Wir machten extra einen Umweg mit dem Bus, um die U-Bahn zu meiden. Im Bus liefen wir laut Domenicos Aussage weniger Gefahr, den Gangs zu begegnen. Er wies mich an, auch in Zukunft nur noch den Bus zu benutzen.
Als wir an Carries Tür klopften, machte niemand auf. Domenico runzelte die Stirn und schnappte sich meinen Arm, um einen Blick auf meine Armbanduhr zu werfen.
«Die sollte doch um die Zeit da sein», murmelte er und klopfte abermals. Schließlich drückte er kurzerhand die Klinke runter, und zu unserem Erstaunen war die Tür offen.
Was wir sahen, versetzte uns allerdings erst mal in einen kurzen Schockzustand.
Zwei ineinander verkeilte, halb nackte Menschen lümmelten sich knutschend auf Carries zerwühltem Bett herum. Ich sah erst nur ein Wirrwarr von Armen und Beinen, bis ich schließlich zuordnen konnte, welches Paar Carrie gehörte und welches der fremden Person, die bei ihr war. Zur gleichen Zeit nahm ich den penetranten Geruch von bittersüßem Tabak wahr. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte ich die Situation erfasst.
Domenico brauchte allerdings nicht mal halb so lange dafür.
Mit einem lauten Knall schlug er die Tür zu. Die Wucht spiegelte seinen ganzen Zorn wieder. Das ganze Zimmer erzitterte. Sofort entwirrte sich das Menschenknäuel, und zwei Paar erschrockene Augen starrten uns an – Carries Mondaugen, die von schwarzem Kajal verschmiert waren, und die stumpfen Augen eines jungen Mannes, dessen langes, an den Seiten abrasiertes Haar ebenso nachtschwarz war wie das von Carrie.
Domenico machte kurzen Prozess. Mit einem Satz war er beim Bett, packte den Typen an seinem langen Haar und riss ihn von Carrie weg.
«Mach, dass du wegkommst! E sùbbitu!»
Seine messerscharfe Stimme hätte einem normalen Menschen keine Widerrede gestattet, doch der Kerl war offenbar zu high, um den Ernst der Situation zu begreifen.
«Mann, biste verrückt, ey?», lallte er schwerfällig. «Zieh Leine, ey.»
Das war ein kapitaler Fehler. Schnell brachte ich mich und Manuel in Sicherheit, um genügend Platz für die bevorstehende Prügelei zu schaffen. Denn darauf würde es ja wohl oder übel hinauslaufen.
Domenico zerrte den Schwarzhaarigen erbarmungslos vom Bett und drückte ihn brutal gegen die Wand.
«Wenn ich dich noch ein Mal sehe hier, bist du Geschichte, capito?»
Carrie riss ihre Mondaugen noch weiter auf. Sie wollte sich aus dem Gewühl von Decken und Kissen befreien, schien jedoch unter ziemlichen Koordinationsschwierigkeiten zu leiden.
«Nic …», stöhnte sie mit schwerer Zunge. «Ey … lass Zodiac los … bitte …»
Zodiac versuchte sich aus Domenicos Griff zu befreien, doch es gelang ihm nicht. Wen der Tiger erst mal festhielt, der kam nicht mehr so schnell los …
Manuel fing an zu jammern.
«Mann, Tiger, mach mal langsam», stöhnte Zodiac.
«Nic … was soll'n das, ey … ham doch nix Schlimmes gemacht …», nuschelte Carrie und kletterte mühsam vom Bett. Sie torkelte und plumpste mitten in einen Berg Wäsche.
Domenico schleuderte Zodiac kräftig herum, so dass dieser ebenfalls kopfvoran in der Schmutzwäsche landete. Razor, der seinen Schlafplatz verteidigen wollte, fing an zu bellen und rannte schließlich kläffend im Zimmer umher.
Ich nahm den heulenden Manuel aus dem Wagen und drückte ihn an mich. Einen Augenblick überlegte ich, mit ihm wegzulaufen, bis Nicki hier fertig war, doch Zodiac lag mitten im Weg.
Domenico stapfte durch das Durcheinander zu Carrie und zerrte sie am Arm hoch.
«Was hast du genommen?», schrie er sie an.
«Nix … nix …» Sie rieb sich träge mit der freien Hand über die Augen.
«Klar hast du! Bist doch voll dicht!»
«Ich hab nix …»
Domenico zerrte sie mit sich zum Couchtisch. Wütend schleuderte er mit der Hand die vielen leeren Bierdosen beiseite.
«Und was ist das?», grollte er und hielt eine Spritze hoch.
«Mann, ich hab nix …»
«Mach doch mal keinen Aufstand, Tiger!», stöhnte Zodiac, der sich halbwegs wieder aufgerappelt hatte. «Sie hat nich gespritzt, eh!»
«Zeig deine Arme her!», kommandierte Domenico und bog Carries Arme gleich selber auseinander.
«Ich hab echt nix gespritzt, ey …»
Domenico untersuchte die Armbeugen, doch er fand offenbar nichts. Er sah ihr in die Augen.
«Aber du hast dir was reingezogen. Gib's zu!»
«Ey, hör mal auf», lallte Zodiac im Hintergrund. «Is nix, Mann.»
«Du hältst die Schnauze!» Domenico schubste Carrie derb zur Seite, sprang Zodiac mit einem Satz an und ballerte ihm einfach seine Faust auf die Nase. Knochen krachten, und ich sah Blut spritzen. Entsetzt wandte ich mein Gesicht ab und drückte mich mit Manuel in die allerhinterste Ecke, die es in diesem Zimmer gab. Mir war richtig schlecht.
«Wenn meinem Kleinen jemals irgendwas passiert, mach ich dich für immer fertig, das schwör ich dir!», brüllte Domenico. «Dann wünschst du dir, du wärst nie geboren!»
Zodiac hielt sich jaulend seine wahrscheinlich gebrochene Nase, schnappte sich seine Hose und torkelte rückwärts Richtung Tür.
«Genau, da geht's raus!» Domenico überholte ihn, riss die Tür auf, packte Zodiac am Arm und stieß ihn ohne Erbarmen auf den Flur.
«Mach, dass du verschwindest! Und ich will dich nie wieder hier sehen, hast du verstanden?»
Mit einem lauten Knall, der das ganze Haus erneut zum Erzittern brachte, schlug er die Tür hinter Zodiac zu. Carrie weinte, Manuel kreischte, und ich stand nur wie gelähmt da, völlig schockiert und unfähig, mich zu rühren.
«Ich fass das einfach nicht!», zischte Nicki und vernichtete Carrie beinahe mit seinen zornsprühenden Augen. «Ich sag das den Betreuern! So geht das nicht weiter!»
Carrie kauerte sich panisch in ihre Ecke und zog den Kopf ein. Sie stöhnte und wimmerte wie ein angeschossenes Tier.
Domenico kam zu mir und nahm mir Manuel wortlos aus den Armen. Er warf Carrie einen weiteren vernichtenden Blick zu.
«Ich nehm ihn mit», sagte er kalt. «Ich kann ihn nicht bei 'ner zugedröhnten Mutter lassen.» Er packte Manuel wieder in den Buggy und suchte in Windeseile seine nötigsten Sachen und ein paar Klamotten zusammen.
«Ich hab doch nix gemacht», beteuerte Carrie weinend. «Hab wirklich nix genommen.»
«Zitta!», befahl Domenico. «Lüg mich einfach nicht an. Komm, Maya. Gehen wir!»
Ich folgte Domenico wortlos, ohne mich nochmals nach Carrie umzudrehen. Trotz allem brach es mir fast das Herz, sie in so einem elenden Zustand zu sehen.
Draußen brauchte Domenico erst ein paar Minuten, um Manuel zu beruhigen und auch, um sich selbst wieder einzukriegen. Von Zodiac war glücklicherweise keine Spur mehr zu sehen. Ich sah Nicki an, dass er fast die Wände hochging, weil ihn so sehr nach einer Zigarette verlangte.
Er fummelte genervt an seiner Hosentasche rum und schimpfte in seiner Muttersprache, als er dort keinen Kaugummi mehr fand. Schließlich packte er kurzerhand meine Hand und legte sie sich auf die Brust. Ich fühlte, wie heftig sein Herz dahinter tobte, und zum ersten Mal hatte ich eine Vorstellung, was für ein unermesslicher Adrenalinstoß sich jedes Mal in seinen Körper ausschüttete, wenn er rasend war vor Zorn. Unmöglich, sich in dem Zustand zu beherrschen …
Ich massierte ihn sanft, und allmählich legte sich der Sturm in seinen Augen, so dass er mich anschauen konnte.
«Maya … ich kann es nicht mit ansehen, dass Manuel so aufwachsen muss, verstehst du? Das macht mich fertig. Ich … ich lass ihn nicht mehr allein …»
«Womit kann ich dir helfen?», fragte ich.
Er schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen. Eine grimmige Entschlossenheit blitzte in seinen Augen auf.
«Vielleicht … sollten wir Pfarrer Siebold anrufen», schlug ich vor. Mama hatte mir ja extra seine Telefonnummer gegeben.
Domenico gab keine Antwort mehr, und ich ließ es sein. Ich fragte ihn auch nichts mehr auf dem Weg zum Bahnhof. Ich kannte die Alarmzeichen, die mir deutlich signalisierten, dass ich in diesen Seelen- und Gedankenregionen keinen Zutritt hatte.
Domenico hatte mit Manuel seine eigene kleine Welt aufgebaut, das war mir klar.
Domenico war das ganze Wochenende wie vom Erdboden verschluckt. Er rief mich weder an, noch meldete er sich auf meine Anrufe. Ich bombardierte ihn mit etlichen SMS, doch auch die ignorierte er. Was immer ich versuchte – ich konnte ihn einfach nicht erreichen. In meiner letzten Not rief ich schlussendlich in der Trattoria an, und dort teilte man mir mit, dass er sich krank gemeldet hatte.
Obwohl ich solche Aktionen schon zu sehr von ihm gewohnt war, um sofort in Panik auszubrechen, war ich doch jedes Mal zutiefst verletzt, dass er mich in solchen Fällen einfach völlig aus seinem Leben ausklammerte. Zuletzt entschied ich mich auch noch für einen Anruf bei Carrie. Ich wollte zumindest wissen, ob Domenico Manuel wieder zu ihr zurückgebracht hatte. Aber auch dort war niemand erreichbar.
Ich saß den ganzen Samstag auf meinem Bett und blies Trübsal. Tante Lena kam ab und zu und erkundigte sich besorgt nach meinem Wohlbefinden. Doch viel mehr helfen konnte sie mir auch nicht, weil ich ihr nichts von Domenicos Aktion erzählen mochte.
Gegen Abend dann stieg mein Paniklevel an. War es Nicki zuzutrauen, dass er mit Manuel irgendwohin abgehauen war? Am Ende sogar nach Sizilien?
Mich schauderte bei dem Gedanken, denn die Antwort lautete: Ja, es war ihm durchaus zuzutrauen. Ja, denn Nicki war noch nicht stabil und gefestigt genug, dass er nicht wieder in einer Kurzschlusshandlung seine ganze Umwelt auf den Kopf stellen konnte. Wenn es um Mingos Sohn ging, würde er sein eigenes Leben opfern. Und wahrscheinlich auch mich …
Nach einer schlaflosen Nacht versuchte ich am Sonntag erneut, via SMS und Telefon zu ihm durchzudringen – vergeblich.
Am Nachmittag rief Paps an und teilte mir mit, dass der Operationstermin nun definitiv war und dass ich am Dienstag anreisen und die nächsten fünf, sechs Wochen bei meinen Eltern in Basel verbringen sollte. Ganz zum Schluss meinte Paps sogar: «Könntest du nicht Nicki fragen, ob er dich für ein paar Tage begleitet? Es wäre sicher … hilfreich. Falls es … irgendwie … schiefgehen sollte.»
Schiefgehen? Was sollte schiefgehen?
Als ich auflegte, war meine Brust mindestens um ein paar Zentimeter enger geworden. Ich wollte mich nicht rühren. Ich wollte am besten überhaupt nichts fühlen, weil es im Moment sowieso nichts Schönes zu fühlen gab. Schiefgehen … und Nicki war verschwunden … Nein, das musste ein Irrtum sein, dieses Elend konnte doch nicht für mich bestimmt sein …
Vielleicht gab es noch ein einziges Mittel, mit dem ich wieder zu meinem Freund durchdringen konnte. Ich nahm das Handy und tippte eine weitere SMS ein – ich wollte nicht wissen, wie viel der Mobilfunk-Anbieter an meinen in den letzten beiden Tagen an Nicki versandten SMS verdient hatte.
Nicki, bitte melde dich. Ich brauch dringend deine Hilfe. Gruß, Maya.
Ohne viel Hoffnung sandte ich die Nachricht ab.
Zwei Minuten später klingelte mein Handy.
«Nicki?»
«Nica mia, che c'è?», fragte er atemlos.
«Mensch, Nicki, wo warst du die ganze Zeit?»
«Sag erst, was los ist!»
«Mama wird am Donnerstag operiert. Ich soll am Dienstag anreisen. Und Paps fragt, ob du mitkommen kannst.» Ich ratterte die Sätze in einem Atemzug runter, als fürchtete ich unbewusst, dass er gleich wieder aus der Leitung verschwinden würde.
«Klar. Ich komm mit», sagte er sofort.
«Nicki …»
«Ich muss los. Ich meld mich wieder. Ciao!»
Auch wenn meine Fragen noch nicht beantwortet waren, war ich doch zumindest froh zu wissen, dass er hier war und nicht nach Sizilien durchgebrannt war. Jetzt blieb mir nur zu hoffen, dass er wirklich Wort hielt. Ach, Nicki … wie oft würde er noch an meinen Nervensträngen zerren?
Am Montag konnte ich mich wenigstens damit ablenken, meine Sachen für die nächsten paar Wochen zu packen und die Bahnfahrkarten zu organisieren. Ich konnte damit gleich einen Teil meiner Schulden bei Mama begleichen, indem ich die Tickets selber finanzierte. Da ich dabei viel überlegen und abwägen musste, artete das in ein Tageswerk aus.
Ich reiste mehrmals zwischen Tante Lena und meinem Zuhause hin und her und kam mir dabei vor wie Hendrik, weil ich dauernd irgendwo etwas vergaß. An Domenicos Ermahnung und an die Gangs dachte ich überhaupt nicht mehr. Mein Kopf war voll mit anderen Dingen. Schließlich musste ich auch noch zusehen, wie ich all meine Sachen in den großen Reisekoffer meiner Eltern stopfen sollte, den sie mir extra dagelassen hatten.
Ich war froh, vorläufig nicht mehr in die Schule gehen zu müssen. Dort verpasste ich bis auf die Rückgabe der letzten Klassenarbeiten und die Zeugnisse nicht mehr viel, doch Paps hatte mit der Schulleitung telefoniert und gebeten, mir diese per Post nach Basel zuzustellen. Und der Ausflug in den Freizeitpark war durch eine Kulturreise nach Augsburg ersetzt worden, nachdem Isabelle wieder einmal rumgemeckert hatte, dass wir aus dem Kindergartenalter raus seien. Da war ich ganz froh, dass ich nicht mitgehen musste.
Erst am Abend meldete sich Domenico wieder bei mir. Er bat mich, so rasch wie möglich zu Mingos Grab zu kommen. In mir klingelte sofort eine Alarmglocke. Wenn Domenico, der es nur ganz selten schaffte, das Grab seines verstorbenen Zwillingsbruders zu besuchen, mich ausgerechnet dort treffen wollte, konnte das nichts Gutes heißen.
Er wartete bei der kleinen Kapelle auf mich, die ganz in der Nähe des Grabs war. Er trug Manuel auf dem Arm und drückte ihn fest an sich. Ich ging vorsichtig näher und hatte absurderweise fast Angst davor, die enge Verbundenheit der beiden zu stören.
Domenico kam auf mich zu, und mir fiel sofort auf, dass seine Augen anders waren. Stumpf und leblos.
«War beim Arzt», erklärte er mit matter Stimme seinen Zustand. «Hab mir wieder Medikamente geholt.»
Ich berührte vorsichtig seine Schulter.
«Ich werd nicht mehr durchdrehen, Maya», sagte er. «Ich bin jetzt ganz ruhig. Versprochen.»
Ich fand im Moment keine Worte, um die Sache angemessen zu kommentieren. Ich schwieg einfach, und er streckte zögernd die Hand nach mir aus.
«Ich kann auf die Art eben doch besser damit umgehen. Mit Mingos Tod. Ich hab so keinen Absturz mehr, verstehst du?»
«Okay», sagte ich vage. Was somit bedeutete, dass er für die nächste Zeit wieder wie in Watte verpackt sein würde.
«Kann ich Manuel mitnehmen?», fragte er. Die Medikamente veränderten sogar seine Stimme. «Hab seinen Pass und alles. Sollte kein Problem sein.»
Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte keine Ahnung, was Paps dazu sagen würde, aber ich hoffte, dass er nichts dagegen hätte.
«Ich denke schon», meinte ich vorsichtig.
Er nickte und bückte sich, um Manuels Fläschchen aus dem Wagen zu kramen.
«Kannst du denn überhaupt ein paar Tage frei nehmen?», wollte ich wissen.
«Geht schon. Bin ja im Stundenlohn.»
Ich blieb bei ihm, bis es dunkel wurde. Ich hatte Tante Lena längst Bescheid gesagt, dass sie bezüglich Abendessen nicht mit mir rechnen musste. Später rafften wir unsere Sachen zusammen, und Nicki begleitete mich zum Bahnhof. Ich fragte lieber nicht, wo er und Manuel schlafen würden und ob er das alles mit Carrie besprochen hatte. Ich wollte mir nicht über solche Dinge auch noch den Kopf zermartern. Hauptsache, er würde am nächsten Tag pünktlich zur verabredeten Zeit am Bahnhof sein.