Kapitel 15
»Wende dich an Jesus!«
Volle dreizehn Monate waren ins Land gegangen, als ich endlich meinen Prozess bekam. Dreizehn Monate, die ich wartend hinter Gittern verbracht hatte – erst saß ich im HOD, dann überstellten sie den gesamten achten Stock in das Orleans Parish Prison (OPP), das Stadtgefängnis von New Orleans. Dreizehn Monate, in denen sie mich alle paar Tage ins Gericht brachten, wo ich unzählige Stunden damit zubrachte, an Händen und Füßen gefesselt wartend auf einer Bank neben anderen Jugendlichen zu sitzen, die dem Treiben zusahen und verzweifelt versuchten, etwas von dem zu verstehen, was um sie herum vor sich ging. Dreizehn Monate, in denen ich mich an der Hoffnung festklammerte, das alles möge bald enden, und mit der Frage haderte, warum es das einfach nicht tat.
Während dieser Zeit, als ein Tag dem anderen folgte, entfaltete die Langeweile eine ganz eigene Art von Schwerkraft, die mich herunterzog. Sie wirkte wie ein schwarzes Loch. Nichts konnte ihr widerstehen, nichts sie für längere Zeit vertreiben, nicht einmal die überraschende Einlieferung von Leekie, meinem Kumpel. Auch ihn hatte man im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Canal Street verhaftet, obwohl er ja völlig unschuldig war und mit dem Ganzen nichts zu tun hatte. Natürlich tat es mir gut, ihn wiederzusehen, besonders weil ich mit ihm über meinen Fall diskutieren konnte. Dennoch spürte ich, dass mit jedem Gespräch über den Gang der Dinge meine Frustration stieg. Wie lange würde sich die Warterei noch hinziehen?
* * *
Zu Beginn des Jahres 1993 erfuhr ich, dass mein Prozess kurz bevorstand.
Leekie und ich sollten zur gleichen Zeit vor Gericht erscheinen.
Die Anklage lautete: »Gemeinschaftlich begangener, vorsätzlicher Mord«.
Im Laufe der Vorbereitungen wurde mir klar, dass meine Pflichtverteidigerin nicht annähernd so gut war wie der Strafverteidiger, den Leekies Vater für seinen Sohn besorgt hatte. Während Leekie regelmäßig Besuch von seinem Anwalt bekam, wechselte sie höchstens im Gerichtssaal ein paar Worte mit mir. Doch es sah so aus, als ob das nicht wirklich eine Rolle spielte. Wir waren beide desselben Verbrechens angeklagt und die Beweise, die man dem Richter und den Geschworenen vorlegte, betrafen uns beide. Sie würden zweifelsfrei belegen, dass dem Ganzen ein versuchter Raubüberfall vorangegangen war. Als Resultat würde ich entweder sofort auf freien Fuß gesetzt werden oder spätestens ein paar Tage später nach Hause gehen dürfen.
Doch dann kam der Staatsanwalt und warf alle meine Pläne über den Haufen.
Er stellte den Antrag, meinen Prozess und Leekies Fall getrennt voneinander zu verhandeln und stattdessen zwei Verfahren durchzuführen. Der Richter reagierte genervt, Leekies Anwalt war sauer und ich glaube sogar, dass auch meine Pflichtverteidigerin Einspruch erhob – doch es half alles nichts. Dem Wunsch des Anklägers musste entsprochen werden und Leekie und ich waren nun jeder auf sich allein gestellt.
Das war der Punkt, an dem ich zum ersten Mal nervös wurde.
Zwar machte ich mir keine Sorgen, dass Leekie mich ans Messer liefern würde. Er hätte sich eher ein Bein abgehackt, als dass er mir in den Rücken gefallen wäre. Doch ich begann, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Wie stand es um meine Aussichten ohne das Know-how von Leekies Verteidiger, dessen Argumentation davon ausging, dass wir alle beide unschuldig waren?
Die Antwort auf meine Frage erhielt ich nur wenige Augenblicke nach Beginn meiner Gerichtsverhandlung, die an einem kalten Tag im Februar stattfand.
Ohne Leekies Anwalt war ich leichte Beute für den Ankläger.
Er kündigte an, vier Zeugen aufrufen zu wollen. Meine Anwältin tat nichts dergleichen.
Obwohl die Zeugen der Anklage widersprüchliche Angaben machten bezüglich der Waffe, die ich benutzt hatte – einer behauptete gar, ich hätte eine Maschinenpistole benutzt –, verzichtete sie auf ein Kreuzverhör und bohrte auch nicht weiter nach.
Als ich in den Zeugenstand gerufen wurde, verschlimmerte sich meine Situation endgültig.
Meine Fähigkeit, auch dann kaltblütig zu bleiben, wenn es auf der Straße drunter und drüber ging, hatte ich jahrelang unter Beweis gestellt. Hier aber, in der verhältnismäßig ungefährlichen Umgebung eines Gerichtssaals, wo Worte die einzigen Waffen waren, die zum Einsatz kamen, war ich aufgeregter als jemals zuvor in meinem Leben. Mein Mund war staubtrocken und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Der Staatsanwalt zerlegte mich nach allen Regeln der Kunst und mir fiel nichts ein, womit ich ihn hätte stoppen können.
»Bringen Sie ihn mal hierher nach vorne zu mir«, befahl der Richter, als alles vorbei war. Die Schlussplädoyers waren gesprochen worden und die Geschworenen hatten sich zur Beratung zurückgezogen. Ich nahm ganz vorne auf der Geschworenenbank Platz, direkt neben dem Vorsitzenden, und wartete darauf, dass er irgendetwas sagte.
Zunächst aber sah er mich nur an.
Den Redeschwall des Staatsanwaltes hatte ich glücklich überstanden, doch ich war immer noch völlig durcheinander und die Zunge klebte mir am Gaumen. Die Miene des Richters aber hellte sich etwas auf. Wenn es auch kein Lächeln war, das er zeigte, so wurde sein Gesichtsausdruck doch etwas milder.
»Weißt du, was ich denke?«, fragte er.
»Nein, Sir.«
»Alles wird gut.«
Sprach’s, stand auf und zog sich in seine Diensträume zurück. Mich brachte man zurück in die Gerichtszelle.
* * *
In der stickigen Arrestzelle stand die Luft und es herrschte vollkommene Stille. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte ich Ruhe. Doch Frieden stellte sich bei mir nicht ein. Ich spürte, wie meine Nerven nach dem Stress im Zeugenstand noch immer angespannt waren, so als ob mein Unterbewusstsein versuchte, sie in Erwartung weiterer Aufregung auf Betriebstemperatur zu halten.
Und dann traf mich die Erkenntnis mit voller Wucht.
Es. Ist. Ernst.
Es war das erste Mal, dass ich diesen Gedanken überhaupt zuließ. Und nachdem ich ihn gedacht hatte, drängten weitere nach.
Sie beschuldigen mich, vorsätzliche einen Mord begangen zu haben.
Zwölf Menschen, die mich nicht kennen, entscheiden über das, was mit mir als Nächstes passiert.
Wenn sie sich für »schuldig« entscheiden, werde ich zum Tode verurteilt.
So brutal einfach das alles klang, so schrecklich war es für mich. Angst, ja Panik stieg in mir hoch. Ich sprang auf. Ich lief auf und ab. Ich warf mich auf den Boden und rollte mich zusammen zu einem Ball. Nichts von alledem konnte den Horror und das Entsetzen dämpfen, die mich ergriffen hatten.
Doch dann flatterte auf einmal wie aus dem Nichts ein Bild durch meinen Kopf.
Ich sah Mama und mich. Wir hatten gerade Feierabend gemacht. Meine Finger waren taub und mein Rücken schmerzte vom stundenlangen Tellerwaschen. Sie hatte doppelt so lange an riesigen Töpfen gestanden und gekocht, weil sie ja täglich zwei Jobs nachging, und doch jammerte sie nicht herum wie ich.
»Weißt du, mein Schatz«, sagte sie, als wir in die Nacht hinaustraten und erst mal tief Luft holten. »Solltest du eines Tages in echten Schwierigkeiten stecken, Schwierigkeiten, aus denen selbst ich dich nicht mehr herauspauken kann – dann wende dich an Jesus.«
Es war nur ein Erinnerungsfetzen, doch die Worte meiner Mutter gewannen in dieser Situation ein enormes Gewicht.
Ich rollte mich zurück auf meine Knie. Tränen strömten mir übers Gesicht und tropften auf den Betonboden. Es war nicht leicht, ich schluchzte wie ein kleines Kind und schnappte verzweifelt nach Luft – doch ich betete. Und von irgendwoher, tief aus meinem Innersten, drangen die Worte auf meine Zunge:
Herr, wenn du verhinderst, dass sie mich töten, werde ich dir für den Rest meines Lebens dienen.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da auf dem Zellenboden kauerte, doch ich kann mich erinnern, dass zuerst das Schluchzen aufhörte. Langsam beruhigten sich meine Lungen und die Luft in der Zelle kam mir nicht mehr so abgestanden vor.
Ich setzte mich aufrecht hin.
Atmete langsam aus.
Atmete langsam ein.
Zum ersten Mal in meinem Leben merkte ich, dass Jesus mir etwas schenkte. Es war das, was ich am dringendsten brauchte.
Frieden.
Meine Gedanken kreisten nicht mehr um die Frage, ob ich nach Hause gehen dürfte, ich zerbrach mir auch nicht mehr den Kopf über den Staatsanwalt und meine Anwältin und ich grübelte nicht mehr darüber nach, was diese zwölf Fremden wohl beschließen würden. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich vollkommen gelassen.
Ich hatte keine Ahnung, ob man mich nun entlassen oder für unbestimmte Zeit ins Gefängnis stecken würde. Doch ich wusste, dass ich keinen Schaden nehmen würde, egal, wie es ausging. Ich wusste es so wie einer, der ins Meer hinabtaucht und dabei davon ausgeht, dass er nur an die Wasseroberfläche zurückkehren muss, um wieder neuen Atem zu schöpfen.
Ich hätte damals nicht erklären können, warum, aber ich wusste es einfach: Alles würde gut werden. So, wie der Richter es gesagt hatte.
* * *
Etwa eine Stunde später war ich wieder im Gerichtssaal und wartete. Es war schon spät und alle Beteiligten – Mama, meine Schwester Penny, Dawn, die Geschworenen und meine Anwältin – sahen ziemlich müde aus. Auch ich war erschöpft. Ein langer Tag und dreizehn lange Monate lagen hinter mir. Wenigstens sollte das jetzt alles zu einem Abschluss kommen. Und es würde alles gut werden.
In dem Augenblick, als das Urteil verkündet wurde, nahm ich nur eins wahr, und das war meine Mutter, die schrie. Gellend schrie. Es war der nackte Schmerz. Und er stieg herauf aus den tiefsten Tiefen ihrer Seele.
Ich weiß noch, dass ich dastand und den Richter irgendetwas reden hörte über einen späteren Zeitpunkt, zu dem ich zur offiziellen Urteilsverkündung noch einmal vor Gericht zu erscheinen hätte, doch das alles erreichte mich nicht wirklich. Mein Hirn konnte es einfach nicht verarbeiten.
Das Nächste, an das ich mich erinnern kann, ist das Klicken der Handschellen, die man mir anlegte. Als man mich in Richtung Ausgang führte, hörte ich hinter mir meine Mutter, die weinte und meinen Namen rief. Ich drehte mich nicht zu ihr um. Das brachte ich einfach nicht fertig.
Es dauerte eine ganze Weile, bis mir klar wurde, was Sache war.
Zuerst war da die Anstaltskleidung. Während ich in der Arrestzelle wartete, kam ein Justizbeamter, drückte mir meine Gefängnisklamotten in die Hand und forderte mich auf, mich umzuziehen. Und während ich ihm das weiße Hemd, die Hosen und die Schuhe aushändigte, die mir meine Mutter für die Verhandlung mitgebracht hatte, fiel es mir immer schwerer, an dem Glauben festzuhalten, dass wirklich alles gut werden würde.
»Ist dir eigentlich klar, was da gerade passiert ist?«
»Sie haben mich schuldig gesprochen.«
»Das ist richtig. Und weißt du auch, zu was man dich verurteilt hat?«
Mühselig rief ich mir die Worte ins Gedächtnis, die ich im Verhandlungssaal gehört hatte, aber ich konnte sie nicht wiederholen.
»Sie haben auf Totschlag erkannt. Ist dir klar, was das bedeutet?«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Das bedeutet, dass du zurück ins Gefängnis gehst.«
Einen Moment lang dachte ich nach. Langsam formten sich Worte und stiegen in mir hoch, so wie Mamas Schrei wenige Minuten zuvor. Doch als sie mir über die Lippen kamen, war meine Stimme kaum zu hören. Ich flüsterte.
»Wie lange?«
Er zögerte mit der Antwort. »Lebenslang. Eine andere Wahl hatten sie nicht.«
Ich war achtzehn Jahre alt.