Kapitel 3
Florida
Vergleicht man meinen Vater mit dem Mond, der so stark und unwandelbar ist und Geborgenheit vermittelt, dann müsste man für meine Mutter das Bild der Sonne wählen. Auch sie strahlt unglaublich viel Liebe aus und ihre machtvolle Anziehungskraft hält die ganze Familie zusammen. Doch im Gegensatz zu meinem Vater ist sie eine ausgesprochen heißblütige Person. In kürzester Zeit brennt sie lichterloh. Sie hat was von einer chemischen Reaktion, die permanent zu einer Explosion führen könnte. Ihr ganzer Clan tickt so. Ich habe an vielen Familientreffen teilgenommen, die die Gäste mit einer Schlägerei auf der Straße vor dem Haus fortsetzten und in der grünen Minna auf dem Weg zum nächsten Polizeirevier beendeten.
Doch dass meine Mutter mich liebt – daran habe ich nie gezweifelt. Selbst als ich auf die schiefe Bahn geriet und Autos klaute, war ich mir sicher.
Ich merkte es an der Art und Weise, wie sie mich in die Arme nahm und mich knuddelte.
Ich erkannte es an dem Opfer, das sie brachte, als sie zwei Jobs annahm und siebzig Stunden in der Woche arbeitete, um uns durchzubringen.
Ich begriff es, als ich sie des Öfteren zusammen mit Leekies Mutter um 4 oder 5 Uhr morgens auf unserer Straße antraf, wo sie auf mich und die Jungs gewartet hatte. Während wir nach Hause gingen – oder rannten, je nachdem, ob uns irgendwelche Ordnungskräfte im Nacken saßen –, zeterten die beiden aus Leibeskräften, es wurde laut und manchmal auch etwas handgreiflich. Doch ich spürte ihre Liebe. Die reine, unerschütterliche, glühende Liebe, die eine Mama für ihre Kinder empfindet.
Aber so, wie ich an ihrer Liebe zu mir nie gezweifelt habe – und das bis heute –, so sicher wusste ich auch, dass sie mich nicht wirklich im Griff hatte. Ich war ihr Sohn und das bedeutete, dass ich der gleiche Heißsporn war wie sie, genauso leicht entflammbar. Und da ein Vater nicht in erreichbarer Nähe war, der mich an der kurzen Leine gehalten hätte, war ich vollkommen unkontrollierbar.
Nun – nachdem Leekie, J-Dog und ich acht Monate lang unser Unwesen getrieben hatten, Autos gestohlen, Leute überfallen, Trinkgelage abgehalten und Katz und Maus mit der Polizei gespielt hatten, war es Zeit, etwas an dieser Situation zu ändern. Es war Zeit für einen Ortswechsel.
Ich weiß nicht mehr, ob das auf einen Vorschlag meines Vaters zurückging, ob meine Mutter mit mir an ihre Grenzen gekommen war oder ob es mit dem Wunsch zusammenhing, der seit Dads Abschiedsparty in meinem Herzen schwelte. Wahrscheinlich war es von allem etwas. Jedenfalls konnte ich mit der Aussicht, New Orleans zu verlassen, gut leben. Denn sosehr ich den Spaß auch genossen hatte, den mir das Autoknacken und das zügellose Leben bereiteten, so viel konnte ich der Idee abgewinnen, aus meinem Getto rauszukommen und irgendwo anders zu leben. Wo es ruhiger zuging. Wo es sich mehr wie »zu Hause« anfühlte.
Und so kam ich gleich am ersten Tag unserer Sommerferien in Jacksonville/Florida an. Ich war glücklich und ging davon aus, dass ich nun für immer bei meinem Dad bleiben würde. Er hatte sich in einem Haus etwas außerhalb der Stadt niedergelassen. Es war ein ziemlich altes Gebäude, das von einem großen Grundstück umgeben war und in der Nähe eines Friedhofs lag. Falls es überhaupt Nachbarn gab, dann wohnten die so weit weg, dass wir von ihnen nichts mitbekamen.
Eine Sache, die mir gleich zu Beginn auffiel, war der unangenehme Geruch, der das Haus durchzog.
»Der kommt vom Quellwasser«, meinte Dad und zeigte mir die Ursache: zehn offene Flaschen, die er und Mama Lil in der ganzen Küche verteilt hatten. »Da wir nicht an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen sind, holen wir es aus einer Quelle. Wir lassen es offen stehen und nach ein paar Tagen schmeckt es etwas besser. Gegen den Geruch kann man nichts machen, aber mit der Zeit gewöhnst du dich daran.«
Er hatte recht. Nach ein paar Tagen bemerkte ich den Gestank nur noch, wenn ich unter der Dusche stand. An was ich mich aber nicht gewöhnen konnte, war die Stille. Kein Verkehrslärm, keine Sirenen, keine Typen, die draußen herumschrien, keine Schießereien, keine Verfolgungsjagden, keine Junkies, keine Zuhälter, keine Dealer, die in ihren aufgemotzten Schlitten durch die Straßen unseres Viertels rollten und mit ihren Soundsystemen die Wände unseres Häuschens erzittern ließen.
Da war nur Stille.
Heute würde ich es Frieden oder Ruhe nennen, doch damals war es die reine Folter für mich. Es fühlte sich an wie die unheimliche Stille, die man als Kind empfindet, wenn man aus einem Albtraum erwacht ist. Man horcht, ob da nicht irgendwelche vertrauten Geräusche sind, die einen beruhigen und signalisieren, dass alles gut ist. Und wenn man sie nicht wahrnimmt, beschleicht einen die Angst.
In Florida konnte ich mit diesem Frieden nicht umgehen. Er machte mich regelrecht verrückt und ich hatte damals keine Ahnung, warum das so war. Und selbst wenn ich mit der Stille irgendwie zurechtgekommen wäre, so hätte ich doch nie zugegeben, dass mich jene entfesselten acht Monate in New Orleans bereits tief geprägt hatten. Sie hatten mich gelehrt, dass man draußen auf der Straße nie abschalten oder gar entspannen konnte. Überall lauerten Gefahren und man musste jederzeit bereit sein, um sein Leben zu kämpfen.
Und es gab noch ein Problem. Meinen Vater. Genauer gesagt – seine Regeln. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde über mich so etwas wie ein Zapfenstreich verhängt.
»Mitternacht?« Ungläubig starrte ich ihn an, nachdem er mir mitgeteilt hatte, wann ich nach Hause kommen sollte.
»Stimmt.«
»Ey Mann, du machst Witze.«
Ein Schulterzucken war die Antwort. Ich trat ein paar Schritte zurück, pumpte mich auf in meiner coolen »San Francisco 49ers«-Bomberjacke, breitete ungläubig die Arme aus und versuchte, auf diese Weise Eindruck zu schinden. Als sei ich ein Gegenüber, mit dem man mittlerweile rechnen musste. Dabei war ich nur 1,77 m groß und wog kaum fünfzig Kilo.
Dad lächelte nur. »Mitternacht, Ronald.«
* * *
Von New Orleans trennten mich achthundert Kilometer, doch das hielt mich nicht davon ab, Kontakt zu Leekie, J-Dog und anderen Freunden zu halten. So wie es mich auch nicht davon abhielt, mal wieder ein Ding zu drehen. Ich hatte es nur der kriminellen Energie zu verdanken, die mich damals umtrieb, dass ich einen Weg fand, Telefongespräche im Wert von mehreren Tausend Dollar zu führen, ohne dass sie das Konto meines Vaters belasteten. Und so rief ich einfach bei der Vermittlung an und jammerte, ich wäre weit weg von zu Hause und müsste dringend daheim anrufen. Dann gab ich irgendeine x-beliebige Telefonnummer an und alle paar Tage hielt irgendein ahnungsloser Telefonbesitzer die Rechnung über meine stundenlangen Gespräche in den Händen.
Auf diese Weise hielten sie mich auf dem Laufenden über alles, was daheim im 8. Bezirk vor sich ging. Ich hörte von all den Schießereien und Morden, erfuhr, welche Kids im Jugendknast gelandet waren, und ließ mir schildern, wie knapp Leekie und J-Dog diesem Schicksal unlängst wieder entgangen waren. Sie prahlten damit, wie viel Gläser Starkbier oder Pfirsichlikör sie schon vertrugen, bis sie einen Rausch hatten. Sie flunkerten was von einem Wettstreit, der darin bestand, die Bourbon Street entlangzuflanieren und am Ende des Tages zu zählen, wer die meisten Telefonnummern williger Mädels eingesammelt hätte. Und schließlich schwärmten sie von all den köstlichen Fischsuppen, den gekochten Langusten und Krabben, den leckeren Hühnchen bei Popeye, den ellenlangen Fischbaguettes, auf die man in Louisiana noch heiße Würstchen, Salat, Tomaten und Spiegelei packte. Und während wir sprachen, meinte ich, die verschiedenen Geschmacksrichtungen meiner Heimat auf der Zunge zu spüren.
Noch bevor der Sommer zu Ende ging, war ich wieder zurück in New Orleans.