Am nächsten Morgen stand Nicki tatsächlich pünktlich am verabredeten Treffpunkt, doch ich sah ihm an, dass er die Nacht nicht geschlafen hatte. Und so kam es, dass er die ganze Zugfahrt an meiner Schulter schlief, während er Manuel auf dem Schoß hatte, der sich erstaunlich ruhig verhielt.
Ich schaute aus dem Fenster und hing einmal mehr meinen eigenen Gedanken nach. Immer wieder drehten sich Paps' Worte in meinem Kopf – nämlich dass die Möglichkeit bestand, dass Mamas Operation schiefgehen konnte.
Und doch war das nicht das Einzige, was mir Kopfzerbrechen bereitete.
Fünf, sechs Wochen mit Paps allein in Basel – wie sollte ich das bloß durchhalten? Mama würde wohl nicht so schnell aus dem Krankenhaus entlassen werden. Und würde sie nicht auch furchtbare Schmerzen haben? Ich wusste nicht, ob ich es ertragen würde, sie in diesem Zustand zu sehen.
Aber wenn sie dadurch nur wieder gesund werden würde, dann würde ich all das liebend gern in Kauf nehmen. Und bestimmt würde sie auch froh sein, mich bei sich zu haben. Und Paps bräuchte sich keine Sorgen um mich zu machen.
Paps holte uns am Badischen Bahnhof ab. Es tat richtig gut, ihn zu sehen. Ich merkte jetzt erst, wie sehr ich nicht nur Mama, sondern auch ihn vermisst hatte. Ihm schien es ebenso zu gehen. Nach einer extralangen Umarmung wandte sich Paps Nicki zu und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Ich hatte Paps am Vortag spätabends noch Bescheid gegeben, dass Domenico gern seinen Neffen mitnehmen würde, und Paps hatte erstaunlicherweise nichts dagegen einzuwenden gehabt. Ich war froh, dass mein Vater mir meinen Koffer abnahm und ich nur noch den Rucksack zu tragen hatte.
Wir fuhren auf direktem Weg zu der Wohnung meiner Eltern. Sie lag am Rhein in einer Genossenschaftssiedlung, die einem der großen Chemiekonzerne gehörte. Diese vermietete möblierte Wohnungen an ausländische Chemielaboranten, Informatiker, Forscher und Ärzte, die vorübergehend in die Schweiz versetzt worden waren. Paps hatte die Wohnung durch Beziehungen erhalten. Er kannte ja von den Ärztekongressen her eine Menge internationale Arztkollegen.
Die Wohnung war topmodern, hell und ohne großen Schnickschnack eingerichtet. Fast schon wie eine Hotelsuite. Es gab ein geräumiges Wohnzimmer mit Esstisch und Fernseher, dazu eine Sitzgruppe mit einer langen, eierschalenfarbenen Ledercouch, zwei Sesseln und einem Glastisch. Eine riesige Fensterfront gab den Blick auf den Rhein und das gegenüberliegende Rheinufer von Basel frei. Die Küche, die ein Teil des Wohnraums war, sah so nagelneu aus, als hätte sie noch nie jemand benutzt. Das Schlafzimmer mit Doppelbett, das meine Eltern bereits belegt hatten, sowie das Einbettzimmer ließen auch keine heimeligen Gefühle aufkommen. Dazu war alles viel zu steril.
Hier sollte ich also die nächsten paar Wochen verbringen. Das Einzige, was mir wirklich gefiel, war die riesengroße Terrasse mit dem Ausblick auf den Rhein. Während Paps und Nicki damit beschäftigt waren, meinen Monsterkoffer aus dem Weg zu räumen, stahl ich mich unbemerkt hinaus und warf einen Blick hinunter auf die Straße. Das Rheinufer war gesäumt mit Laternen.
Domenico überließ mir das Einbettzimmer und quartierte sich mit Manuel zusammen auf der Couch ein. Seinen Rucksack hatte er vorwiegend mit Sachen für Manuel gefüllt, für sich selbst hatte er nur wenig mitgenommen.
Paps fragte, ob wir Hunger hätten. Er hatte ofenfertigen Fisch gekauft, und Domenico kochte etwas Reis dazu. Paps war nicht allzu geschickt im Kochen und überließ daher Domenico das Feld.
Nach dem Essen fuhren wir zu Mama. Obwohl sie erst am Donnerstag operiert werden sollte, hatte sie sich schon jetzt einweisen lassen müssen, weil diese heikle Operation sorgfältiger Vorbereitungen bedurfte.
Die ganze Zeit hatte ich Bammel gehabt, ihr zu begegnen, weil ich ihre Angst nicht sehen wollte. Umso überraschter war ich, dass sie trotz allem immer noch gut aussah. Aber ich wusste auch, dass sie sich unter keinen Umständen würde gehenlassen, und wenn sie noch so todkrank sein mochte. Sie war zwar um die Schultern herum noch etwas magerer geworden, aber sie hatte dafür gesorgt, dass ihr Gesicht eine frische Farbe hatte. Es tat mir gut, zu sehen, dass sie ein wunderschönes, exquisites Einzelzimmer für sich hatte, ebenfalls mit einer großen Fensterfront, die eine prachtvolle Aussicht über ganz Basel und noch weiter bot. Natürlich hatte Paps dafür gesorgt, dass sie das beste Zimmer bekam. Und überall standen Blumen. Nichts war wichtiger als das.
Ich brach beinahe in Tränen aus, als ich Mama umarmte.
«Du wirst immer hübscher», meinte sie lächelnd.
Paps knurrte irgendwas von wegen Nicki und verliebt sein.
Mama schmunzelte, dann trat sie auf Nicki zu. Er übergab mir Manuel, um meine Mutter in die Arme zu nehmen.
«Und du bist auch so hübsch», stellte sie fest und streichelte ihm dabei mütterlich über das kupferfarbene Haar. «Und deinen Kleinen hast du auch dabei …»
Domenico drückte sie vorsichtig an sich. «Du bist so dünn …», sagte er besorgt.
«Ja, das liegt an diesem furchtbar gesunden Essen hier», scherzte sie. «Ich vermisse deine Pizza.»
«Ich kann dir schon eine machen», meinte Domenico.
«Ja? Da hätte ich wirklich Lust drauf, aber ich darf leider nur noch diese grässliche Schonkost essen. Und auch nachher werde ich nie mehr auf die gleiche Weise essen können wie bisher.»
«Oh Mann», sagte Nicki leise. «Das ist mindestens genauso übel, wie wenn man den halben Lungenflügel weg hat und nicht mehr richtig Sport machen kann, so wie ich …»
«Ist das Essen hier nicht gut?», fragte ich, als gäbe es nichts Wichtigeres zu besprechen.
«Doch, es ist hervorragend. Gesund und fad ohne Ende.»
Wir lachten, doch mir war zum Heulen. Mama bemühte sich krampfhaft, lustig zu sein, doch ich kaufte ihr das nicht ab. Ich spürte ihre Angst vor der bevorstehenden Operation bis in die hintersten Winkel meiner Seele. Ich wandte mich ab und tat so, als würde ich mich im Zimmer umschauen, um einen Augenblick allein mit meinen Gedanken sein zu können.
Ein Sonnenstrahl fiel von draußen herein, direkt auf ihr Nachtschränkchen. Dort drauf lag ihre aufgeschlagene Bibel.
Während Mama sich mit Paps und Domenico unterhielt, ging ich näher heran und schaute, welche Stelle sie gerade las. Neben der Bibel sah ich das Foto meines Bruders und auch ein paar Bilder von mir.
Ich hätte sie so gern gefragt, wie sie sich fühlte. Ich hätte so gerne ein paar Minuten mit ihr allein gehabt. Aber vielleicht ließ sich das später einrichten.
Nachher gingen wir alle zusammen in die Cafeteria. Mama tat alles, um das Thema Operation zu vermeiden und die Atmosphäre so normal wie möglich zu gestalten. Sie fand eine gute Ablenkung, indem sie Domenico bat, ihr endlich ausgiebig von seinem Vater und seiner neuen Familie in Norwegen zu erzählen. Paps verschwand zwischendurch und hatte sein zigstes Gespräch mit dem zuständigen Arzt.
«Donnerstag Früh um sieben Uhr kommst du also definitiv dran», teilte er Mama mit, als er wieder da war. «Doktor Falke wird die Operation persönlich überwachen.»
«Ja, danke, das weiß ich», sagte sie.
Wir blieben bis zum Abendessen bei Mama, danach kehrten wir nach Hause zurück, damit wir noch genügend Zeit zum Einkaufen hatten. Wir fuhren ins deutsche Grenzgebiet, weil laut Paps' Aussagen das Meiste in der Schweiz teurer war. Hinterher machte Domenico uns auf Paps' Wunsch etwas Richtiges zu essen.
Ich versuchte zu verbergen, dass mir die ganze Zeit zum Heulen war. Ich weinte nicht gern vor Paps, aber ich hoffte, dass ich später, wenn ich mit Domenico allein war, ein paar Tränen würde rauslassen dürfen. Ich hätte alles dafür gegeben, wenn ich etwas dazu hätte beitragen können, dass die Operation gut verlief. Aber mehr als beten konnte ich ja nicht tun, und gebetet hatte ich in den letzten Wochen in den Schulpausen mehr als genug …
Doch auch Paps konnte seine Nervosität nicht verbergen. Er verzog sich nach dem Abendessen umgehend mit dem Laptop in sein Zimmer. Einzig Nicki blieb ziemlich ruhig, aber das lag natürlich daran, dass er seine Emotionen wieder mit diesen Antidepressiva dämpfen musste.
Nachdem er Manuel versorgt und ihm mit der kleinen Isomatte und einer Decke, die er extra mitgenommen hatte, sein Bettchen gemacht hatte, verzogen wir uns zusammen in das kleine Einbettzimmer, wo wir ganz für uns sein konnten. Ich kuschelte mich fest an ihn, in der Hoffnung, er würde ein kleines bisschen mehr mit mir machen, als mich nur ein wenig zu küssen. Meine Hormone zum Durchdrehen zu bringen war das beste Mittel, um mich von meiner Trübsal abzulenken.
Doch irgendwie schien er nicht so recht Lust zu haben. Bis auf ein paar zärtliche Küsschen und ein paar Streicheleinheiten erfasste ihn die Leidenschaft nicht so richtig. Insgeheim fing ich an, die Medikamente zu verwünschen – bestimmt waren die schuld daran!
Wir schauten uns schließlich gemeinsam das Foto von Mama an, worauf sie als siebzehnjähriges Mädchen mit ihrer Jugendliebe Tommy zu sehen war – mit hüftlangen Locken, die sie mit einer roten Blume verziert hatte. Ich musste jedes Mal fast losflennen, wenn ich dieses Bild anschaute. Es war das schönste Foto, das ich von ihr hatte. Sie sah darauf so glücklich aus …
«Sie hat den Typen echt geliebt», stellte Domenico fest.
«Ja, ich glaub schon.»
Nicki lehnte sich zurück und streichelte gedankenverloren mein Haar.
«Manchmal frag ich mich, ob sie mit ihm glücklicher gewesen wäre», sagte ich.
Er schwieg und schaute sich das Foto wieder an.
«Woran ist der Typ eigentlich gestorben?»
«Er wurde Alkoholiker. Er ist an Leberversagen gestorben. Er hatte eine ziemlich schwere Kindheit …»
Ich stockte, als mir auf einmal Domenicos erneutes Lungenversagen in Norwegen in den Sinn kam. Wie ein Blitz war dieser Schockgedanke in mein Herz gedrungen, und Domenico sah es mir sofort an.
Tommy war keine dreißig geworden …
Ich wollte nicht, dass mich eines Tages dasselbe Schicksal ereilte … ich wollte nicht, dass ich eines Tages vor eine ähnliche Wahl gestellt werden würde wie Mama …
«Wie hättest du dich entschieden, wenn du an der Stelle deiner Mutter gewesen wärst?», fragte er sehr leise.
Ich seufzte tief. Warum musste Nicki meine Gedanken immer lesen können?
«Ich … weiß es nicht …»
Ich sah, dass seine Finger zuckten. Seltsamerweise fiel mir erst jetzt auf, dass die Nikotinflecken viel weniger geworden waren … ich hatte mich einfach schon zu sehr daran gewöhnt. Er hatte sich anstelle der grauen Stoff-Fetzen wieder schwarze Pulswärmer über die Handgelenke gestreift, um seine Narben zu verstecken. Ach Nicki … die Spuren seiner Vergangenheit würden für immer an ihm haften.
Seine Augen hatten sich verfinstert. Ohne ein weiteres Wort stand er auf, und ich spürte, dass er allein sein wollte.
Bevor er das Zimmer verließ, warf er mir einen stummen Blick zu, der mir mitten ins Herz stach.
Als ich etwas später nochmals zu ihm ins Wohnzimmer ging, um ihm Gute Nacht zu wünschen, schlief er bereits tief und fest auf der Couch. Die Pillen hatten ihre Wirkung getan.
Ich hingegen wälzte mich im Bett von einer Seite auf die andere. Das, worüber wir vorhin geredet hatten, mahlte in meinem Kopf herum. Ich dachte an Mama und an all die Jahre, in denen sie nicht gesagt hatte, dass ihr etwas fehlte. Das alles warf diesen unheimlichen Schatten über meine gesamte Kindheit. Über meine heile Welt, von der ich früher immer gedacht hatte, dass sie tatsächlich intakt sei.
Ich musste ihr unbedingt all diese Fragen noch vor der Operation stellen. Für den Fall, dass es wirklich schiefgehen würde. Sonst würde ich nie Frieden über meiner Vergangenheit haben.
Eine Weile lang sann ich über Nicki nach und darüber, dass er mit all diesen mysteriösen Schatten und unbeantworteten Fragen schon sein Leben lang fertig werden musste.
Gleich am nächsten Tag bat ich Paps darum, eine Stunde mit Mama allein zu haben. Paps fand das in Ordnung und brachte mich umgehend ins Krankenhaus, während er hinterher mit Domenico und Manuel ins blau-gelbe schwedische Möbelhaus fuhr, um noch ein paar Einrichtungsgegenstände für die Wohnung zu besorgen.
Mama freute sich sehr, mich zu sehen. Sie ließ sofort ein kleines Frühstück für mich aufs Zimmer kommen. Ich war zwar nicht hungrig, doch weil sie in letzter Zeit sowieso immer gefunden hatte, dass ich zu dünn sei, tat ich ihr den Gefallen und aß etwas. Wir plauderten erst eine ganze Weile über belanglose Dinge, bis ich fand, dass es nun höchste Zeit war, ihr meine Fragen zu stellen.
«Hast du eigentlich Angst vor der Operation?», leitete ich die Sache zaghaft ein.
Sie nickte ein wenig zögernd. «Ja, ich habe Angst», gestand sie leise und griff nach ihrer Bibel. «Ganz ehrlich: Auch wenn die Ärzte hier hervorragend sind – das hier ist die wirkliche Hoffnung, an die ich mich klammere. Die Hoffnung, dass Gott mir beisteht und mir noch ein paar Jahre schenkt.»
«Mama, warum sind wir eigentlich so selten zur Kirche gegangen?»
«Ach, Maya. Das ist eine lange Geschichte. Solange Pfarrer Siebold da war, bin ich gern hingegangen. Aber hinterher war alles so ernst. Man wollte mir Vorschriften machen, was ich als guter Christ zu tun und wie ich zu sein hätte. Ich passte irgendwie nicht in die Vorstellung der Leute von einer rechten Christin. Ich würde gerne wieder zur Kirche gehen, sehr gern sogar. Aber sie war für mich nicht mehr der Ort, wo ich das fand, was ich suchte. Also machte ich mich selber auf die Suche nach Gott. Und ich glaube, ich darf sagen, ich habe wirklich eine ganz tiefe, persönliche Beziehung zu ihm aufgebaut. Und trotzdem. Es fehlt mir, niemanden zu haben, mit dem ich das teilen kann. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir zusammenhalten und einander unterstützen. Ich bin der Meinung, das wäre auch der Sinn der Kirche.»
Es war schwierig, die nächste Frage auszusprechen. Ich wagte es fast nicht und überwand mich dann doch.
«Wenn du jetzt sterben würdest, wärst du mit deinem Leben glücklich gewesen? Mit Paps war es ja nicht immer leicht …»
Sie nahm sich die Zeit, etwas länger nachzudenken. «Weißt du, rückwirkend beurteilt man die Dinge oft anders», sagte sie nach einer Weile. «Es stimmt, ich war nicht immer glücklich mit meinem Leben. Ich habe oft gedacht, dass ich vieles hätte anders erleben wollen, das gebe ich zu.»
«Was war für dich am schlimmsten?»
Sie seufzte. «Das sind Dinge, die ich dir eigentlich nie sagen wollte. Aber nun bist du ja auch bald erwachsen. Ja, ich hätte mir oft gewünscht, dein Vater wäre weniger bestimmend gewesen. Ich habe vieles eingesteckt, weil ich dir eine gute Kindheit bieten wollte und weil du die Erfüllung meines Herzenswunsches warst. Ich wollte, dass du in Geborgenheit und Frieden aufwachsen darfst, darum hab ich mich auch nie mit deinem Vater gestritten. Deswegen habe ich meine eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund gestellt und versucht, deinem Vater eine brauchbare Gehilfin in der Praxis und dazu eine gute Mutter und Hausfrau zu sein.»
«Aber hast du Paps denn gern?»
«Ja, natürlich. Ich wollte ja immer, dass es euch beiden gut geht. Hätte ich das alles getan, wenn ich ihn nicht gern gehabt hätte? Und er hat ja auch wirklich sehr viel für uns geleistet, das muss man schon sagen.»
«Und … Mama … wenn du tatsächlich gesund wirst und wenn ich eines Tages von zu Hause weggehen werde – wirst du dann trotzdem mit Paps zusammenbleiben?»
«Du stellst Fragen, Kind. Ganz ehrlich, im Moment konzentriere ich mich nur darauf, gesund zu werden. Weiter kann ich gar nicht denken. Und ich bin sehr froh, dass Martin bei mir bleibt. Mehr kann ich mir im Augenblick nicht wünschen.»
«Was hättest du denn am liebsten gemacht in deinem Leben? Wenn du es dir hättest aussuchen können?»
Wieder dachte sie nach. «Ich wäre gern um die ganze Welt gereist. Asien, China, Südamerika, Israel … Ja, ich wäre wahrscheinlich eine richtige Weltenbummlerin geworden. Aber dein Vater wollte immer nur an sichere Orte reisen. Kanarische Inseln, Nordsee, Südfrankreich. Er wollte auch das Geld lieber ins Haus stecken als in Reisen. Sicherheit ging ihm über alles. Ich glaube, Sizilien war das erste Mal, dass er aus seinem Rahmen gesprungen ist. Tja, und natürlich hätte ich auch gerne noch mehr Kinder gehabt. Ich hätte mir ja sehr gewünscht, dass du mit einem Geschwisterchen hättest aufwachsen dürfen und mit ihm die ganze Jugendzeit hättest durchleben können. Und eigentlich wäre ich auch lieber nicht Ärztin geworden, sondern … Musikerin in einer Band zum Beispiel. Aber ich wollte ja die Kluft zu meinen Eltern wieder kitten, deswegen hatte ich mich entschlossen, Medizin zu studieren. Alles, was mir blieb, war das Klavierspielen … Aber nachdem dein Bruder starb, konnte ich das Instrument jahrelang nicht mehr anrühren.»
Sofort versuchte ich, mir Mama als Musikerin in einer Band vorzustellen. Das war ein Traum, den sie ganz tief in sich verborgen hatte. Ich selbst hatte nicht das Gefühl, allzu viel von ihren musikalischen Genen geerbt zu haben.
«Aber wenn du gesund wirst, kannst du das doch machen? Du könntest ein zweites Instrument lernen, und …»
«Ach, Maya, für einiges ist es nun zu spät. Das waren Jugendträume. Aber es gibt noch andere schöne Dinge, die ich tun kann. Doch … weißt du, Maya – so schön das Leben hier auf Erden ist, so vergänglich ist es auch. Wir werden alle einmal sterben. Und da gibt es noch etwas mehr als das Leben auf dieser Erde. Etwas, das man Ewigkeit nennt … Und ich glaube, das ist es, was zählt. Was wirklich zählt. Das, was nach diesem Leben kommt. Und ich habe meinen Frieden mit Gott geschlossen. Ich hatte nicht alles auf dieser Erde, was ich mir gewünscht habe, aber ich … ich wusste trotz allem immer, wohin ich ging und wer meine Hand hielt. Und wer mich eines Tages bei sich haben möchte. Das ist es, worauf es ankommt. Wir mögen eine Menge Entscheidungen treffen in unserem Leben, aber diese ist die wichtigste. Sie ist es, die in alle Ewigkeit von Bedeutung sein wird. Vergiss das nie, Maya.»
Sie machte eine kurze Pause, und es fiel ihr nicht ganz leicht, weiterzusprechen.
«Sollte ich wirklich nicht mehr da sein in der näheren Zukunft, dann kennst du den Weg. Behalte ihn fest in deinem Herzen. Was immer du erreichen wirst im Leben – und ich wünsche mir, dass du mehr erreichst, als du dir je träumen kannst –, vergiss eines nicht: Halte den fest, der dir das Leben geschenkt hat. Alles kann dir genommen werden, aber das kann dir niemals jemand nehmen. Denn wenn du eines Tages im Angesicht des Todes stehen wirst, ist es das Einzige, was du noch hast. Wenn dein Leben zu Ende sein wird und du an dieser Schwelle stehst – wo jeder Mensch eines Tages stehen wird –, dann wird die einzige Frage nur noch die sein: Wer wird dich auf seinen Armen hinübertragen? Es wird nichts geben, was du sonst mitnehmen kannst.»
Mama hatte Tränen in den Augen. «Und das, mein Kind, halte fest! Denn falls ich schneller als erwartet in die Ewigkeit wandere … dann möchte ich, dass auch du eines Tages dort bist, wo ich sein werde. Du und dein Vater und Nicki … und alle, die ich liebe!»
Just in dem Augenblick klopfte es an die Tür, und Domenico und Paps streckten ihre Köpfe herein. Sie schauten uns bestürzt an, als sie unsere Tränen sahen.
«Dürfen wir … reinkommen?», fragte Nicki zaghaft.
Ich nickte. Ja, meine Fragen waren nun beantwortet. Mehr als das.
Domenico stellte den Buggy mit Manuel in eine Ecke, kam sofort zu mir und legte seine Arme um mich. Er murmelte ein paar tröstende sizilianische Worte in mein Ohr.
«Ist alles klar?», fragte Paps nervös. «Was ist denn los? Warum weint ihr alle beide? Ist etwas passiert?»
«Mensch, frag doch nicht so viel. Halt doch einfach nur ihre Hand», flüsterte Domenico.
Paps zierte sich erst ein wenig und betrachtete uns. Erst dann ging er zu Mama und nahm etwas unbeholfen ihre Hand in die seine.
Ich staunte. Das war so fremd für mich. Und in dem Moment wurde mir klar, dass ich nie wirklich gesehen hatte, wie meine Eltern irgendwelche Zärtlichkeiten austauschten. Nie hatte Paps meine Mutter geküsst, nie ihre Hand gehalten. Für mich war das so normal gewesen, dass mir erst jetzt auffiel, dass das all die Jahre gefehlt hatte.
Etwas später betrat Doktor Falke, ein weißhaariger Arzt mit einer lustigen runden Hornbrille, das Zimmer, um Mama ein paar Instruktionen für den nächsten Morgen zu geben. Es war an der Zeit, sich zu verabschieden. Ich war so froh, dass ich noch diese paar wertvollen Minuten mit ihr gehabt hatte.
«Ich hoffe zwar nicht, dass es ein Abschied für immer sein wird, aber auf jeden Fall wird es ein Abschied für mehrere Tage sein, vielleicht sogar Wochen», sagte Mama. «Die Ärzte haben ja gesagt, dass ich ziemliche Schmerzen haben und ganz viel Morphium kriegen werde. Und dass ich dann wahrscheinlich irgendwelchen Mist zusammenfantasieren werde. Also lacht mich dann bitte nicht aus.»
«Das macht nix», meinte Domenico. «Mingo hat auch mal Morphium gekriegt. Im Knast, als er auf Entzug war. Da haben sie ihm Morphium gebracht, damit er nix Dummes anstellt. Der hat dann irgendwie Giraffen und Krokodile und lauter beknacktes Zeug gesehen.»
Mama musste lächeln.
«Hört sich ja wirklich schräg an», brummte Paps.
«Wenn ich dann ein paar Wochen lang außer Gefecht bin, versprichst du mir, Nicki, dass du auf meine Tochter achtgibst?», fragte Mama.
«Ich würde ja gern», murmelte er. «Bloß kann ich leider wegen des Jobs nicht hierbleiben. Aber ich tue, was ich kann.»
Das reichte. Ich bekam schon wieder das große Heulen. Ich legte den Kopf auf Domenicos Schulter und schluchzte in sein T-Shirt, während er mich an seinen warmen Körper presste.
Auch in dieser Nacht fand ich nicht viel Schlaf. Erst in den frühen Morgenstunden schlummerte ich endlich ein und träumte, dass Mama als Engel verkleidet bei Mingos Grab stand und Mingo auf einmal wieder lebendig wurde. Dann gingen wir zu dem Grab meines Bruders und weckten auch ihn wieder auf, und er war plötzlich schon ein Teenager und sah irgendwie ein bisschen aus wie Ronny, und Domenico erklärte ihm alles, was er machen musste und wie diese Welt funktionierte …
Ich fand den Traum wohl so abstrus, dass ich mit einem leisen Schrei erwachte.
Auf einmal stand Domenico bei mir im Zimmer.
«Was machst'n, ey …», murmelte er und tappte benommen zu mir ans Bett.
«Nichts», stöhnte ich verwirrt.
Er schlüpfte einfach zu mir unter die Decke und legte seinen Kopf in meinen Arm. Ehe ich mich wieder richtig einnisten konnte, war er bereits wieder weggedämmert.
Als ich erneut erwachte, war es draußen längst helllichter Tag, und Domenico lag nicht mehr in meinem Bett.
Ich wälzte mich aus den Federn und wankte immer noch schläfrig ins Wohnzimmer. Auf dem Esstisch standen der Rest des Frühstücks und ein unbenutztes Geschirrset.
Paps kam gerade mit dem Laptop aus seinem Zimmer.
«Wir haben schon gegessen», entschuldigte er sich. «Wir wollten dich nicht wecken. Nicki ist mit dem Kleinen rasch Windeln einkaufen gegangen.»
Erst jetzt schaute ich auf die Uhr und stellte mit Schrecken fest, dass es bereits zehn war.
«Die Operation hat vor drei Stunden begonnen», sagte Paps tonlos. Er setzte sich auf die Couch und verknotete nervös seine Finger ineinander. Mir war mal wieder überhaupt nicht nach Essen zumute. Ich wartete nur darauf, dass Domenico endlich wieder zu uns stoßen würde.
Als er kam, brachte er nicht nur Windeln mit, sondern auch noch ein paar andere Kleinigkeiten, die wir vergessen hatten.
Gegen Mittag brachen wir ins Krankenhaus auf. Vorher hätte es eh keinen Sinn gehabt, da laut Doktor Falke die Operation mindestens fünf Stunden dauerte. Wir pflanzten uns auf die Wartestühle vor dem Operationstrakt und rührten uns nicht mehr von der Stelle – außer Paps, der alle zehn Minuten aufsprang und irgendwo herumwuselte und Ärzte und Krankenpfleger schier verrückt machte mit seinen Fragen.
Schließlich wurde es Nicki zu bunt. Er stand auf und holte Paps zurück.
«Ey, jetzt mach doch die Leute nicht alle noch nervöser», tadelte er. «Du hast jetzt schon dreimal wegen dem Morphium gefragt. Ey, ich mein, die Ärzte müssen doch wissen, wie viel sie ihr geben müssen.»
Paps fasste sich an die Stirn und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl sinken.
«Du hast Recht», seufzte er. «Ich kann es ja doch nicht ändern.»
Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verging. Meiner Meinung nach mussten es Stunden gewesen sein. Ich verfolgte jeden weißen Kittel und hoffte dabei jedes Mal, dass die Nachricht für uns bestimmt war, aber nie war sie das. Immer war jemand anders der Glückliche oder Unglückliche, der aus seiner Ungewissheit erlöst wurde, während wir warten und warten und warten mussten …
Nicki hatte meine Bibel mitgenommen und las mir zwischendurch meine Lieblingsstellen vor, die ich gelb markiert hatte. Er stockte ab und zu beim Lesen, und dann ergänzte ich die fehlenden Stellen, die ich fast alle auswendig gelernt hatte, in meinem Gedächtnis. Ich hatte meinen Kopf auf seine Brust gelegt und ließ meinen Druck hin und wieder in Form von Tränen in sein T-Shirt ab. Es war mir so peinlich, aber ihn störte es überhaupt nicht.
«Heul du ruhig» sagte er sanft. «Ich würde es auch tun, wenn ich könnte.»
«Wieso kannst du nicht?»
«Wegen den Medis. Sie blocken mir ja solche Gefühle ab.»
Er drückte mein Gesicht an seine Brust und verteilte zarte Küsse auf meiner Wange, die mir aber trotzdem nicht halfen, innerlich ruhiger zu werden.
Ich glaubte schon fast nicht mehr daran, dass wir diesen Warteraum je wieder verlassen würden, als Doktor Falke endlich erschien und Paps heranwinkte.
Ich versuchte einen Blick auf die Miene des Arztes zu erhaschen, doch ich konnte absolut nichts darin lesen, was mir Aufschluss über Mamas Zustand gegeben hätte.
Paps folgte dem Arzt ins Sprechzimmer, und Domenico und ich waren wieder allein. Manuel war soeben aufgewacht und wollte auf Domenicos Schoß, und ich musste mich somit darauf beschränken, Nickis Hand festzuhalten.
Schließlich stand Paps wieder vor uns. Sein Gesicht war leichenblass.
«Sie ist aufgewacht», sagte er ohne Freude in der Stimme.
«Aber?» Mein Inneres drehte sich fast um. Was stimmte nicht?
«Nichts … sie ist …»
«Aber sie … sie lebt doch, oder?», fragte ich ungeduldig.
«Ja.»
«Warum … freust du dich denn nicht?»
«Natürlich freue ich mich … Herrschaft noch mal, ich …» Paps machte wieder auf dem Absatz kehrt und rannte den Flur runter.
«Sciatu mia … ich glaub, dein Vater ist einfach komplett durcheinander», sagte Domenico leise. Er legte vorsichtig seine Hand auf die Stelle, wo mein Herz war. Es hämmerte heftig, und er streichelte meine Brust, als wolle er mein Herz damit beruhigen. Er hatte mich noch nie so intensiv da berührt.
Irgendwann nach einer Unendlichkeit tauchte Paps wieder auf, und ich schoss sofort aus meinem Stuhl hoch und eilte ihm entgegen.
«Und? Jetzt sag doch endlich!», drängelte ich.
«Nun ja …» Sein Gesicht hatte wieder etwas mehr Farbe angenommen. «Sie … bekommt eben sehr starke Schmerzmittel. Morphium.»
«Aber was hast du denn so lange mit dem Arzt geredet?», fragte ich ängstlich.
«Es … geht um den anderen Tumor, der in der Leber. Wir … müssen uns da noch einiges überlegen.» Er wischte sich mit einem Taschentuch ein paar Schweißtropfen von der Stirn. «Es ist noch immer ein Wettlauf mit der Zeit, aber wir haben keine andere Wahl. Sie muss erst eine Erholungskur machen. Alles andere würde sie umbringen.»
In meinem Hals wurde es sehr eng.
«Ich weiß auch immer noch nicht, wie ich das Ganze mit der Praxis regeln soll. Wie lange Doktor Ulrich überhaupt bei mir arbeiten kann. Und Esthers Auto muss ich auch irgendwann noch aus Schleswig zurückholen. Ich muss mir noch sehr, sehr viele Gedanken machen.»
Ich schwieg. Ich wusste, dass große Veränderungen bevorstehen würden.
Und zunehmend wurde mir auch bewusst, dass Domenico und Manuel an diesem Abend abreisen würden.
Nicki kam zu mir, und wir fielen uns wortlos in die Arme. Ich spürte, was er dachte, und ich wusste, dass es ihm umgekehrt ebenso ging. Wir hatten beide Angst vor den sechs Wochen ohne einander.
Zu Hause musste er seine Sachen packen, und dann war es schon an der Zeit, ihn zum Bahnhof zu begleiten.
«Wie soll ich das nur ohne dich durchhalten?», seufzte ich und legte den Kopf auf seine Schulter. Wir hielten uns fast endlos lange fest.
«Amuri mia, wie soll ich es ohne dich aushalten?», flüsterte er.
Ich schloss die Augen. Ich wusste, mir standen keine abwechslungsreichen Ferien bevor. Während andere mit ihren gesunden Eltern sorglos an den Strand fuhren, würde ich hier mit meiner kranken Mutter und meinem nervösen Vater sechs Wochen lang allein sein.
«Devi essere forte, amò. Ti penzo sempre. Ogni jornu. 'Unn te lassu chiù, scia'. Mai chiù.» Domenico küsste mich sanft auf die Stirn und die Wange. «Wir telefonieren jeden Tag, ja? Und wenn du zurück bist, hab ich mein Zimmer eingerichtet.»
Ja, wenigstens etwas … Er würde ja demnächst in seine WG ziehen. Ein Lichtblick. Das würde sicher einiges vereinfachen.
Dann kam der Zug, und wir mussten uns unweigerlich trennen. Domenico stieg mit seinem Gepäck und Manuel ein und suchte sich einen Fensterplatz. Wir hielten die Hände an die Glasscheibe, bis der Zug sich in Bewegung setzte und ihn mir entriss.
Als er weg war, fühlte ich mich leer und weinerlich. Sechs lange Wochen ohne ihn! Das war eine Ewigkeit!