schon mal ein paar Gedanken gemacht hat. Und für den Sexualität und Liebe irgendwie noch zusammengehören, auch wenn das jetzt vielleicht etwas altmodisch klingt. Ich meine, es ist für eine Frau einfach schön, wenn sie sich voll hingeben darf. Und wenn sie vorher schon weiß, dass der Mann sich hinterher immer noch für sie interessiert und nicht findet, das Schaf sei jetzt erlegt, die Beute sei gerissen, der Fall sei damit erledigt und er müsse sich jetzt wieder vom Acker machen. Das hört man ja oft … Also, ich möchte einfach, wenn ich das so sagen darf, dass du den Sex so positiv erlebst, dass er dir dann ein Leben lang Freude machen kann. Ich habe zu viele Freundinnen und Bekannte, bei denen nach den ersten Malen genau das Gegenteil eingetreten ist. Besonders in meiner Generation …»
Ihre braunen Augen ruhten fest auf mir, und einmal mehr glaubte ich, darin mein Spiegelbild zu erkennen.
«Ich habe Nicki wahnsinnig gern, das weißt du ja. Und ich weiß, dass er ein extrem sensibles Herz hat, was sehr erstaunlich ist für einen Jungen, der so viel durchgemacht hat wie er. Du erinnerst dich ja, dass er und ich recht viel Zeit miteinander verbracht haben, als er damals bei uns gewohnt hat. Er hat nie mit mir darüber geredet, auch übers Thema Sexualität natürlich nicht, und ich habe auch keine Ahnung, was da alles vorgefallen ist. Aber er muss auf diesem Gebiet sehr viele Enttäuschungen erlebt haben.»
Ich nickte zustimmend – ja, das wusste ich selber, und es war ein Thema, das auch ich gern verdrängte.
«Ich habe den festen Verdacht, dass vieles auch mit seiner Mutter zusammenhängt, die ihm ja in dieser Hinsicht nie ein Vorbild sein konnte. Wie auch immer, ich wünsche mir, dass er das zuerst aufarbeitet, bevor ihr beide zusammen überhaupt je euer erstes Mal habt. Und dass er mit dir auch offen darüber redet. Ich wäre froh, wenn du darauf bestehen würdest. Und auch darauf, dass er sich vorher auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lässt. Und einen Aids-Test macht. Sicher ist sicher. Vielleicht könnte er ja sogar mit Hans Siebold darüber sprechen. Ganz zu schweigen natürlich davon, dass ihr, falls es je dazu kommt, an eine umsichtige Verhütung denkt. Aber für so vernünftig halte ich dich, also erspare ich mir weitere Aufklärungsphrasen.»
Mama hatte Recht. Es wurde wirklich langsam Zeit, sich damit zu befassen – insbesondere weil ich selber spürte, wie meine Hormone zunehmend anfingen, sich ziemlich ungestüm zu gebärden.
«Trotzdem, Maya, es soll einfach nochmals gesagt sein: Martin und ich … nun, wir wären natürlich glücklich, wenn du dir diese letzten Bereiche der Sexualität für die Ehe aufsparen würdest. Aber dieser Ball liegt jetzt bei dir. Und dass es in meinem eigenen Leben vor Martin bereits einen Traumprinzen und so manchen Murks gegeben hat, das weißt du ja, das ist kein Geheimnis …»
«Ja, Mama, schon klar …»
«Du wirst deinen Weg schon finden. Ach, und apropos Hans Siebold: Ich habe heute mehrmals versucht, ihn anzurufen, weil ich nicht möchte, dass du hier ohne Beistand sein musst. Ich wünschte, dass du jemanden zum Reden hast, wenn du in Not bist. Leider konnte ich ihn nicht erreichen, aber ich gebe dir seine Telefonnummer. Ruf ihn einfach ungeniert an, ja? Er hört dir gern zu, das weiß ich. Und Nicki auch.»
Dann gab Mama mir noch ein paar allgemeine Ermahnungen mit sowie auch die Bitte, in der Schule trotz allem gut mitzumachen. Ich nahm es mir zu Herzen. Ich wollte alles dazu beitragen, dass sie sich keine Sorgen um mich machen musste.