Kapitel 38
Mein Leben liegt nicht
in den Händen von Direktor Cain
Die Augen waren geschlossen. Der Atem ging regelmäßig. Ich saß frühmorgens auf meinem Bett und befand mich irgendwo im Grenzbereich zwischen Gebet und Schlaf. Mein fünfzehnter Monat in Camp J neigte sich seinem Ende zu und mittlerweile genoss ich die Freiheit, mehrere Stunden pro Tag so zu verbringen. Einfach nur vollkommen entspannt. Ohne Gedanken zu wälzen. Dieser Tag aber begann irgendwie anders. Statt auszuruhen, sah ich vor meinem inneren Auge Bilder, die wie eine Vorausschau auf künftige Begebenheiten wirkten. Ich sah mich in New York und allein die Aussicht darauf elektrisierte und begeisterte mich.
Dann nahm ich Schritte auf dem Korridor vor meiner Zelle wahr. Sie kamen immer näher und gleich darauf hörte ich eine Stimme, die mir seltsam vertraut vorkam. »In welcher Zelle liegt er denn nun?« Es lag eine gewisse Anspannung in der Stimme, eine Härte, die sie normalerweise nicht hatte.
Ich öffnete meine Augen und sah einen Mann, der vor meiner Gittertür stand.
»Ronald Olivier? Bist du das?«
Ich lächelte. »Pastor Cymbala.« Jim Cymbala, den Pastor der Brooklyn Tabernacle Church, hatte ich vor vielen Monaten das letzte Mal gesehen, wenige Wochen bevor ich das Hauptgefängnis verlassen musste. Er kam regelmäßig in unser Gefängnis und lud die Männer, die in dem Video »Miracle of Hope« mitgewirkt hatten, zu einem gemeinsamen Mittagessen ein, das Direktor Cain ausrichtete. Wir freuten uns natürlich über die Gelegenheit, uns auszutauschen, nebenher gut zu speisen und das, was übrig blieb, auch noch mitnehmen zu dürfen in unsere Schlafsäle. Es tat so gut, Pastor Cymbala wiederzusehen. Es tat auch gut zu wissen, dass es ihn überhaupt gab. An ihm konnten wir ablesen, wie ein Leben in Freiheit, Ordnung und Nächstenliebe aussah.
»Was machst du hier, Ronnie? Du gehörst hier nicht hin.«
Ich erzählte ihm die komplette Geschichte genau so, wie ich sie schon mehrfach erzählt hatte, zum Beispiel den fassungslosen Aufsehern, die so überrascht waren, mich in Camp J anzutreffen. Er kam aus dem Staunen nicht heraus, während ich redete, und blickte schließlich mehr als nur verärgert drein.
»Ich rede mit Direktor Cain«, versicherte er mir, nachdem ich meinen Bericht beendet hatte. Ich wollte ihm schon davon abraten, weil er meiner Ansicht nach keinen Erfolg damit haben würde, doch ich besann mich eines Besseren.
Er war noch nicht lange weg, da hörte ich schon wieder Schritte auf dem Korridor. Es war tatsächlich Pastor Cymbala, der zurückkehrte. Ich glaubte natürlich zu wissen, was er mir mitteilen würde: Es bestand leider keine Aussicht, dass der Direktor mich in absehbarer Zeit aus der Isolationshaft entlassen würde. Das war der Bescheid, mit dem ich rechnete, und ich war nicht einmal enttäuscht.
Doch Pastor Cymbala hatte eine andere Nachricht für mich. Was er mir ausrichtete, reichte aus, um mich emporschnellen zu lassen von meinem Bett, als führen mir tausend Volt durch die Glieder.
»Direktor Cain lässt dich raus, Ronnie.«
* * *
Vier Monate später lag ich wieder auf meinem Bett – dem gleichen Bett in der gleichen Zelle im gleichen Camp wie achtzehn Wochen zuvor, als Pastor Cymbala mich besucht hatte.
»Ronnie?«
»Pastor Cymbala!«
Diesmal gab es keine lange Unterhaltung. Ich befand mich nach wie vor in Isolationshaft und wartete darauf, dass der Direktor das tat, was er angekündigt hatte, und mich in das Hauptgefängnis verlegte.
Diesmal verhielt sich auch der Pastor anders. Bei unserem ersten Treffen war er irritiert gewesen. Jetzt war er fuchsteufelswild.
»Ich werde dir helfen«, knurrte er. »Ich hole dich hier raus.«
Wenige Stunden später legten sie mir Handschellen und Fußfesseln an, führten mich aus der Zelle und fuhren mich direkt zum Büro des Direktors. Es war das erste Mal, dass ich diesen Raum betrat, und das erste Mal seit achtzehn Monaten, dass ich
Camp J verließ. Ich war etwas eingeschüchtert angesichts der vielen Leute, die sich dort versammelt hatten – von den Jungs der Ermittlungsbehörde über Direktor Cain bis zu mehreren Gefängnisgeistlichen, die ich alle kannte. Unter ihnen war auch Jim Rentz, ein älterer Pastor, der schon im Ruhestand war und den ich besonders schätzte. Ihm schenkte ich ein besonders nettes Lächeln. Er war etwa achtzig Jahre alt und hatte viele Jahre lang wertvolle seelsorgerliche Dienste in unserer Strafanstalt geleistet. In den christlichen Kreisen innerhalb und außerhalb von Angola wurde er sehr geschätzt. Immer wieder war er zu mir ins Camp J gekommen, um mich aufzumuntern, und ich konnte mich darauf verlassen, dass er fest zu mir hielt.
Doch sosehr ich mich auch über seine Anwesenheit und sein strahlendes Lächeln freute, es konnte nicht über die finsteren Blicke der anderen Anwesenden und die feindselige Haltung hinwegtäuschen, die sie mir gegenüber einnahmen. Diese Versammlung wirkte derartig einschüchternd auf mich, dass ich Herzklopfen bekam.
Direktor Cain ergriff das Wort und forderte mich erneut auf, ihm zu berichten, was mir über Pastor Norris und die Mobiltelefone bekannt war. Ich wusste, was er von mir hören wollte. Wie leicht hätte ich ihm jetzt eine Lüge auftischen können, hätte behaupten können, ich hätte Bescheid gewusst über die Handys, wäre aber zu einer entsprechenden Aussage nicht bereit gewesen, weil ich Pastor Norris nicht erneut in Schwierigkeiten bringen wollte. Der hatte Camp J längst verlassen und war jetzt im Hauptgefängnis. Doch ich wollte nicht lügen. Also erzählte ich ihm genau das Gleiche wie anderthalb Jahre zuvor. Und das war die Wahrheit.
Direktor Cain lehnte sich zurück in seinem Stuhl und es wurde mucksmäuschenstill im Raum. Ich blickte in die Runde und erkannte den Mann wieder, der für den internen Ermittlungsdienst arbeitete und den Test mit dem Lügendetektor durchgeführt hatte. Neben ihm stand eine große Kiste. Es fiel mir nicht allzu schwer zu erraten, was sie enthielt.
Die nächste Person, die sprach, war nicht der Direktor, sondern einer der Pastoren. Er wirkte irgendwie verärgert und trat einen Schritt auf mich zu. »Nun komm schon, Olivier. Warum lügst du? Warum machst du nicht endlich reinen Tisch?«
Ich sah ihm fest in die Augen und dachte nicht daran, meinen Blick zu senken. Es kam mir so vor, als sei ich wieder in Camp D oder gar zurück auf der Straße. Er versuchte meinen Widerstand zu brechen und scheiterte an meiner Entschlossenheit, das nicht zuzulassen.
Als Nächstes schaltete sich ein Mitarbeiter des Ermittlungsdienstes ein und warf mir erneut vor, sie alle anzulügen. Kaum war er mit seiner Tirade fertig, attackierte mich der Nächste. Mit jeder Wortmeldung steigerte sich die Lautstärke und der Ton wurde immer schriller. Mein Herz raste und irgendwann hatte ich den Eindruck, dass es hier nicht mehr darum ging, ob ich die Wahrheit sagte oder was für einen Charakter ich hätte. Dieser Angriff nahm eindeutig geistliche Dimensionen an. Und ich saß da, an Händen und Füßen gefesselt, musste das Geschrei dieser Typen über mich ergehen lassen und hatte nur noch einen Wunsch – wegzulaufen.
»Das reicht jetzt!«
Es war eine laute Stimme. Laut genug, um die ganze Truppe augenblicklich zum Schweigen zu bringen. Doch es war nicht Direktor Cain, der da gebrüllt hatte. Es war Pastor Rentz. Er warf jedem einzelnen Anwesenden einen strafenden Blick zu, ganz besonders dem Direktor.
»Dafür sind wir nicht hierhergekommen. Wir sind hier, um seine Unschuld festzustellen. Und nichts anderes. Ich bin felsenfest überzeugt davon, dass er die Wahrheit sagt, und ich lasse nicht zu, dass ihr weiter so mit ihm umspringt.«
Direktor Cain antwortete mit einem Schulterzucken und nickte dem Mann mit der Kiste zu. »Gut. Ich denke, wir schließen ihn noch einmal an den Lügendetektor an.«
Diesmal fühlte ich mich besser als beim ersten Durchgang. Ich atmete ruhig und gleichmäßig und behielt einen kühlen Kopf, als sie mich verdrahteten und die ersten Fragen stellten. Meine Antworten enthielten nichts anderes als die reine Wahrheit.
Als es vorbei war, sah der verantwortliche Beamte hinüber zu Direktor Cain und schüttelte den Kopf.
* * *
Gegen Ende des Tages brachten sie mich zurück ins Camp J. Die gleiche Zelle, das gleiche Bett, die gleichen Wände, die gleiche Decke. Diesmal aber wusste ich, dass mein Aufenthalt dort nur noch von kurzer Dauer sein würde.
Als feststand, dass ich den Test wieder nicht bestanden hatte, rechnete ich damit, dass nun der ganze Raum explodieren würde. Doch nichts dergleichen geschah. Pastor Rentz ergriff das Wort. Er forderte Direktor Cain auf, die Testergebnisse in den Papierkorb zu werfen und mich endlich aus der Isolationshaft zu entlassen. Der Direktor sagte zunächst gar nichts, doch nachdem er eine Zeit lang intensiv nachgedacht hatte, wurde ihm klar, dass es keinen vernünftigen Grund gab, mich dort zu belassen, wo ich herkam. Er erlaubte mir die Rückkehr ins Hauptgefängnis und ordnete meine Unterbringung in einem ganz normalen Schlafsaal an. Sogar meine Tätigkeit als Gemeindemitarbeiter durfte ich wieder aufnehmen, ganz zu schweigen von meinem Status als »Trusty«, den man mir erneut verlieh. Ich war vollkommen rehabilitiert.
Es war mir klar, dass es etwas dauern würde, bis ich wieder in den alten Lebensrhythmus gefunden hätte, doch das machte mir nichts aus. Ich nutzte die Zeit, um nachzudenken.
Anfangs war ich wütend.
Wütend darüber, dass Direktor Cain sich so irren konnte. Dass er so stur war. Dass er sich mir gegenüber so gleichgültig gezeigt hatte. Ich hatte ihn als wiedergeborenen Christen kennengelernt und glaubte, wir wären geistliche Brüder. Umso schwerer fiel es mir zu verstehen, warum es ihm so wichtig war, mich zu zerbrechen. Was hatte ich an mir, das ihn veranlasste, mich so schlecht zu behandeln?
Ein Stück weit empfand ich Respekt vor der Konsequenz, mit der er seiner Überzeugung treu geblieben war und die Sache so lange durchgezogen hatte. Was ich aber überhaupt nicht nachvollziehen konnte, war seine Entscheidung, einer störanfälligen Maschine weitaus mehr zu vertrauen als mir. Was war während dieser achtzehn Monate geschehen? Hatte er mich einfach vergessen oder ging es ihm wirklich nur darum, mich fertigzumachen? Und wie wäre es weitergegangen, wenn sich Pastor Cymbala und Jim Rentz, der Gefängnisgeistliche, nicht so für mich eingesetzt hätten? Wie viele Jahre hätte er mich noch in diesem Loch verrotten lassen?
Doch diese ganze Fragerei führte zu nichts und ich spürte, wie Ärger und Bitterkeit mich langsam, aber sicher vergifteten. Mir wurde bewusst, dass ich ihm vergeben musste. Und das tat ich dann, dort auf meinem Bett, an meinem letzten Tag in Camp J. Ich nahm mir auch vor, Ausschau nach ihm zu halten, wenn ich einmal in den Himmel käme. Denn wenn ich ihn fände, würde ich die Antworten bekommen, die ich suchte.
Ich verabschiedete mich also von all der Wut und den anderen negativen Gefühlen und während ich das tat, begriff ich etwas sehr Wichtiges:
Mein Leben liegt nicht in den Händen des Gefängnisdirektors.
Das war nie der Fall und dieser Umstand würde auch nie eintreten. Selbst wenn ich den Rest meines Lebens in einer Einzelzelle in Camp J verbringen müsste, würde mein Schicksal nicht von Direktor Cain abhängen. Es lag in Gottes Händen.
Mir konnte nichts geschehen, was Gott nicht zugelassen hatte. Er allein verdiente mein ganzes Vertrauen. Auf ihn allein wollte ich künftig meine Augen richten.