Kapitel 14
Auf der Hut
Am 2. Februar 1992, etwas über einen Monat nach meiner Einlieferung ins Jugendgefängnis, eröffneten sie mir, dass ich das Conchetta Youth Center in Kürze verlassen würde. Allerdings sollte es nicht nach Hause gehen, sondern in ein nahe gelegenes Untersuchungsgefängnis, HOD genannt (»House of Detention«). Dabei handelte es sich um einen zehnstöckigen Block, der mitten in der City lag und für die unter uns, die demnächst ein Alter erreicht haben würden, das eine Verurteilung nach dem Erwachsenenstrafrecht möglich machte, zur neuen Heimat wurde.
Wir waren alle ziemlich nervös. Es war zwar nicht schön, einen ganzen Monat lang einen Schlafsaal mit neunzig Jungs zu teilen, die so alt waren wie ich oder jünger, doch zusammen mit erwachsenen Verbrechern eingesperrt zu sein, war weitaus gefährlicher. Wir, die Jüngeren, gaben für diese Männer ganz einfach perfekte Zielscheiben ab.
Einer von denen, die mit mir überführt wurden, war Chico, ein Junge aus dem 9. Bezirk. Wir waren im Jugendgefängnis Freunde geworden, und als wir herausfanden, dass wir beide auf der Transferliste standen, trafen wir eine Vereinbarung.
Wir schworen uns: »Egal, was uns in diesem Untersuchungsgefängnis erwarten mag – wir gehen da gemeinsam durch!«
* * *
Der achte Stock des HOD bestand aus einem langen Korridor, dessen eine Seite aus einer Reihe von Zweimannzellen bestand, an die sich ein Fernsehraum und der Duschbereich anschlossen. Jede Einheit verfügte über eine Toilette und ein Waschbecken. Kurz vor unserem Eintreffen hatte es eine regelrechte Schlacht zwischen den Angehörigen verschiedener Stadtbezirke gegeben, darum war man dazu übergegangen, die Häftlinge einzuschließen. Immer nur eine Zelle wurde geöffnet, damit die Insassen paarweise zum Duschen oder zum Essen gehen konnten.
Chico und ich bekamen eine Zelle zugeteilt und unser Zusammenleben klappte prima.
Ein anderer Junge, der mit uns aus dem Jugendgefängnis gekommen war, wurde ein paar Zellen weiter zu einem Kerl gesteckt, der schon eine ganze Weile dort verbracht hatte. Er machte Schreckliches durch.
Gleich in der ersten Nacht, bald nachdem man die Lichter gelöscht hatte, hörten wir das Quietschen von Tennisschuhen, deren Sohlen über den Betonboden schlitterten. Zunächst rätselten wir vergebens, wo das Geräusch herkommen mochte, doch dann hörte ich eine Stimme und ich wusste, zu wem sie gehörte.
Er schrie: »Nein, Mann! Lass mich in Ruhe. Hör auf. Nein.« In seiner Stimme lag keine Wut. Kein drohender Unterton. Nur Angst.
Das Quietschen der Schuhe ging eine ganze Weile weiter, doch die Schreie erstarben, so wie die Lichter, die kurz zuvor erloschen waren.
Am nächsten Morgen öffnete man unsere Tür, damit wir das Frühstück holen konnten, und wir gingen an der betreffenden Zelle vorbei. Der Junge aus dem CYC saß auf seinem Bett. Er lehnte an der Wand, die Beine angezogen und fest gegen die Brust gepresst, und starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Leere. Der andere lag auf seinem Bett, die Augen zu, ein Abbild unbekümmerter Sorglosigkeit.
Die Nachricht von den nächtlichen Ereignissen machte schnell die Runde und zur Mittagszeit wussten alle von der Vergewaltigung, die stattgefunden hatte.
Irgendwann im Laufe des Nachmittags meinte dann ein Aufseher, wir wären an der Reihe mit Duschen. Wir gingen also ans andere Ende des Korridors in den Duschraum und zogen uns aus.
Plötzlich fragte Chico: »Hast du das gehört?«
»Was?«
»Na, wie die Kerle uns hinterhergepfiffen haben, als wir den Gang runtergekommen sind.«
»Nein. Aber eins sag ich dir. Wenn wir zurückgehen, werden wir mal ganz genau hinhören …«
Natürlich begann die Pfeiferei von Neuem, als wir den Rückweg antraten.
Chico und ich traten an die Gitterstäbe der Zelle, aus der die Pfiffe kamen, und fingen an, die Insassen auf das Unflätigste zu beschimpfen. Die beiden – ein etwas untersetzter und ein eher schlaksiger Typ – sahen aus, als wüssten sie, wie man eine Schlägerei für sich entscheidet, doch das war uns schnurzegal. Wir waren bereit, um unser Leben zu kämpfen.
»Wenn sich diese Zellentüren irgendwann öffnen, könnt ihr euch auf was gefasst machen. Habt ihr das kapiert?«
»Ach was, wir brechen euch euren hässlichen Kiefer, dann ist Schluss mit dem Gepfeife.«
Wir tobten uns richtig in Rage – brüllten, fluchten und starrten sie derartig hasserfüllt an, dass sie verstummten.
Es dauerte nicht lange, bis ein paar Wärter herbeieilten und uns in unsere Zelle zurückscheuchten. Wir waren aber so voller Adrenalin, dass wir beide nicht still sitzen konnten. Eine ganze Weile noch sprangen wir herum und tigerten auf und ab in unserem drei Quadratmeter kleinen Raum.
Später, als es für unsere beiden Kontrahenten Zeit wurde, ihr Abendessen zu holen, kamen sie zu uns an die Gittertür und entschuldigten sich.
»Es ist mir egal, was du mit deinem Mund so alles anstellst«, erwiderte ich. »Es ist dein Mund. Aber wenn wir den Gang betreten, solltet ihr nie wieder einem von uns beiden hinterherpfeifen. Ist das klar, Mann?«
»Hast schon recht«, antwortete der Größere von beiden. »Das geht auf meine Kappe.«
Es war totenstill im ganzen Zellentrakt und ich wusste, dass sie alle lauschten. Und ich begriff, dass Chico und ich einen wichtigen Sieg errungen hatten. Wir hatten den Test bestanden. Man würde uns nicht länger als leichte Beute betrachten.
* * *
Vom Tag meiner Verhaftung an besuchte mich meine Mutter regelmäßig, genauso wie Dawn. Doch mein Vater? Seit dem Weihnachtsfest hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Zuerst dachte ich, es läge daran, dass er nach Florida zurückgekehrt sei. Eines Tages, als ich mit ihm telefonieren durfte, beschloss ich spontan, ihn zu fragen.
»Kommst du mich mal besuchen?«
Seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Oh nein, mein Herr. Ein Gefängnis werde ich nie betreten.«
Und das war’s. Unser Gespräch war damit zwar nicht beendet, doch er hat mich tatsächlich nicht besucht.
An jenem Abend habe ich mich in den Schlaf geweint.
* * *
Nicht nur die Mithäftlinge stellten im HOD eine potenzielle Bedrohung für uns dar.
Es war ein paar Tage nach unserer Verlegung, da saß ich auf meinem Bett und unterhielt mich mit Chico. Ich erinnere mich nicht mehr, was ich sagte, doch ich redete so, wie ich es gewohnt war. Das bedeutete damals, dass jedes zweite Wort, das ich benutzte, ein Kraftausdruck war.
»Wasch dir mal dein Schlappmaul aus, Olivier«, raunzte mich der Oberaufseher an, der gerade an unserer Zelle vorbeiging.
Ich sagte ihm, was er mit verschiedenen Teilen seines Körpers anstellen könne und wie ich seine Beziehung zu seiner Mutter einschätzte.
Er brauchte keine drei Sekunden, dann hatte er unsere Zellentür aufgerissen, mich gepackt und auf den Gang hinausgezerrt. Ein weiterer Wärter kam ihm zu Hilfe und gemeinsam schleppten sie mich durch den Korridor in die nächste Besenkammer. Ich wurde völlig überrumpelt von dieser Aktion und malte mir schon schreckliche Dinge aus, die mich möglicherweise erwarteten. Doch alles, was den beiden Kerlen einfiel, war, mir einen Schwinger nach dem anderen zu verpassen, wobei sie darauf achteten, mir nur in die Magengrube zu boxen.
Als ich merkte, dass sie sich nicht trauten, einem Jugendlichen wie mir mehr anzutun, drehte ich auf. Ich schlug zurück und zielte mit voller Absicht auf ihre Gesichter. Es gelang mir, ein oder zwei harte Treffer zu landen. Das veranlasste sie, ihre Taktik zu ändern, und sie versuchten nun, mich in meine Zelle zurück zu bugsieren. In der Hitze des Gefechts muss ich gegen die Tür der Besenkammer getreten haben. Sie schwang zurück und schlug dem Oberaufseher so heftig ins Gesicht, dass seine Lippe aufplatzte.
Er taumelte zurück und starrte mich an. Das Blut strömte ihm übers Kinn und er machte Anstalten, erneut auf mich einzuschlagen.
»Schluss jetzt!«, rief nun der andere Beamte und fiel ihm in den Arm. »Das lohnt sich doch nicht.«
Als sie endlich die Tür unserer Zelle hinter mir abschlossen, meinte ich das Adrenalin zu spüren, das durch meine Adern schoss. Und so, wie es bei den beiden Pfeifkünstlern gewesen war, hatte auch diesmal der ganze Zellentrakt mitbekommen, was geschehen war. Falls es bei dem einen oder anderen noch irgendwelche Zweifel gab, wer ich war, dann hatte sich das damit erledigt.
Es war ratsam, sich nicht mit Ronnie Slim anzulegen.