Kapitel 18
Das Verlies

Dass ich etwas anstellen würde, was ich irgendwann bereuen würde, war nur eine Frage der Zeit, doch »das später einmal« kam deutlich früher als angenommen.

Nach drei Monaten im CCR schmolz meine Entschlossenheit, Distanz zu meinen Mithäftlingen zu halten, wie Wachs in der Sonne. Ich befreundete mich mit einem Typen namens Tran, der aus Vietnam stammte und etwas älter war als ich. Natürlich wusste ich, dass ich dabei so vorsichtig wie möglich vorgehen musste und die Verhaltensmaßregeln nicht außer Acht lassen durfte, die ich im Hunts bekommen hatte. Doch der verzweifelte Wunsch, ein Mittel gegen das Gefühl völliger Vereinsamung zu finden, das sich wie Blei auf mein Herz legte, wurde mit der Zeit übermächtig.

Tran lebte auf meiner Etage, ein paar Zellen weiter, und er fuhr – so wie ich – total ab auf gute Musik. Ab und zu verbrachte ich einen Teil meiner freien Stunde an seiner Gittertür. Wir verglichen unsere Lieblingsbands und fachsimpelten über alte Songs, die wir liebten.

Nach drei oder vier Wochen erzählte mir Tran, er habe ein leistungsstarkes Radio, mit dem er sogar den einen oder anderen Sender aus New Orleans reinkriegen könne, wenn er die Antenne in eine ganz bestimmte Richtung drehe.

»Wenn du willst, kannst du es dir mal ausleihen«, bot er an.

»Echt jetzt?«

Er nickte. »Echt jetzt!«

Ich hatte den Apparat kaum auf meinen Lieblingssender eingeschaltet, da schwebte ich auch schon auf Wolke sieben. Selig schloss ich meine Augen, schwebte aus der Zelle, über Zäune und Mauern hinweg und den weiten Weg nach Hause, nach New Orleans. Im Geiste durchstreifte ich die angesagten Clubs – Club Discovery und Club Sensations – und genehmigte mir ein Glas Olde English Malt Liquor. Als sie dann auch noch »Do Whatcha Wanna« von der Rebirth Brass Band auflegten, war es endgültig um mich geschehen und ich sank immer tiefer hinab in meine Erinnerungen.

»Olivier!«

Ich riss meine Augen auf und sah einen Aufseher, der vor meiner Tür stand und mich anfunkelte. »Das Hören von Musik ist hier nur über Kopfhörer erlaubt«, rief er und streckte seine Hand aus.

»Gib mir den Apparat!«

»Was? Das hab ich nicht gewusst«, sagte ich ehrlich betroffen. »Ich bin noch nicht lange hier. Bitte Sir, Sie werden keinen Pieps mehr hören, ich verspreche es.«

Der Uniformierte runzelte die Stirn. »Na gut. Wenn das noch einmal passiert, bist du dran.«

Und das war ich dann auch.

Ein paar Monate später ging mein Walkman kaputt, den ich mir in der Kantine gekauft hatte, und ich versuchte, ihn zu reparieren. Um herauszufinden, wo das Problem lag, lieh ich mir von einem anderen Insassen ein kleines Werkzeug aus, mit dem ich die Rückwand des Apparats aufschrauben konnte.

Das hatte ich auch fast schon bewerkstelligt, als wieder der gleiche Aufseher vor meiner Tür aufkreuzte.

»Komm mal hierher, Kleiner«, sagte er. »Streck deine Hände durchs Gitter.«

Ich tat, wie er mir befohlen hatte, und spürte den Biss der Handschellen, die sich um meine Gelenke schlossen. Nachdem er mich so an die Gitterstäbe gefesselt hatte, trat er ein und hob das Metallteil auf, das ich gerade benutzt hatte. Ohne ein Wort zu sagen, ging er wieder hinaus. Seelenruhig schloss er die Tür, nahm mir die Fesseln ab und trat einen Schritt zurück.

Er erinnerte mich an einen Taschenspieler, der auf der Straße seine Zaubertricks vorführt, als er mir eine der beiden Handschellen unter die Nase hielt und mit einer theatralischen Geste zudrückte. »Habe ich nicht gesagt, das nächste Mal wärst du dran?« Dann nahm er meinen vermeintlichen Schraubenzieher, steckte ihn in das Schloss der Handschelle und öffnete sie mit einer schnellen Handbewegung.

Völlig entgeistert glotzte ich ihn an.

»Es ist mir natürlich klar, dass du keinen blassen Schimmer hast, um was es sich bei diesem Stück Blech handelt, deshalb werde ich es dir erklären. Es ist eine Art Schlüssel für Handschellen. Und dieser Stift, mein Kleiner, ist eins von den verbotenen Werkzeugen, das dir einen zehntägigen Urlaub in unserem Verlies beschert. Pack deine Sachen zusammen.«

Eine knappe Stunde später wurde ich dann abgeholt. Die Isolierzelle, das sogenannte Verlies, war deutlich kleiner als meine bisherige »Wohneinheit« und vor das Gitter hatte man eine Metallwand gesetzt. War meine Zelle vergleichbar mit einem Käfig, dann glich die Isolierzelle einem Sarg. Das Bett bestand nicht aus einem Metallgestell, sondern war aus Beton gegossen. Zwischen 7 und 19 Uhr wurden die Matratzen entfernt. Es gab keinen Fernseher, keine Bücher, keine Decken und keine Kissen. Statt der üblichen Stunde Hofgang waren hier nur fünfzehn pro Tag gestattet und das reichte gerade mal für eine Dusche. Mit anderen Insassen zu sprechen, war streng verboten. Die Jeans und die Unterwäsche, die man mir bei meiner Ankunft ausgehändigt hatte, wurden mir wieder weggenommen. Stattdessen musste ich einen orangefarbenen Overall tragen, der ekelhaft kratzte.

Nach den zehn Tagen, die ich dort verbrachte, war ich am Ende.

Die Einsamkeit, die Furcht, die Platzangst – all das belastete mich enorm. Die Zeit schien stillzustehen und ab einem gewissen Zeitpunkt fürchtete ich um meinen Verstand.

Ich versuchte zu beten, wusste aber nicht, wie man es korrekt anstellte. Deshalb zitierte ich die Teile des Vaterunsers, an die ich mich noch erinnern konnte, doch die Worte blieben mir fremd. Nach dem Tag der Urteilsverkündung, an dem ich mich das erste Mal an Jesus gewandt hatte, fand ich keine Gelegenheit, einen gläubigen Menschen zu fragen, was es heißt, Christ zu sein. Ich hatte davon keine Ahnung.

Und so wandte ich mich einem anderen Thema zu und blätterte in meiner Fantasie ein Buch mit meinen schönsten Erinnerungen durch – Erinnerungen an die Ausflüge mit Dad, an die spaßigen Episoden meiner Zeit mit Leekie und J-Dog, an unbeschwerte Tage mit der Familie. Und ich blätterte langsam, versuchte, mir jedes einzelne Detail ins Gedächtnis zu rufen.

Das funktionierte eine Zeit lang, doch die Wirkung verflog relativ rasch. Früher oder später holte mich immer wieder die Dunkelheit ein.