Kapitel 46
Gottes wertvollste Schätze
Die Richterin hatte mir zwar noch mitgeteilt, sie hoffe, dass ich nicht zu lange warten müsse, bis ich dem Berufungsausschuss meine Bitte um Freilassung vortragen könne. Dennoch musste ich davon ausgehen, dass es eine ganze Weile dauern würde. Bei dreihundert Häftlingen, die das Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs betraf, hatte dieses Gremium mehr zu tun als je zuvor. Obwohl mein Urteil aufgehoben worden war und ich nun berechtigt war, Berufung einzulegen, musste ich einfach warten, bis ich an der Reihe war.
Nicht jeder, dem es gestattet wurde, seine Sache vor den Berufungsausschuss zu bringen, war mit seiner Berufung auch erfolgreich. Die Strafgefangenen mussten bestimmte Voraussetzungen erfüllen, die klar festgelegt waren. Zum Beispiel musste man eine Mindesthaftstrafe von fünfundzwanzig Jahren abgesessen oder das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg abgelegt haben. Wollte man die weiteren Bedingungen erfüllen, war schon etwas mehr Einsatz nötig, egal, ob es die Teilnahme an diversen Fortbildungsprogrammen war oder der Erwerb weiterer Qualifikationen, die für den Aufbau einer Existenz »draußen« von Vorteil waren. Und so kam es, dass die Männer, die ihre Jahre hinter Gittern mit Nichtstun verbracht hatten, nun fieberhaft versuchten, eine Mappe zusammenzustellen, die genug Nachweise enthielt, dass sie sich erwiesenerweise geändert hatten und reif für ein Leben in Freiheit waren. Die Berufungsausschüsse wussten aber, die Böcke von den Schafen zu trennen, und so war ich D-Man, dem alten Mithäftling aus dem Hunts dankbar, dass er mir ans Herz gelegt hatte, so viele Ausbildungsgänge, Zusatzqualifikationen und Abschlüsse zu machen wie möglich. Meine Mappe mit Zeugnissen und Leistungsnachweisen war gut gefüllt und bewies, dass der Wandel, den ich durchgemacht hatte, echt war. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass die Schlange der Wartenden lang war, in die ich mich einreihen musste. Man teilte mir mit, dass es Monate dauern könne, bis überhaupt ein Termin für meine nächste Anhörung feststand. Ich fürchtete, daraus könnten auch Jahre werden.
Also richtete ich mich wieder in meinem Leben im Angola ein. Tagsüber war ich als Seelsorger tätig und abends bettete ich mein Haupt im Schlafsaal 3 des Zellenblocks »Eberesche« auf Bett
Nr. 22 zur Ruhe. Ich hatte alle Hände voll zu tun bei meiner Arbeit in der Gemeinde. Nicht wenigen meiner Mitbrüder stieß es sauer auf, dass immer mehr Häftlinge das Angola aufgrund der neuen Bestimmungen verlassen durften, während sie noch nicht mal einen Termin für ihre Anhörung vor dem Berufungsausschuss hatten – so wie ich.
»Sind wir nicht wie eine Familie?«, fragte ich sie immer wieder. »Wir sind der Leib Christi. Und wenn der Fuß geht, dann wird ihm wohl bald auch die Hand folgen. Wir sollten es feiern, wenn einem von uns so etwas Gutes widerfährt.«
Stand die Entlassung eines Gemeindeglieds an, dann ließen wir ihn einige Siegesrunden durch den Saal drehen. In der Regel sprangen dann alle auf, um ihn anzufeuern, und einige liefen sogar mit ihm mit.
»Wer ist der Nächste?«, rief ich dann. »Wer ist der Nächste?«
Was mir aber wirklich über diese Zeit hinweghalf, war dieses Blatt Papier von Bill Yount. Ich kannte den Text fast auswendig, der eine Vision beschrieb – das Bild von zahllosen Strafgefangenen, die ihre Gefängnismauern überwanden und hinauszogen ins Land, um Gottes Frohe Botschaft in die Orte und Gemeinden zu tragen, in denen die Kirchen so drastisch an Bedeutung verloren hatten, dass sie ihrem Auftrag nicht mehr nachkamen.
»Wir sehen die Erfüllung mit eigenen Augen, oder etwa nicht?«, fragte ich jedes Mal, wenn wir auf das Bild von Bill Yount zu sprechen kamen. »Das ist der Exodus aus dem Angola. Mir kann keiner erzählen, es gäbe etwas, das Gott nicht schaffen kann.«
Das Rechtssystem der Vereinigten Staaten ist intakt. Es erfüllt genau den Zweck, für den es geschaffen wurde. Es ist darauf ausgelegt, in entscheidenden Punkten zu versagen. Sein Strafvollzug zielt in erster Linie auf schwarze und dunkelhäutige Menschen ab, die deutlich schlechter behandelt werden als weiße. Es sieht vor, Sträflinge jahrzehntelang wegzusperren und menschliches Leben eher abzuwürgen als in gesunde Bahnen zu lenken. Es behandelt Menschen wie Tiere.
Aber ich bin kein Tier.
Ich war nie ein Tier.
Ich war ein törichtes Kind, das fürchterliche Entscheidungen traf, und ich verdiente es, dafür bestraft zu werden. Doch während unser Gesetz vorsah, mich bis zu meinem Tod einzusperren, um damit dem Genüge zu tun, was man gemeinhin »Gerechtigkeit« nennt, hat Gott mich nicht aufgegeben. Er hatte andere Pläne mit mir. So wie er das für jeden Einzelnen von uns hat.
Auch wenn viel zu viel Ungerechtigkeit hineinverwoben ist in unser Rechtssystem – man kann es ändern. Das erfordert sehr viel Arbeit und viele gute Menschen müssen bereit sein, das zu tun, was Gott von ihnen erwartet. Doch es kann wahr werden. Es wird wahr werden. Diese Entwicklung hat bereits angefangen.