7. Nichts als Ärger

Zu meiner Erleichterung verkündete Paps mir schon am Montag, dass Mama voraussichtlich den übernächsten Donnerstag – also in der letzten Juniwoche – operiert werden konnte. Er wollte sogar persönlich in der Schule anrufen und eine Woche Sonderurlaub für mich beantragen. Dann könnte ich nämlich gleich hinterher in Basel bleiben und die Sommerferien mit meinen Eltern verbringen. Wenn alles gutging …

Was also bedeutete, dass der Tag der Entscheidung mit Riesenschritten näher rückte und meine innere Unruhe wuchs. Und dass ich dringend etwas tun musste, um nicht durchzudrehen.

Domenico wurde ganz von seinem Job in Beschlag genommen – offenbar lockte das wieder wunderschön gewordene Wetter besonders viele Gäste an. Für mich hieß das, dass ich mir am Nachmittag die Zeit ohne ihn um die Ohren schlagen musste. Um mich irgendwie sinnvoll zu beschäftigen, beschloss ich, mich ein wenig um Manuel zu kümmern. Nicki würde bestimmt froh darum sein, und auch Carrie würde nichts dagegen haben. Im Gegenteil …

Als ich in ihr Zimmer trat, war sie gerade dabei, sich zur Abwechslung mal wieder zu stylen.

«Hi, komm rein!», rief sie mir zu und knetete sich eine dicke Portion Gel in ihre zotteligen Haare.

«Was machst du da?» Ich war so erstaunt, dass ich gar nicht merkte, wie blöd diese Frage eigentlich klang. Aber dass Carrie sich mal wieder zurechtmachte, gehörte schon länger nicht mehr zum Alltag.

«Na, was wohl? Geh aus. Kannst den Kleinen nehmen, hab ihm grad 'ne frische Windel angezogen.» Carrie schlurfte zu ihrem Schrank und musste erst mal den halben Inhalt ausräumen, ehe sie fand, was sie suchte: zwei dicke, schwere Silberketten mit Totenkopf- und Peace-Zeichen.

«Was meinste? Kann ich so gehen?» Sie hängte sich die beiden Ketten über den Kopf. In ihren schwarzen Leggins und dem XXL-Pulli, der ihr kaum bis über die Hüften reichte, sah sie ziemlich unförmig aus.

«Ähm … vielleicht solltest du … ein längeres Oberteil anziehen?», meinte ich taktvoll.

«Hab keins», murmelte sie. «Komm ja kaum dazu. War furchtbar im Stress letzte Woche. Der Kleine hat die ganze Zeit wie am Spieß gebrüllt wegen seinen Zähnchen.» Sie ging zum Kühlschrank und holte sich eine Dose Bier raus. Ich wollte ihr schon einen strengen Blick zuwerfen, doch sie nahm mir sofort den Wind aus den Segeln.

«Jaaa, ich weiß, ich sollte nich. Fang du bloß nich auch noch an, mich vollzuquatschen deswegen!»

«Ich hab ja nichts gesagt …»

«Reicht schon, wenn Nic ständig rumstresst. Ey, du kriegst gar nich mit, wie der manchmal eklig is zu mir …»

Ich seufzte. Ich hatte nun wirklich keine Lust, als Vermittlerin für die Fehden zwischen Carrie und Nicki hinzuhalten. Aber wenn Carrie mal zu jammern angefangen hatte, hörte sie so schnell nicht wieder auf.

«Nee, ehrlich. Alles will der mir vorschreiben, ey. Was ich dem Kleinen anziehen und was ich ihm zu essen geben und was ich kochen soll und blablabla! Als ob ich das nich selber wüsste! Sogar wenn ich mich in meiner Freizeit mit meinen Freunden treff, motzt der nur rum, von wegen, ich soll mich nich mehr dort aufhalten und so weiter. Nee, oder? Kann doch nich sein, ey!»

Ich schwieg. Domenicos Hang zum Rumkommandieren war mir zu gut bekannt, und gewiss übertrieb er es, was Carrie anging, obwohl er in manchen Fällen wirklich Recht hatte. Trotzdem. Das konnte in Zukunft echt noch heiter werden …

«Ey, der muss ja nich seine ganze schlechte Laune an mir ablassen, oder? Kann doch auch nix dafür, dass er auf Nikotinentzug is. Außerdem braucht der gar nix zu sagen mit seinem Weiberverschleiß», machte sie ihrer Wut weiter Luft, während sie einen kräftigen Schluck Bier in sich hineinschüttete.

«Das mit dem Weiberverschleiß ist aber vorbei», bemerkte ich streng. «Das darfst du ihm nicht mehr anlasten.»

«Okay, is ja gut … aber trotzdem, ey. Er soll mal nich ständig so tun, als ob ich 'ne unfähige Mutter sei. Hab den Kleinen doch auch lieb!» Sie stellte das Bier wieder in den Kühlschrank und holte Manuel aus dem Laufstall.

«Da, Manolito, kannst dir 'nen schönen Nachmittag mit Tante Maya machen, während Mama mal 'n bisschen mit Freunden ausgeht.»

Ich knurrte. Tante Maya! Hatte sie nicht mehr alle?

Während ich Manuel in den Buggy setzte, schimpfte Carrie noch ein bisschen vor sich hin, scheuchte Razor von seinem Schlafplatz auf und suchte in ihrem Durcheinander nach irgendwelchen vermissten Dingen.

Ich war froh, als ich mit Manuel draußen war. Ich hatte keine Ahnung, wie sich dieser Konflikt weiterentwickeln würde, doch ich befürchtete, dass irgendwann mal eine zünftige Explosion anstehen würde. Der Tiger würde sich niemals besänftigen lassen, wenn es um seinen Schützling ging …

Zum ersten Mal in diesem Sommer ging ich endlich ins Schwimmbad. Auch wenn sich der Besuch darauf beschränkte, mit Manuel im Kinderbecken herumzuplanschen, genoss ich die Abwechslung. Allerdings vermisste ich Nicki, und ich hätte wieder einmal viel darum gegeben, einen normalen Jungen zum Freund zu haben, mit dem man unbeschwert Sachen unternehmen konnte. Aber es half nichts – die Dinge waren nun mal, wie sie waren.

Ich ging ab jetzt fast jeden Nachmittag mit Manuel ins Schwimmbad. Carrie war es sehr willkommen, dass sie dafür umso mehr Zeit bei ihren Junkie-Freunden verbringen konnte, zumal ich Manuel jeweils direkt Domenico übergab, sobald dieser Feierabend hatte. So hatte Carrie praktisch den ganzen Tag frei.

Ich mischte mich in Carries Angelegenheiten nicht ein; ich hatte beschlossen, dieses Problem Nicki zu überlassen.

Da für Freitag wieder kühles und windiges Wetter gemeldet war, beschloss ich, mit Manuel einen Ausflug in die Stadt zu machen. Ich war mir zwar bewusst, dass das ganz und gar nicht in Nickis Sinn war, aber irgendwie war ich der Meinung, dass er es doch ein wenig übertrieb mit seiner Fürsorglichkeit. Außerdem war er ja nicht dabei – also konnte ich mich doch wohl unbeschadet in der Stadt aufhalten. Ich brauchte ja nicht ins Revier der Gangs zu gehen. Nicki hatte mir nämlich mal genau erklärt, von wo bis wo die Reviere gingen; ich wusste also Bescheid. Trotzdem … er brauchte es ja schließlich nicht zu wissen.

Ich fuhr von Carrie aus direkt mit der U-Bahn zum Dom und stieg dort aus. Ich wollte erst da oben rumhängen und die Aussicht über den Fluss und die Stadt genießen. Außerdem gab es hier ein paar Rasenflächen, auf denen Manuel herumkrabbeln konnte. Domenico übte gerade mit ihm das Gehen, aber der Kleine schaffte jedes Mal nur ein paar Schritte. Dann fiel er schon wieder hin und zog einen Schmollmund.

Während ich ein wenig mit Manuel spielte und ihm bei seinen Gehversuchen zusah, stellte ich mir Nicki und Mingo als kleine Jungs auf Sizilien vor. Wer hatte ihnen wohl damals das Gehen beigebracht? Mamma Rosalia, die Nonne, bei der sie aufgewachsen waren?

Als Manuel genug von der Krabbelei hatte, setzte ich ihn wieder in den Buggy. Der Wind wurde stärker, doch ich hatte keine Lust, deswegen umzukehren. Ich schaute hinunter auf den silbergrau schimmernden Fluss. Ich hatte vor, auf die andere, sichere Seite des Flusses zu gehen, doch dazu musste ich erst noch ein kleines Stück Richtung Brücke einschlagen – was dem Gebiet der Gangs allerdings schon gefährlich nahe kam.

Andererseits – wer von denen kannte mich wirklich? Dass sich Mila ausgerechnet jetzt hier herumtreiben würde, wäre ja wirklich ein blöder Zufall … und Janet war ja angeblich nicht mehr Boss von den Snakes. Woher sollten die restlichen Snakes denn wissen, wie ich aussah?

Ich hatte ja eh einst beschlossen, die ängstliche Maya über Bord zu werfen, also schob ich den Buggy mit Manuel zielstrebig Richtung Brücke. Ein paar Mädchen kamen mir entgegen, doch ich beachtete sie nicht, sondern tat sie lediglich als harmlose Passantinnen ab.

Bis ich auf einmal von ihnen umringt war.

Ich schaute nach rechts und nach links und sah in lauter unbekannte Gesichter, und ich dachte erst, dass es sich hier um einen Scherz handelte.

«Ähm … tschuldigung … darf ich hier durch?», fragte ich höflich.

Ein dickes dunkelhäutiges Mädchen, das laut schmatzend auf einem Kaugummi herumkaute, baute sich vor mir auf und trat mir auf den Fuß.

«Wer bist du?»

«Ähm … sorry, ich glaub, ihr verwechselt mich.»

«Ey, das ist doch der Kleine vom Skeleton.» Das dicke Mädchen dachte nicht daran, den Weg wieder freizugeben. «Ich kenn den. Carrie hängt ja ständig mit ihm am Bahnhof oder beim Park rum.»

«Ja, und?», fragte ich und verwünschte in dem Moment Manuels rötliches Haar, das er von seinem Vater Mingo geerbt hatte. Damit fiel er natürlich überall auf. Auch die Augen und das Näschen konnten den Vater nicht verleugnen. Mingo war ja, genau wie Domenico, nur zu gut bekannt gewesen in der Szene …

«Gehörst du zu den Xenon-Tigers?», fragte das Mädchen lauernd.

«Nein … die … die haben sich aufgelöst …»

«Woher weißt du das?»

«Nur … nur so …»

Wie auf Kommando scharten sich die Mädchen enger um mich. Ich nahm mit Schrecken zur Kenntnis, dass mir jeglicher Fluchtweg verschlossen war. Der Wind pfiff um meine Ohren. Langsam erkannte ich die Gefahr. Das hier war kein Scherz.

«Ich …»

«Das kannste doch gar nicht wissen, wenn du nicht zu denen gehört hast.» Die Dicke ließ eine Kaugummiblase platzen.

«Ich bin … eine Freundin von Carrie …» Instinktiv stellte ich mich neben den Kinderwagen, um Manuel zu schützen, bevor die Mädchen noch näher aufrücken würden. Meine Beine begannen zu zittern. Die Mädchen gehörten zu den Gangs, das war mir nun klar. Wenigstens war Mila nicht dabei.

Jetzt trat eine andere mit pechschwarzem Haar und dick aufgetragenem Make-up hervor.

«He, Moment mal, die kenn ich! Die war mit Tiger zusammen! Ganz bestimmt sogar. Das ist die mit den hässlichen Sommersprossen und …» Sie grinste frech und scannte mich von Kopf bis Fuß. Ihr Blick blieb ungefähr auf der Höhe meines Oberkörpers haften. «… und der Plattlandschaft.»

Ich wurde rot und schaute beschämt an mir runter. Ich wusste ja, dass ich obenherum nicht gerade mit viel Volumen ausgestattet war, aber musste sie das gleich mit der großen Keule anrühren?

«Was? Die war mit Nic zusammen? Kann ja wohl nich sein! Nic steht doch nicht auf Holland!» Ein drittes Mädchen hatte sich nun vorgedrängelt. Sie trug trotz des ungemütlichen Wetters ein knallenges T-Shirt mit weitem Ausschnitt und schwenkte triumphierend ihre eigene Oberweite.

Die Schwarzhaarige richtete ihren blau lackierten Zeigefinger auf mich. «Doch! Das ist die Freundin vom Tiger! Garantiert! Ich schwör's euch! Ich hab sie mit ihm gesehen! Und es geht ja schon länger das Gerücht um, dass er nun seit über 'nem Jahr 'ne feste Freundin haben soll. Außerdem kutschiert die Skeletons Baby doch nicht nur so zum Spaß rum!»

«Pffff!» Die Mädchen hielten sich die Hände vor den Mund und prusteten los.

«Kann ich mir gar nicht vorstellen», japste die im knallengen T-Shirt. «Die bringt's doch gar nicht im Bett. Und schon gar nicht mit Tiger. Ich mein, das ist der heißeste Typ der Stadt. Der hatte schon alles, was nicht bei drei auf den Bäumen war! Weiß ich nämlich. Ich war dreimal mit ihm im Bett. Ich weiß, wie das läuft.»

«Gib nicht so an, Zülal, Mila war viermal mit ihm», höhnte die Dicke.

«Halt doch die Klappe, Safira», motzte Zülal. «Biste neidisch, oder wie?»

«Neidisch? Ich? Wieso? Mich hatte er doch auch.» Safira, die Dicke, reckte sich siegesbewusst.

«Hört auf. Ist doch jetzt egal. Wir wollen ihn ja sowieso fertigmachen. Kann uns auf alle Fälle nur nützen.» Und ehe ich mich versah, hatte die Schwarzhaarige ihr Handy gezückt und mich zweimal geknipst.

«Sag diesem vollkranken Mädchenaufreißer 'nen Gruß von uns», höhnte sie. «Er soll sich in Acht nehmen. Wir sind jetzt schon über fünfzig, die sich an ihm rächen wollen!»

«Ja, und wir kriegen noch mehr zusammen, ich schwör's!», sagte Safira schmatzend. «Dann werden wir bestimmt über zweihundert sein! Mindestens!» Sie grinste fies.

Zweihundert? Die übertrieb ja wohl, oder?

«Ey, Katy, mach lieber noch 'n paar Bilder mehr. Falls das wirklich dem seine Freundin ist. Dann hätten wir den ja voll in der Hand. Nen Versuch ist es jedenfalls wert!» Safira riss der Schwarzhaarigen die Kamera aus der Hand und richtete den Sucher erneut auf mich.

Katy …? Einen Moment lang starrte ich die Schwarzhaarige unverwandt an. Irgendwie kam sie mir bekannt vor … War sie nicht auch bei denen gewesen, die mich damals vor fast einem Jahr in den Fluss geschmissen hatten?

Als hätte Manuel meine Gedanken lesen können, fing er wie auf Kommando an zu wimmern. Ich schaute Katy, die diese Fotos von mir gemacht hatte, direkt ins Gesicht und fand darin nur ein hinterhältiges Lächeln.

Eins war klar: Diese Mädchen waren zu allem bereit. Sie gehörten definitiv zu einer Gang. Und ich musste zusehen, dass ich schleunigst von ihnen wegkam! Doch wie konnte man mit zittrigen Beinen schnell genug wegrennen?

«Okay», hörte ich mich auf einmal mit cooler Stimme sagen. «Ihr habt nun, was ihr wolltet. Kann ich jetzt gehen?»

Verblüfft über meine eigenen Worte musterte ich die Gesichter der Mädchen. War das eben ich gewesen, die da gesprochen hatte? Die Mienen der Mädchen regten sich nicht, verblassten zu harten, starren Masken, und ein paar Sekunden lang fragte ich mich, was sich hinter diesen geschminkten Fassaden verbarg. Warum waren sie so? Enttäuschungen, Verletzungen? Was hatten sie Schlimmes erlebt, dass sie es sich zur Aufgabe gemacht hatten, sich an Domenico zu rächen? Ich wollte lieber erst gar nicht darüber nachdenken.

Domenicos undurchschaubare Vergangenheit hinsichtlich der Mädchengeschichten machte mir immer noch zu sehr Angst. Es war ein Thema, das ich oft verdrängen musste und über das er auch nie mit mir reden wollte.

Manuels Wimmern verwandelte sich in ein Weinen.

«Lasst ihr mich jetzt bitte durch?», betonte ich mit Nachdruck. «Ich muss dem Kleinen dringend mal die Windeln wechseln!»

Ob das stimmte, wusste ich nicht, aber vielleicht würden sie wenigstens mit einem Kleinkind Mitleid haben.

Tatsächlich nickte Safira den anderen zu, und der Kreis öffnete sich wieder. Warum sie mich nun so ohne weiteres durchließen, verstand ich nicht, und ich stellte auch keine Fragen. Schnell packte ich den Buggy und stob davon, so schnell mich meine wackligen Beine trugen. Manuel heulte nun richtig herzzerreißend. Ich lief einfach drauflos, um erst mal außer Sichtweite der Mädchen zu kommen. Dabei musste ich mit dem Buggy mühselig einen Hang hochkraxeln, um zur Brücke zu kommen.

Oben angelangt, warf mich der heftige Gegenwind fast um, und ich musste mich mit ganzer Kraft dagegenstemmen, um Manuel und mich sicher auf die andere Seite zu bringen. Als ich endlich dort war, ließ ich mich völlig erschöpft auf ein Mäuerchen sinken. Manuel brüllte sich mittlerweile fast die Lunge aus dem Leib. Ich merkte erst jetzt, wie heftig mein Herz pochte. Es hämmerte so sehr, dass mir regelrecht das Blut in den Ohren rauschte. Doch um meinen eigenen Gemütszustand konnte ich mich jetzt nicht kümmern; nun galt es erst mal, ein weinendes Kind zu beruhigen.

Doch das war alles andere als einfach. Ich seufzte. Carrie hatte Recht: So ein Kind erforderte ganz schöne Anstrengungen. Nicht mal der Schnuller half da was.

Schließlich hatte ich genug, setzte Manuel kurz entschlossen wieder in den Buggy und zog das Verdeck hoch, um ihn besser vor dem Wind zu schützen. Es gab nur einen einzigen Menschen auf diesem Planeten, der mir helfen konnte.

Ich schlug den direkten Weg zur Trattoria Siciliana ein. Ich war noch nie dort gewesen, aber ich wusste, dass sie hier in der Nähe war.

Tatsächlich gelang es mir, sie auf Anhieb zu finden. Sie lag direkt an der Hauptstraße. Die Tische in dem kleinen Vorgarten waren bei dem stürmischen Wetter natürlich nicht besetzt. Die gelben Sonnenschirme standen zusammengepfercht und unbenutzt in einer Ecke. Etwas zaghaft trat ich mit dem brüllenden Manuel durch die Tür und schaute mich um. Die paar wenigen Gäste, durch das herzerweichende Geschrei natürlich aufgeschreckt, schauten mich neugierig und mitleidig an.

Ich schob den Buggy durch das mit warmem, goldgelbem Licht beleuchtete Lokal und schaute mich um. Das Innere der Trattoria wirkte schlicht und gemütlich. Die Tischdecken waren in den Farben der italienischen Flagge gehalten: Grün, weiß und rot. Ein paar Bilder von Sizilien zierten die Wände. Ich erkannte den Ätna und Taormina und die Küste von Palermo. Ach ja, Domenicos Heimat …

Ich hatte keine Ahnung, wo ich nach ihm suchen musste, und blieb einfach erst mal stehen. Ein junger Kellner, der mir meine Verzweiflung ansah, kam mit freundlichem Lächeln auf mich zu. Dem Namen auf seinem Brustschild gemäß hieß er Claudio.

«Kann ich helfen?»

«Ich suche Domenico. Domenico di Loreno. Er arbeitet hier. Ich brauche dringend seine Hilfe.» Etwas beschämt deutete ich auf Manuel.

«Sì. Ich hole ihn. Nur einen Moment!» Und schon verschwand er in der Küche. Ich setzte mich an einen der Tische, die durch eine Stellwand vom Rest des Lokals abgetrennt waren. Ich wollte nicht, dass die Leute mich blöd anglotzten. Ich nahm Manuel wieder aus dem Wagen und wog ihn ein bisschen in meinen Armen. Das war mal wieder einer dieser Augenblicke, wo ich es mir echt gründlich überlegte, ob ich eines Tages wirklich Kinder haben wollte …

Ich war zutiefst erleichtert, als Nicki endlich auftauchte. Trotz der angespannten Situation registrierte ich mit einem leisen Stolz, wie gut ihm die dunkelrote Kellnerschürze und die weiße Mütze standen. Wie der Blitz war er bei mir und nahm mir Manuel sofort ab.

«Che succediu?», fragte er bestürzt und drückte ihn fest an seine Brust. Augenblicklich hörte der Kleine auf zu weinen. Es war nicht zu fassen! Die beiden hatten eine unglaubliche Verbundenheit zueinander aufgebaut.

«Der Kleine ist ja ganz kalt!» Domenico sah mich vorwurfsvoll an.

«Ich … ich weiß … es tut mir so leid …»

«Warum hast du ihn nicht wärmer angezogen? Ey, ist dir klar, was passiert, wenn der 'ne Lungenentzündung kriegt?», herrschte er mich mit böser Stimme an. «Du weißt doch, dass er nur einen funktionierenden Lungenflügel hat! Und in die Hose hat er auch gemacht!»

«Ich … es tut mir wirklich leid, Nicki, ich …»

Er schimpfte auf Sizilianisch vor sich hin und riss die Tüte vom Buggy, in die Carrie vorsichtshalber immer eine Garnitur saubere Kleider plus einen Vorrat Windeln einpackte. Immerhin! …

Mit Manuel auf dem Arm und all den Sachen eilte er Richtung Küche und ließ mich allein.

Meine Augen und meine Brust begannen zu brennen. Ich wusste, dass ich einen ganz fürchterlichen Fehler gemacht hatte und dass Domenico nun stinksauer auf mich war. Meine Schultern sackten zusammen, und ich verbarg mein Gesicht in den Händen. Wie hatte ich nur so dumm und einfältig sein können? Manuel hätte nicht so frieren müssen, wenn ich nicht vor diesen Mädchen hätte davonrennen müssen. Und ich hätte wiederum nicht vor den Mädchen fliehen müssen, wenn ich einfach auf Nickis Warnung gehört und mich vom Fluss ferngehalten hätte …

Die Tränen glitten durch meine Finger und benetzten den Tisch. Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging, während ich wütend über mich selber vor mich hin heulte.

«Principessa, was ist mit dir? Du weinst ja!» Nickis Stimme war auf einmal so sanft an meinem Ohr wie eine schnurrende Katze.

«Hey!»

Ich fühlte, wie er seine warme Hand auf meine Schulter legte, als er sich neben mich auf die Bank setzte.

«Komm her», flüsterte er und richtete mich behutsam auf. «Ist ja gut.»

«Tut mir so leid … es war mein Fehler», schluchzte ich.

Domenico drückte mich an seine Brust und streichelte tröstend mein Haar, aber ich wusste genau, dass er erneut ausrasten würde, wenn ich ihm erzählte, was ich wirklich angestellt hatte. Aber ich konnte nicht länger hier an seiner Brust liegen und schweigen, ich musste es loswerden – auf die Gefahr hin, dass er mich anbrüllen und dahin schicken würde, wo der Pfeffer wächst. Ich hob meinen Kopf und sah ihn mit meinen tränennassen Augen an.

«Es ist noch viel schlimmer», bereitete ich ihn auf mein Geständnis vor. «Du … wirst ausrasten.»

Er schaute mich ein wenig unsicher an. «Wieso? Mit Manuel ist doch jetzt alles wieder okay.» Er deutete mit einem Nicken zu dem Kleinen rüber, der nun selig und trocken in seinem Buggy lag und schlief.

Ich schüttelte den Kopf. «Nein … es geht nicht darum … ach, Nicki, ich hab so einen Blödsinn gemacht.»

«Dann … lass es doch endlich mal raus», sagte er leicht ungeduldig. «Ich mein … du hast ja niemanden verprügelt oder umgebracht oder sonst was, oder?»

«Nein …» Ich holte tief Luft und rückte vorsorglich von ihm ab, um mich auf seinen Gefühlsausbruch vorzubereiten.

«Ich war in der Stadt. Beim Dom. Beim Fluss. Und ich hab … ein paar Mädchen getroffen. Von Milas Gang. Sie haben mich fotografiert. Sie wollen sich an dir rächen. Sie … ich weiß nicht. Sie haben nun Fotos von mir …»

Domenico starrte mich an, und ich wusste einen Moment lang nicht, ob er aus meinen abgehackten Sätzen schlau geworden war. Doch seine sich zunehmend zu Schlitzen verengenden Augen waren ein eindeutiges Zeichen, dass er durchaus verstanden hatte.

«Merda! Ma veramente!», zischte er und packte einen Kerzenhalter. «Weißt du eigentlich, was das bedeutet?»

Ich senkte die Augen. Ich hatte es ja verdient.

«Ja …», murmelte ich.

«Nein, weißt du eben nicht. Warum hast du bloß nicht auf mich gehört, ey? Meinst du, ich halt mich nur aus Spaß von der Stadt fern? Jetzt kannst du erst recht nirgends mehr hin, ist dir das klar?»

Ich nickte, obwohl ich das Ausmaß der Folgen wirklich noch nicht erfasst hatte.

«Diese Weiber machen Ernst, da bin ich sicher. Weißt du, was die mit den Fotos anstellen werden? Kann ich dir genau sagen. Sie werden dein Gesicht in der Szene bekannt machen. Und dich verfolgen, um sich an mir zu rächen und mich zu erpressen. Vielleicht werden sie die Bilder sogar einigen Dealern geben. Garantiert sogar. Und die schrecken dann vor gar nix mehr zurück! Was meinst du, warum ich Carrie dauernd vollquatsche, dass sie mit Manuel nicht mehr in der Szene rumflippen soll? Du oder Manuel, einer von euch wird dran glauben müssen. Oder meinst du, ich häng aus Spaß dauernd mit euch im Botanischen Garten rum? Kann mir auch sehr viel Cooleres vorstellen, ey.»

Er hatte sich richtig in Rage geredet. Das Blitzen in seinen Augen folterte mich richtig.

«Ist es wirklich so schlimm mit diesen Gangs?», fragte ich kleinlaut. Ich wollte wirklich nicht weinen, aber ich war mit meinen Nerven total runter.

Er seufzte und starrte nun auf den Tisch. Ich war froh, einen Moment Ruhe vor diesen blitzenden Augen zu haben.

Es dauerte eine Weile, bis er wieder sprach und mich ansah. Er gab sich Mühe, nun einen ruhigeren Tonfall anzuschlagen.

«Sieh mal, wenn es um Kohle geht, dann kennen die eben keinen Spaß. Und leider lohnt es sich, mich zu erpressen.» Finsternis zog in seinen Augen auf. «Außerdem hab ich einige Leute abgelinkt früher», setzte er hinzu. «Ich hab krumme Deals gemacht. Und Mädchen ausgenutzt. Halt nicht sehr schöne Sachen. Weißt du ja. Da sind noch so viele Rechnungen offen.»

Er streckte seine Hand nach mir aus und begann, mit seinem Daumen meine Tränen wegzuwischen. Da aber ein ganzer Sturzbach aus meinen Augen geflossen war, zog er kurzerhand eine Serviette aus einem Halter und tupfte meine Wange damit trocken.

«Aber sie haben dir hoffentlich nicht wehgetan, oder?»

Ich schüttelte den Kopf.

«Da haben sie aber Glück gehabt», knirschte er. Er zog mich auf seinen Schoß und schloss seine Arme fest um mich. «Jetzt muss ich mir echt was einfallen lassen, wie ich dich am besten schütze. Genau genommen … kann ich dich nicht mal mehr allein zur Schule gehen lassen.»

«Vorerst haben wir ein paar Wochen Ruhe», sagte ich leise. «Ab nächste Woche hab ich ja Sonderurlaub. Und danach beginnen die Sommerferien.»

«Okay. Das ist schon mal gut.»

Vorsichtig begann er, meinen Nacken zu küssen. Seine warmen Lippen fühlten sich so unbeschreiblich weich an auf meiner Haut. Wenn er das tat, verwandelte sich einfach alles in mir.

«Ich finde es irgendwie wunderschön, wenn du weinst», flüsterte er. «Weiß auch nicht, warum.»

«Das heißt, du bist mir nicht mehr böse?», fragte ich, immer noch etwas bedrückt.

«Komm, entspann dich einfach. Du brauchst das jetzt. Und hab keine Angst. Ich tu dir nicht weh.»

Ein paar Sekunden lang ließ ich meine Gedanken zu der Szene vorhin zurückschweifen, zu den Mädchen, die scheinbar alles Ex-Freundinnen von Domenico gewesen waren, doch Nickis zärtliche Küsse ließen mir gar keine Zeit, darüber nachzugrübeln. Schon begann das Blut in mir zu rauschen, und meine Gedankengänge zerflossen in ekstatischem Taumel.

Domenico verschob seine Hände etwas, so dass wie aus Versehen mein T-Shirt etwas nach oben rutschte. Ich atmete tief ein, als ich seine Hand auf meinem nackten Bauch spürte. Fast wie von selbst legte sich mein Kopf nach hinten, damit mein Hals frei war. Ich spürte, wie sein Körper einen Schwall Hitze freisetzte, als er meine stumme Aufforderung zur Kenntnis nahm. Seine Küsse wurden heftiger, seine Hand wanderte unter meinem T-Shirt langsam nach oben.

Ich ergab mich dem wilden Tanz meiner Hormone. Ich spürte meine Beine kaum noch; ich wusste nicht, ob ich sie je wieder würde rühren können. Und ich wollte, dass er weitermachte, ich wollte, dass seine Hand die bisher stumm errichtete Grenze überschritt und Stellen meines Körpers erkundete, die sie noch nie zuvor erforscht hatten …

Und er fühlte, dass ich meine Grenzen öffnete. Fühlte, dass das Verlangen in mir immer mehr erwachte. Vorsichtig erreichten seine Finger meinen BH, machten zögernd Halt, suchten nach einer weiteren Bestätigung meinerseits. Ich neigte meinen Kopf zur Seite, um ihm noch mehr Haut freizugeben. Er streichelte sie nun sanft mit seiner Zungenspitze, und ich wäre am liebsten in seinen Armen gestorben.

«Nico!»

Abrupt schreckten wir hoch. Instinktiv zog ich rasch mein T-Shirt wieder runter.

«Nico, wo bleibst du denn? Emilio sucht dich überall!» Claudio stand auf einmal vor uns. «Wir haben vier Pizzabestellungen!»

«Sorry, komme gleich.» Domenicos Gesicht war hochrot. Er schob mich etwas unsanft von seinem Schoß und stand hastig auf.

«Was machst du hier? Rumknutschen?» Claudio grinste von einem Ohr zum anderen.

«Sorry. Hab voll die Zeit vergessen», murmelte Nicki beschämt und hob seine Kochmütze auf, die irgendwie zu Boden gefallen war.

«Keine Angst, ich sag Emilio nichts.» Claudio zwinkerte. «Aber komm jetzt!»

Domenico erklärte ihm etwas auf Italienisch und wandte sich dann an mich.

«Maya, kannst du mit Manuel hierbleiben bis um sechs? Dann bring ich euch nach Hause. Ich kann euch jetzt nicht allein gehen lassen.»

Ich war einverstanden, zumal ich sowieso noch ganz benommen war und meine Beine kaum bewegen konnte. Ich musste erst mal wieder von diesem ekstatischen Hoch runterkommen.

Domenico brachte mir ein Glas Cola und ein paar Zeitschriften zum Lesen, doch Lesen war nun das Letzte, wozu ich imstande war. Ich konnte nichts anderes tun, als einfach mit aufgestütztem Kopf dazusitzen und die ganzen Liebkosungen von vorhin Revue passieren zu lassen. Das Erlebnis mit den Mädchen war auf einmal irgendwo ganz weit weg, als wäre es schon einen Monat oder noch länger her.

Alles, was mich in diesem Augenblick bewegte, war, jeden Kuss und jede Berührung von Nicki nochmals zu fühlen. Es sah ganz danach aus, als würde mein Körper noch stundenlang glühen …

Ich dachte an das Gespräch mit Mama, an ihre Warnung bezüglich Nickis wilder Vergangenheit und an ihre Bitten, was mein erstes Mal betraf.

All das rückte nun immer mehr in greifbare Nähe. Ich wusste nicht, wie lange ich die Grenzen noch aufrechterhalten konnte. Irgendwann würde ich für nichts mehr garantieren können. Also musste dieses Gespräch mit Domenico bald stattfinden. Die Frage war nur, wann und wie. Und ob er überhaupt zu einem Gespräch bereit sein würde. Bis jetzt hatte er seine Vergangenheit in Sachen Mädchengeschichten ja vehement vor mir verborgen.

Die Zeit verging trotz meines Nichtstuns erstaunlich schnell. Manuel war offenbar so erschöpft, dass er die ganze Zeit im Buggy schlief. Auf einmal stand Domenico vor mir, in Lederjacke und seinen Alltagsklamotten.

«Feierabend», lächelte er. «Los, komm.»